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Stolperstein in Stuttgart-Nord: „Schrittweise umgebracht“ – der Leidensweg von Helene Nördlinger

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Heidemarie H. Hechtel – 13.10.2024 – 18:00 Uhr 


Ein glücklicher Moment Anfang der 1920er Jahre: Helene Nördlinger (rechts) mit Tochter Alice, Schwiegersohn Thomas Naegele und ihrem Mann Sigmund Nördlinger (links). Foto: Privatbesitz Jolyon Naegele

Helene Nördlinger blieb in Stuttgart zurück, als Tochter und Schwiegersohn vor den Nazis in die USA flüchteten. Versuche, sie nachzuholen, scheiterten. Das Trauma lastet bis heute auf der Familie. 

„Fest hielt die Oma mich auf ihren Knien, mich kleinen Reiter, der so hell gelacht, ich durfte noch beizeit entfliehen, sie aber wurde schrittweis umgebracht … „ So bitter enden die Verse, die so trügerisch heiter mit dem Kinderlied „Hoppe, hoppe Reiter“ beginnen und mit der Zeichnung eines Kindes auf den Knien der Großmutter illustriert sind. Der Maler Thomas F. Naegele (amerikanische Schreibweise) hat dieses Blatt am 14. März 2008 signiert. Es war der Tag, als für seine Großmutter ein Stolperstein vor dem Haus in der Hölderlinstraße 7 verlegt wurde: Für Helene Nördlinger, die 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, von dort im gleichen Jahr ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt wurde und von der man bis heute nicht weiß, ob und unter welchen Umständen sie schon auf dem Transport zu Tode kam oder ermordet wurde.

Ihr Schicksal lässt die Nachfahren nicht los
Helene Nördlinger war in Stuttgart zurückgeblieben, als ihre Familie, der Maler Reinhold Nägele und seine jüdische Frau Alice am 25. August 1939 Hals über Kopf und ohne Gepäck über Paris nach London flüchteten. Ein Sprung ins Leere. Natürlich sollte die Mutter von Alice Nägele nachkommen, wenn die Familie in der Emigration Fuß gefasst hatte. Aber es war zu spät. „Ihr Schicksal und Ende wird mich bis zum Ende meiner Tage stündlich verfolgen“, schrieb Alice Nägele in einem Brief am 23. Januar 1961 an Josef Hirn, Erster Bürgermeister in Stuttgart. Er hatte sie für die „Dokumentation des Schicksals der Stuttgarter jüdischen Mitbürger nach 1933“ um einen Beitrag über ihre Mutter gebeten. Alice Nägele starb zwei Monate später in New York.

Der Schmerz erfüllt bis heute auch Thomas Naegele, der bis heute in New York lebt und jetzt am 11. Oktober 100 Jahre alt wurde. Der Schmerz quält auch dessen Sohn Jolyon, der bei Prag, 60 Kilometer von Terezin (Theresienstadt), entfernt, wohnt und bekennt: „Das Schicksal meiner Urgroßmutter lässt mich nicht los.“ Die Wunde schließt sich auch über Generationen hinweg nicht.

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Der Mittelpunkt: Helene Nördlinger mit Familie 1927 vor dem Murrhardter Nägele-Haus. Foto: Privatbesitz Jolyon Naegele

„Die Mutter war der Mittelpunkt der Familie“, hatte Alice Nägele im Brief an Hirn deren Bedeutung für alle Familienmitglieder hervorgehoben. Das ist auch auf den Fotos zu sehen, die uns Urenkel Jolyon der Redaktion zu Verfügung gestellt hat: Helene Nördlinger inmitten der großen und offensichtlich sehr glücklichen Familie mit Töchtern, dem Schwiegersohn Reinhold Nägele, dessen Vater und sechs Enkelkindern vor dem Murrhardter Nägele-Haus. „Sie war“, beschreibt sie die Tochter Alice liebevoll, „schön, gepflegt, tüchtig, äußerst sparsam, eigenwillig und streng und doch wieder großzügig und jeden Fortschritt auf allen Gebieten begrüßend.“ Diese Haltung wird auch in der Zustimmung zum Berufswunsch der Tochter Alice deutlich, die als eine der damals noch wenigen Frauen in Freiburg, München und Berlin Medizin studierte.

