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Gerda Metzger, Türlenstr. 22

Ein Menschenleben später: Wie Berta’s Tochter einen Stolperstein erhielt

Dr. Karl-Horst Marquart vom Arbeitskreis “Euthanasie” der Stuttgarter Stolpersteininitiativen forscht schon lange über das Schicksal behinderter und kranker Kinder, die in sogenannten Kinderfachabteilungen durch ausgesuchte Nazi-Ärzte mithilfe von tödlichen Spritzen gezielt ermordet worden sind. Bei seinen Studien in den Akten des Städtischen Kinderkrankenhauses – der Leiter war übrigens Dr. Karl Lempp, der nach Zahlung einer Strafe von 2000,- Mark auch nach der “Entnazifizierung” weiter praktizierte  – stieß er auch auf das Schicksal eines kleinen Mädchens aus Flacht mit dem Namen Gerda Metzger.

Doch erst im November 2011 brachte die e-mail eines geschichtsbewussten Bürgers den sprichwörtlichen Stein ins Rollen. Im Folgenden wird dieser Text im Original wiedergegeben. Er ergänzte die Aktenlage durch Informationen über die beteiligten Menschen – und ermöglichte so Erinnerung:

 Stolperstein für Gerda Metzger, Türlenstr. 22

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich habe von der Aktion Stolperstein heute im Radio gehört und will Ihnen schreiben:

Kurz vor ihrem Tod hat mir eine Frau (Berta), die ich in meinem Beruf als Masseur behandelt habe, Ihre Lebensgeschichte erzählt, wie sie als junge Frau, in den Jahren des Krieges, in denen sie alleine, mit ihrer kleinen Tochter, weil ihr Mann gleich in den ersten Tagen des Krieges gefallen war, in Flacht (Landkr. Leonberg), lebte.
Ihre kleine Tochter war nach ihrer Aussage leicht geistig und körperlich behindert. Sie war aber doch widerum so gut beieinander, dass sie ihrer Mutter und den nahe bei wohnenden Großeltern, trotz ihres Alters, bei der Haus- und- Feldarbeit mithalf.
Die Leute aus Flacht sagten aber zu ihr:” Dass Du die bei Dir lässt!” Das darf man nicht. Du wirst schon noch sehen.
An einem Tag kam ein Spezialarzt, zu der Familie nach Hause, der sich das Mädchen in ein Zimmer des Hauses alleine, da die Mutter nicht dabei sein durfte, zur Untersuchung vornahm.
Die Mutter hörte das Kind drinnen schreien, durfte aber nicht zu ihr hinein, weil ihr der Fahrer des “Arztes” den Eintritt ins Zimmer mit Gewalt versperrte. Nach der Untersuchung, in der sie das Kind nackt vorfand, fand sie ihre Tochter völlig verstört in einer Ecke des Zimmers sitzend.
Als sie fragte, was der Arzt denn gemacht, bzw. untersucht habe, bekam sie zur Antwort, sie solle “ihr Maul halten” und sich von ihr verabschieden, da er, weil ihre Tochter krank sei, sie mitnehmen müsse, in eine “Spezialklinik”nach Stuttgart.
Als sie sich schnell anschicken wollte, ein paar notwendige Sachen, wie Wäsche, usw. für ihre Tochter zusammen zu packen, zog der “Arzt”, mit dem Fahrer zusammen, das Mädchen die Treppe hinunter und ins Auto und so fuhren sie davon, ohne ihr zu sagen, in welche Klinik sie die Kleine bringen würden.
Sie sagte mir, sie sei total verzweifelt, aber auch geschockt, gewesen und hatte nur noch den einen Gedanken, Ihrer Tochter etwas Wäsche zu bringen und sie vor allem wieder zu sehen.
So machte sie sich noch am Abend zu Fuß auf den Weg in das ca. 35 km entfernte Stuttgart, wo sie am nächsten Morgen, nach strammem Marsch ankam.
Dort fragte sie sich durch und bekam dann von einem Mann in “Uniform” , dem sie in ihrem verzweifelten Fragen, wohl leidtat, die KLINIK gezeigt, wo man “solche” Kinder behandeln würde. Sie wusste aber nicht mehr, wo die Klinik in Stuttgart war.
Als sie dort ankam, wollte man sie, obwohl man ihr bestätigte, dass ihre Tochter da sei, nicht zu ihr lassen.
Da sie aber, da sie sehr resulut war, ein “großes Theater” vor der Tür machte, so dass alle Leute auf der Strasse stehen blieben, nach oben durfte, kam sie zu ihrer Tochter in ein kleines Zimmer.
Sie fand dort ihre Tochter in einem völlig apatischen Zustand vor, so dass sie auf keinerlei Ansprache oder Liebkosung der Mutter reagierte.
Dann kam eine Schwester ins Zimmer, die sie anherrschte, sie solle jetzt endlich gehen, sie sehe doch, dass ihre Tochter sehr krank wäre und jetzt ihre Ruhe bräuchte. Auf ihre Frage, ob sie morgen wieder zu Besuch kommen dürfe, stiess sie die Krankenschwester vor das Krankenzimmer, mit den Worten:” Ja, wenn sie dann noch lebt..!”
Verzweifelt ließ sie sich abwimmeln, blieb aber in Stuttgart, wo sie sich, in der Nacht, auf den Strassen aufhielt, um ihre Tochter am nächsten Tag wieder zu besuchen.
Als sie in der Klinik am nächsten Morgen wieder um die Besuchserlaubnis bat, schickte man sie weg, mit dem Bescheid, ihre Tochter sei heute Nacht an einer ansteckenden Krankheit verstorben und sie könne auch ihre tote Tochter nicht mehr sehen, da man sie schon weggebracht habe, um sie einzuäschern.
So ging sie nach Hause.
Wenn sie dieses Erleben in Stuttgart, den Leuten aus ihrem Heimatort Flacht erzählen wollte, sagten sie ihr, sie solle “nix darüber schwätza”, so sei das halt und sie sei halt ja doch “krank” gewesen.

Ich wollte Ihnen dieses Schicksal einfach so schreiben, mit der Überlegung, ob sie eventuell, in Flacht (bei Weissach) für dieses Mädchen, deren Namen ich allerdings nicht weiß, was aber sicher leicht heraus zu bekommen wäre, einen “STOLPERSTEIN”, in deren Heimatort, anbringen wollten.

Bei weiteren notwendigen Fragen werden sie sich ja sicher melden,
Mit freundlichen Grüßen,