Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Andrea Jenewein 29.05.2024 – 17:14 Uhr
Gerda Metzger wurde mit drei Jahren ermordet. Foto: Heimatmuseum Flacht
Gerda Metzger aus Flacht war leicht geistig und körperlich behindert. Für die Nazis ein unwürdiges Leben. Die Dreijährige wurde im Städtischen Krankenhaus in Stuttgart ermordet.
Der kleine Ort Flacht liegt im Strohgäu, 20 Kilometer nordwestlich von Stuttgart, inmitten fruchtbarer Landschaft. Die Böden sind Parabraunerden, das Klima mild, die Landwirtschaft ertragreich, insbesondere gedeihen hier Getreide- und Zuckerrüben. Man könnte in diesem Dorf eigentlich ein arbeitsames, ruhiges, gutes Leben führen. Aber auch hier keimt in der Nazizeit die Saat des Faschismus – und fordert ihre Opfer.
Besonders trifft es Bertha Metzger. Ihr Mann ist im Krieg gefallen, die dreijährige Tochter Gerda leicht geistig und körperlich behindert – aber doch so munter und fidel, dass sie der Mutter und den in der Nähe wohnenden Großeltern fleißig bei der Haus- und Feldarbeit mithilft. „Dass du die bei dir lässt“, hört Bertha Metzger öfters von den Leuten in Flacht. „Das darf man nicht. Du wirst schon sehen.“
Im Wagen sitzt angeblich ein Arzt
An einem Sommertag im Jahr 1943 kommt Bertha gerade wie immer mit der kleinen Gerda vom Feld heim, als ein Wagen vor ihrem Haus in Flacht hält. Darin sitzt ein Mann, der sagt, er sei Arzt. Er nimmt sich das Mädchen in einem Zimmer zur Untersuchung vor. Bertha hört ihr Kind schreien, darf aber nicht zu Gerda, weil der Fahrer des Arztes ihr den Eintritt versperrt.
Nach der Untersuchung findet sie ihre Tochter nackt und völlig verstört vor. Sie sitzt reglos in einer Ecke. Als Bertha den Arzt fragt, was er denn gemacht oder untersucht habe, bekommt sie zur Antwort, sie solle ihr Maul halten und sich von dem Kind verabschieden. Man müsse es in eine Spezialklinik in Stuttgart mitnehmen. Sie sei krank.
Zu Fuß nach Stuttgart
Als sie schnell ein paar notwendige Sachen für das Kind zusammenpacken will, ziehen die beiden Männer das Mädchen schon die Treppe hinunter und ins Auto. Sie fahren davon, ohne ein weiteres Wort.
Die Mutter ist verzweifelt. Mit frischer Wäsche für Gerda macht sie sich noch am Abend zu Fuß auf den Weg nach Stuttgart, wo sie am nächsten Morgen nach strammem Marsch ankommt. Dort fragt sie sich durch und bekommt schließlich von einem Mann in Uniform, dem sie wohl leidtut, die Klinik gezeigt, wo man „solche“ Kinder behandelt.
Das damalige Städtische Kinderkrankenhaus an der Türlenstraße. Foto: Stadtarchiv/101-FN250-130
Als sie beim Hospital in der Türlenstraße ankommt, bestätigt man ihr zwar, dass Gerda eingeliefert worden sei, sie dürfe ihre Tochter aber nicht sehen. Und dieses Mal bäumt sich Bertha auf. Sie wird dermaßen laut und resolut, dass schon die Passanten auf der Straße stehen bleiben. Schließlich lässt man sie doch zu ihrer Tochter.
„Wenn sie dann noch lebt …“
Sie findet Gerda in einem völlig apathischen Zustand vor, sodass sie auf keinerlei Ansprache oder Liebkosung der Mutter reagiert. Dann kommt eine Schwester ins Zimmer, die sie anherrscht, sie solle jetzt gehen, sie sehe doch, dass ihre Tochter sehr krank wäre und ihre Ruhe bräuchte. Auf ihre Frage, ob sie morgen wieder zu Besuch kommen dürfe, stößt die Krankenschwester sie schließlich harsch vor das Krankenzimmer mit den Worten: „Ja, wenn sie dann noch lebt …“
Fassungslos lässt sich Bertha Metzger zunächst abwimmeln. Sie bleibt aber in Stuttgart, wo sie sich in der Nacht auf den Straßen aufhält. Als sie am nächsten Morgen wieder an der Klinikpforte steht und um die Besuchserlaubnis bittet, schickt man sie weg – mit dem Bescheid, das Mädchen sei in dieser Nacht an einer ansteckenden Krankheit verstorben. Sie könne ihre tote Tochter auch nicht mehr sehen, da man sie schon weggebracht habe, um sie einzuäschern. Drei Jahre und sieben Monate war Gerda Metzger alt, als sie am 12. Juli 1943 im Städtischen Krankenhaus in Stuttgart ermordet wurde.
Bertha Metzger geht nach Hause. Dort will keiner ihre Geschichte hören. Immer, wenn sie anfängt zu erzählen, sagen die Leute aus Flacht nur, sie solle „nix darüber schwätza“, so sei das halt. Und das Kind sei halt doch krank gewesen. Also schweigt Bertha. Zumindest für viele, viele Jahre.
