Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Jan Sellner – 26.01.2025 – 12:00 Uhr
2024 in Stuttgart verlegt: Stolperstein für den von den Nazis ermordeten jüdischen Tabakhändler Max Rosenfeld. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Ein Jahr lang hat unsere Redaktion Porträts von Menschen veröffentlicht, die Opfer des Nazi-Terrors geworden sind und denen in Stuttgart ein Stolperstein gewidmet ist. Dieser persönliche Zugang zur Geschichte trägt hoffentlich dazu bei, den Wert von Menschenwürde und Vielfalt zu unterstreichen, kommentiert Jan Sellner.
Wie setzt man ein Zeichen? Ein Zeichen gegen Geschichtsvergessenheit? Einige unserer Mitmenschen versuchen dies hartnäckig, in dem sie kleine, mit einer beschrifteten Messingplatte versehene Steine ins Trottoir einfügen – sogenannte Stolpersteine. Darauf stehen die Namen sowie die Lebens- und Sterbensdaten von Nazi-Opfern. Menschen, die aus antisemitischen, rassistischen, politischen, homophoben, religiösen oder anderen Gründen verfolgt wurden, und von denen die meisten brutal zu Tode kamen. Viele davon im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das an diesem Montag vor 80 Jahren von der Roten Armee befreit worden ist. Das ist mehr denn je ein Anlass zum Nachdenken, Erinnern – und Zeichen setzen.
In Stuttgart sind es aktuell 1048 Stolpersteine
Die Form des Gedenkens mit Hilfe von Stolpersteinen geht auf den Künstler Gunter Demnig zurück, der 1992 die Idee dazu hatte. Der Verlegung der Steine bildet jeweils den Schlusspunkt – niemals jedoch den Schlussstrich! – einer oft langen Recherche von Bürgerinnen und Bürger, die sich der Opfer annehmen und so die Menschen hinter den Namen hervortreten lassen. In Stuttgart beläuft sich die Zahl dieser sprechenden Steine inzwischen auf 1048. Europaweit sind es mehr als 100 000. Und es kommen noch immer weitere hinzu, weil die Geschichte nicht zu Ende erzählt ist und aufgrund der Monstrosität der von den Nazis verübten Verbrechen auch nie sein wird.
Anonymität begünstigt Verdrängung
Als Redaktion haben wir uns in diesen Prozess des Erzählens eingeklinkt und in Zusammenarbeit mit den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen ein Jahr lang im Wochenrhythmus Schicksale beleuchtet – aus der Überzeugung heraus, dass es wichtig ist, Geschichte buchstäblich beim Namen zu nennen, weil Anonymität ihre Verdrängung begünstigt. Und weil diese Menschen nicht gleichsam schicksalhaft Opfer waren, sondern von einem menschenverachtenden Regime zu Opfern gemacht wurden. Manche standen ganz am Anfang ihres Lebens, wie das „Gerhardle“, der 1940 mit Downsyndrom geborene Gerhard Eggensperger, den die Nazis im Alter von drei Jahren ermordet haben. Andere waren in der Blüte des Lebens, wie der 26-jährige Hermann Schlotterbeck, Mitglied der gleichnamigen Untertürkheimer Widerstandsgruppe, der kurz vor Kriegsende hingerichtet wurde. Oder sie waren bereits betagt, wie die 80-jährige Stuttgarter Jüdin Helene Nördlinger – was sie nicht vor dem Vernichtungslager bewahrt hat.
Anerkennung beim Caritas-Journalistenpreis
Die Porträtreihe, die wir diesen Menschen stellvertretend für viele andere gewidmet haben, ist auf ein erfreuliches Echo gestoßen. Auch bei der Jury des Caritas-Journalistenpreises, die der Redaktion bescheinigte, „in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Verwerfungen ein klares Statement zu Menschenwürde, Freiheit und Vielfalt abzugeben“. Mit der heutigen Ausgabe endet zwar die Serie, nicht jedoch unser Engagement. Das Erzählen von Geschichte und ein verantwortungsvoller, auf die Gegenwart und die Zukunft gerichteter Umgang damit gehen unerschrocken weiter. Gerade angesichts der Umtriebe rechtsextremer Geschichtsklitterer und -verfälscher, die dem Albtraum von Homogenität anhängen und Anderssein bekämpfen.
Damit verbindet sich die Frage, wie Menschen nachhaltig für Geschichte interessiert werden können. Die vielen Gedenkstunden zeugen von Geschichtsbewusstsein. Gleichzeitig ist es wichtig, über neue Formen der Ansprache nachzudenken, zumal die Zeit der Zeitzeugen ausklingt. Die Stolpersteine sind eine zeitlose Form der Erinnerung. Respekt gebührt jenen, die mithelfen, dass diese Steine auch morgen noch zu uns sprechen.