Bildung wurde großgeschrieben
Helene Nördlinger kam 1862 in Zeitlofs in Franken als Tochter von August Schlüchterer und seine Frau Jeanette, geborene Gerst, zur Welt. Wie so viele Juden vom Lande übersiedelte auch diese Familie 1865 in eine große Stadt, nach Stuttgart, wo der Vater mit zwei Brüdern eine erfolgreiche Manufaktur für Herren-Maßkonfektion betrieb. Der Firmensitz in der Kanzleistraße 36 konnte gekauft werden, Helene wuchs hier mit ihren Brüdern auf. „Sie bekam eine für damalige Zeiten sehr gute Schulbildung zuerst in einer Privatschule und dann im Evangelischen Töchterinstitut, dem heutigen Mörikegymnasium“, schrieb Alice Nägele.

„Ein beispielhaftes mittelständisches, bildungsbürgerliches Milieu“
Sprachunterricht in Englisch und Französisch, Klavier- und Gesangsstunden wurden auch nach dem Schulabschluss noch fortgesetzt. Als „beispielhaftes mittelständisches, bildungsbürgerliches Milieu“ charakterisiert Thomas Naegele das Elternhaus seiner Großmutter. „Die drei Brüder Schlüchterer waren Freimaurer, und die Loge zu den drei Cedern spielte im Familienleben und Freundeskreis eine große Rolle“, erinnerte sich Alice Nägele.

Mit 20 heiratete Helene Sigmund Nördlinger, 1855 in Stuttgart als Sohn eines Geschäftsmannes geboren und in der Kronprinzstraße 7 zuhause. Er hatte die Realschule besucht, war einige Zeit in Frankreich, leistete Militärdienst, bei dem er sich einen schweren Gelenkrheumatismus zuzog, und trat ins elterliche Weißwarengeschäft ein. 1884 und 1890 kamen die Töchter Olga und Alice auf die Welt. Man wohnte großzügig in der Hölderlinstraße 26, Personal war selbstverständlich.


Blick in die Hölderlinstraße im Jahr 1942. Hinten links die Gedächtniskirche. Gegenüber befand sich die Hausnummer 7. Der letzte frei gewählte Wohnort von Helen Nördlinger. Foto: Stadtarchiv Stuttgart

„Wir hatten eine schöne Jugend, da unsere Eltern trotz großer Sorgen um die Gesundheit meines Vaters außerordentlich aufgeschlossen und bestrebt waren, uns Kinder an allem teilnehmen zu lassen, was Stuttgart an Kulturellem zu bieten hatte“, erinnert sich Alice und gibt Einblicke: „Man las außer dem Neuen Tagblatt den Beobachter und die Frankfurter Zeitung, man war im Theater und für die Symphonie-Konzerte abonniert, man ging regelmäßig in den Kunstverein, zu den Vorträgen des Handelsgeografischen Vereins und an Sonn- und Feiertagen mit befreundeten Familien zum Wandern auf die Alb. Kurzum: Man fühlte sich nicht als schwäbischer Jude, sondern als jüdischer Schwabe.“ Die Zugehörigkeit zur israelitischen Religionsgemeinschaft sei wie der Besuch der Gottesdienste an Feiertagen und die Teilnahme am israelitischen Religionsunterricht eine Selbstverständlichkeit gewesen und „wurde ohne Orthodoxie gepflegt“.

Helene Nördlinger meisterte viele Härten
Mit großer Zuneigung und Bewunderung schildert Alice Nägele, wie die Mutter auch Härten und Nöte meisterte, als der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit finanzielle Bedrängnis brachten und der Vater wegen fortschreitender Arteriosklerose behandelt werden musste: „Sie hat sich in diesen schweren Zeiten großartig gehalten.“ Sie selbst, mittlerweile Ärztin, hatte 1921 den Maler Reinhold Nägele geheiratet: „Drei Enkelsöhne und die vielen Menschen, die bei uns ein- und ausgingen, waren für die Mutter eine beglückende Erfahrung.“ Ihre Schwester Olga hatte den Lederhändler Max Mayer geheiratet und lebte in Freiburg. Nachdem ihr Mann Sigmund 1928 gestorben war, gab Helene Nördlinger ihren Haushalt auf und zog in das Haus Hölderlinstraße 7 schräg gegenüber, wo sie sich in der Betreuung der katholischen Veronika-Schwestern sehr wohl gefühlt habe.