Aufklärung 57 Jahre später
57 Jahre später, im Jahr 2000, stößt Karl-Horst Marquart, ehemaliger Angestellter beim Gesundheitsamt Stuttgart und Mitglied der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Vaihingen, auf einen Artikel im Amtsblatt. Darin ist die Sprache davon, dass „das Dritte Reich auch an den Stuttgarter Ärzten nicht spurlos vorbeigegangen“ sei. Marquart will mehr darüber erfahren. „Damals habe ich angefangen zu recherchieren“, sagt er.
Im Wissen darum, dass es zwischen Januar 1943 und 1945 eine Kinderfachabteilung am Städtischen Kinderkrankenhaus in Stuttgart gab, beschäftigt sich Marquart intensiv mit der im Nationalsozialismus organisierten Tötung von geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen, der sogenannten Kindereuthanasie im Dritten Reich.
Er sichtet im Stadtarchiv Totenscheine und Leichenregister und sucht nach Ungereimtheiten, um Indizien dafür zu finden, dass in der Kinderfachabteilung behinderte Kinder umgebracht wurden – als „lebensunwerte Leben“, die im Sinne der Rassenhygiene „ausgemerzt“ werden mussten.
Welche Ungereimtheiten meint Karl-Horst Marquart? „Die Kinderfachabteilungen und Tötungen waren streng geheim, es wurde alles getan, um es zu vertuschen. Also schaute ich gezielt nach falschen Todesursachen und Krankheitsdiagnosen sowie nach gefälschten ärztlichen Unterschriften.“
Widersprüche in gut 50 Akten
Er wird fündig. „Bei rund 50 Kindern, die zwischen 1943 und Kriegsende in der Kinderfachabteilung starben, stieß ich in den Akten auf Widersprüche“, sagt Marquart. Und er stößt auch auf ein Mädchen namens Gerda Metzger, die wegen spasmischen Lähmungen eingeliefert wurde, aber an Diphtherie gestorben sein soll. „Diphtherie, Lungenentzündung und Masern waren die am häufigsten genannten Todesgründe, da sich diese nur schwer widerlegen ließen“, so Marquart. Zudem führt das Schlafmittel Luminal, das häufig überdosiert verabreicht wurde, zu Lungenentzündung – sodass leicht eine scheinbar natürliche Todesursache attestiert werden konnte. Karl-Horst Marquart verbeißt sich in die Sache, doch es bleibt bei Indizien. Beweise findet er nicht.
Noch einmal elf Jahre später, im Jahr 2011, ist es eine Radiosendung über die Stolperstein-Initiative, die neue Bewegung in den Fall bringt. Denn diese Sendung hört zufällig auch der Physiotherapeut Matthias-Herbert Enneper aus Friolzheim. Enneper betreute Bertha Metzger im Altenheim. Ihm gegenüber brach sie ihr Schweigen: Sie vertraute ihm ihre und Gerdas Geschichte an. Zugleich bat sie ihn, erst nach ihrem Tod über Gerdas Schicksal zu sprechen, falls es denn jemand hören wolle. Nach der Radiosendung setzt sich Enneper hin und schreibt eine Mail an Karl-Horst Marquart. Die Sätze, die in diesem Artikel das Schicksal von Mutter und Tochter beschreiben, stehen teils wortwörtlich so in seiner Mail.
Ein erstes Mal
Als Marquart das Schreiben liest, muss er sofort an Gerda Metzger denken, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen ist. Bald steht fest, dass es sich bei dem Mädchen aus der Mail um genau jene Gerda Metzger handelt. „Der Fall ist außergewöhnlich“, sagt er. „Es war das erste Mal, dass ich davon hörte, dass ein Kind gewaltsam in die Kinderfachabteilung gebracht wurde – nicht nur unter Vortäuschung falscher Tatsachen.“
Dank des neuen Wissens um Gerdas Biografie und mit den Fakten aus den Akten kann Marquart erstmals beweisen, dass in der Stuttgarter Klinik ein Kind ermordet wurde. Denn bei Gerda Metzger war als Todesursache Diphtherie angegeben, als Zeitpunkt 12.20 Uhr. Beides kann nicht stimmen.
Nach und nach kann Karl-Horst Marquart nachweisen, dass auch andere Daten in den Totenscheinen gefälscht worden sind. Gerda war eines von mehr als 50 Kindern, die laut seinen Nachforschungen in diesem Krankenhaus ermordet wurden.
Matthias-Herbert Ennepers Mail endete damals mit dem Satz: „Ich wollte Ihnen dieses Schicksal einfach so schreiben – mit der Überlegung, ob Sie eventuell für dieses Mädchen einen Stolperstein in dessen Heimatort Flacht anbringen wollten.“
Zwei Jahre später, am 13. April 2013, verlegt der Künstler Gunter Demnig für die kleine Gerda Metzger einen Stolperstein. Nicht in Flacht, sondern vor dem damaligen Bürgerhospital an der Türlenstraße, das einst das Städtische Kinderkrankenhaus war. Auch eine Gedenktafel an alle dort ermordeten Kinder wurde auf Initiative von Karl-Horst Marquart am Gebäude angebracht.
Vor fünf Jahren zeigte das Heimatmuseum in Flacht die Ausstellung „Volk Gesundheit Staat“ über die Bedeutung der Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Diese Informationen fielen damals auf fruchtbaren Boden. Endlich sprach man über das, was passiert war. Heute könnte Bertha Metzger den Menschen in Flacht von ihrer Gerda erzählen und darüber, was ihr angetan wurde. Doch für sie ist es zu spät.