Ihr Enkel Thomas hat sie dort oft besucht: „Sie hatte ein großes Zimmer, die Wände waren voll gehängt mit den Bildern meines Vaters“, erinnert er sich. „Sie war eine wichtige Figur in meiner Kindheit und auch eine Verbindung zur Vergangenheit, wenn sie mich mitnahm auf den jüdischen Friedhof.“ Die Gegenwart war seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 für Juden immer bedrohlicher geworden. In seiner „Auto-Bio-Kartographie“ mit dem Titel „Licht und Schatten“ stellt der Künstler auch einen Vorfall bei einer seiner Fahrten zur Großmutter dar: Burschen vom Jungvolk der Hitlerjugend hatten ihn, den „Halb-Juden“, an der Oberen Johannesstraße bedrängt und bedroht.

„Ach was, reg Dich nicht auf, wir kommen doch wieder“ – ein Trugschluss
Das Ehepaar Nägele – Alice Nägele hatte als Jüdin 1933 ihre kassenärztliche und 1937 auch ihre ärztliche Zulassung verloren – brachte daher seine drei Söhne in England unter, Thomas besuchte ab April 1938 das Brighton College. Die Erinnerung an die letzte Begegnung mit der Großmutter zerreißt ihm fast das Herz: „Meine Brüder und ich waren in der Sommerferien 1938 in Murrhardt. Kurz vor unserer Rückreise nach England verabschiedeten wir uns von der Großmutter. Sie stand in der Tür, weinte, sie sehe uns bestimmt nie wieder. Und wir haben gelacht: Ach was, reg Dich nicht auf, wir kommen doch wieder. Und haben uns losgerissen, um noch mit der Familie beim Bruder meines Vaters zu Abend zu essen und um Mitternacht in den Zug zum Schiff nach England zu steigen.“

1939 musste Helene Nördlinger in das Jüdische Altersheim in der Heidehofstraße umziehen, nachdem die Veronika-Schwestern von der Gestapo unter Druck gesetzt worden waren. „Dort lebte sie, als wir am 25. August 1939 von ihr Abschied nahmen, ehe wir fluchtartig um 7 Uhr abends über Calais nach Paris fuhren“, schreibt Alice Nägele: „Mit dem Versprechen, sie nachkommen zu lassen, wenn wir einigermaßen Fuß gefasst haben würden.“ Fünf Tage später begann mit dem Überfall auf Polen der Krieg. Ein Jahr blieben Nägeles in England, direkte Korrespondenz mit der Mutter sei wegen des Kriegszustandes nicht möglich gewesen, über die Schwester Olga in Schweiz habe man von erträglichen Zuständen gehört.

Versuche, die Mutter aus Deutschland zu bringen, scheiterten
Im September 1940 kamen Nägeles in New York an, die Korrespondenz war wieder möglich, „ich besitze ein kleines Bündel an Briefen“, so Alice Nägele an Josef Hirn. Trotz aller Verschleierungen sei herauszulesen gewesen, dass sich die Verhältnisse im Heim verschlechtert hätten. „Wir versuchten 1941 sofort, die Mutter über Cuba hierherzubringen und erhielten ihr Visum zur Weitergabe einen Tag vor Pearl Harbor – durch den Kriegseintritt der USA viel zu spät, sie war gefangen, die Korrespondenz abgeschnitten.“ Über Freunde in der Schweiz und das Deutsche Rote Kreuz bekommen die Töchter (auch Olga war mittlerweile in den USA) Botschaften und erfahren, dass das jüdische Altersheim in der Heidehofstraße nach Schloss Eschenau bei Heilbronn verlegt wird und die Mutter auch „in den nächsten Tagen von hier weg verlegt“ werde.

Ein Postkarte war das letzte Lebenszeichen
„Diese Postkarte vom 15. August 1942 wurde uns hierher geschickt, sie war das letzte Lebenszeichen von ihr.“ Am 22. August wurde sie vom Nordbahnhof in Stuttgart nach Theresienstadt deportiert. Ihr Name ist an der dortigen Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ unter mehr als 2000 anderen verzeichnet. Theresienstadt war nicht die Endstation. Die 80-Jährige wurde am 29. September ins Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Trotz unermüdlicher Nachforschung haben die Töchter in den USA erst drei Jahre nach Kriegsende davon erfahren. Aber bis heute weiß niemand, wie und wann sie zu Tode kam, ob im Lager oder schon auf dem Weg, in einem der Güterwaggons. „Es ist eine grausige Vorstellung“, schaudert Thomas Naegele beim Gedanken daran. „Das kann keiner mehr gutmachen. Wir können uns nur bemühen, dass so etwas nie wieder geschieht.“

Filmdokument: Im Rahmen des Projektes „Frage-Zeichen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeug:innen des Nationalsozialismus“ wurde ein Film mit Thomas Naegele, dem Enkel von Helene Nördlinger produziert. Der Film ist hier zu finden.