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Stolperstein in Stuttgart-Nord: Eine tragische Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Jan Sellner – 06.10.2024 – 18:00 Uhr 


Julie Heilbronner (1865 – 1942). Foto: Ludwigsburger Staatsarchiv

Julie Heilbronner war 68, als die Nazis an die Macht kamen. Was folgte, war großes Leid, das sich in einem Teil ihrer großen Familie bis heute fortsetzte. 

Die Geschichte von Julie Heilbronner, einer am 7. April 1865 in Karlsruhe geborenen Jüdin, ist eine Geschichte, die bis in die Gegenwart hinein reicht. Das ist bei vielen der Lebensgeschichten der Fall, die von den Nazis brutal verformt und gewaltsam beendet wurden, weil diese Geschichten nachwirken. Im Fall von Julie Heilbronner, Tochter des Lebensmittel- und Getreidegroßhändlers Nathan Jakob Homburger (1825-1901) und dessen Frau Babette Rebekka, erfolgt dies jedoch auf besonders beklemmende Weise. Einige ihrer Nachfahren wurden Opfer des Terrorangriffs der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023, der sich jetzt zum ersten Mal jährt. Eine Urenkelin Julie Heilbronners, die anlässlich der Stolpersteinverlegung im November 2018 mit ihrem Vater und zwei weiteren Familienmitgliedern nach Stuttgart reiste, um an der kleinen Gedenkfeier teilzunehmen, wurde dabei ermordet. Der gegen Juden gerichtete Terror sucht auch die Nachgeborenen heim – nur in anderem Gewand.

Ein aufblühende Familie
Julie Heilbronners Leben begann in Verhältnissen, die Geborgenheit versprachen. Mit vier Schwestern und einem Bruder wuchs sie in Karlsruhe auf. Über ihre Schulzeit ist nichts bekannt. Im Alter von 21 Jahren heiratete sie Isaak Heilbronner, einen Kaufmann und Bankier. Der gemeinsame Weg führte sie nach Stuttgart, wo sie zunächst in der Weimarstraße 35 in der Nähe des Feuersees wohnten. Dort wurde im März 1887 Tochter Rosalie geboren. Ein Jahr später zog die junge Familie in die nahe gelegene Hermannstraße 14 um. Hier kamen im Juli 1890 Sohn Edgar Jakob und 1899 die zweite Tochter Charlotte zur Welt. Das Familienglück währte nur wenige Jahre. 1906 starb Isaak Heilbronner im Alter von 54 Jahren. „Sein gut erhaltener Grabstein befindet sich bis heute im jüdischen Teil des Pragfriedhof“ – darauf weist Ute Ghosh von der Geschichtswerkstatt-Nord hin, die das Leben von Julie Heilbronner nachgezeichnet hat.

Eine große Familie entstand
Der Ehemann fehlte schmerzlich, doch die Familie wuchs. Alle drei Kinder heirateten und gründeten ihrerseits Familien. Rosalie wohnte mit ihrem Mann Ludwig Georg Meyer am Kräherwald in der Hölderlinstraße 35. Sie betrieben ein Aussteuergeschäft und hatten eine Tochter, Hilde. Edgar Jakob, der Sohn von Julie Heilbronner, und seine Frau Anna betrieben als Ärzte eine orthopädische Praxis. Sie hatten drei Kinder: Lore, Gerhard und Hans Isaak. Julie Heilbronners zweite Tochter Charlotte zog nach Schwanau. Ihr Mann führte dort ein Textil- und Möbelgeschäft. Auch sie hatten Kinder: Willi und Eva Ruth.

Doch die Familien hatten nicht lange Gelegenheit, sich zu entfalten. Die schrittweise durch die Nazis machte ihre Lebenspläne zunichte. Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 mussten Rosalie und Ludwig Georg Meyer ihr Aussteuergeschäft aufgeben. Auch für Charlotte und ihren Mann Karl kam das berufliche Aus; sie konnten ihr Textil- und Möbelgeschäft in Hanau nicht weiterführen. Wie viele andere jüdische Geschäfte wurde es „arisiert“. Charlotte und Karl emigrierten mit ihren Kindern 1938 in die USA und ließen sich in Philadelphia nieder. Auch Edgar Jacob Heilbronner und seine Frau Anna waren gezwungen, ihren Beruf und ihre Praxis aufzugeben. Sie entschlossen sich zur Flucht nach Palästina. Edgar Jacob emigrierte im August 1933. Seine Frau Anna folgte im November mit den drei kleinen Kindern.

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Ihre erstgeborene Tochter und ihr Mann blieben zurück
Die erstgeborene Rosalie und ihr Mann Ludwig Georg trafen eine andere Entscheidung. Sie blieben in Stuttgart, während ihre Tochter Hilde mit Mann und Tochter Zuflucht in Sao Paulo suchte. Möglicherweise wollte Rosalie die damals schon 73 Jahre alte Mutter. nicht zurücklassen. Sie war 1933 zu ihnen in die Hölderlinstraße 35 gezogen. Damit war das Ende vorgezeichnet In gnadenloser Konsequenz folgten Schritt für Schritt Demütigung und Ausgrenzung. Vom 1. Januar 1939 an stand in Julie Heilbronners Pass ein „J“ – für Jude. Wie alle jüdischen Frauen musste die alte Dame einen weiteren Vornamen tragen: „Sara“. Die männlichen Juden nannten die Nazis „Israel“.

1941 folgte der zwangsweise Auszug aus der Hölderlinstraße 35, dem letzten frei gewählten Wohnort Julie Heilbronners. Sie wurde von Tochter und Schwiegersohn getrennt und in ein sogenanntes Judenhaus in der Gerokstraße 17 verfrachtet, um Wohnraum für die arische Bevölkerung zu schaffen. Ein Jahr später musste sie in ein Judenhaus in der Werastraße 58 umziehen. Ähnlich erging es Rosalie und ihrem Mann. Ihre Zwangsunterkunft befand sich in der Adalbert-Stifter-Straße 107, die heute Eduard-Pfeiffer-Straße heißt. Ihre nächste Station war das jüdische Sammellager auf dem Killesberg. Von dort wurden Rosalie und Ludwig Georg Meyer am 25. April 1942 nach Izbica in Polen deportiert und ermordet.

Julie Heilbronners Leben endete in einer Vernichtungsstätte
Julie Heilbronner überlebte sie um wenige Monate. Im Frühjahr 1942 „verbrachte“ man sie zusammen mit 40 weiteren Juden nach Tigerfeld, einem Teilort von Pfronstetten in das dortige Gemeindearmenhaus. Nach kurzer Zeit schaffte man sie zurück nach Stuttgart – ebenfalls auf den Killesberg. Ihre Deportation ins KZ Theresienstadt erfolgte am 22. August 1942 vom Nordbahnhof aus zusammen mit etwa 1100 weiteren Opfern. Exakt vier Wochen später, am 22. September 1942 – so hat es Ute Ghosh recherchiert – wurde Julie Heilbronner in Maly Trostinec, einer Vernichtungsstätte bei Minsk in Weißrussland, ermordet. Sie war 77 Jahre alt.

Damit endete ihre anfangs von Glück, später von immer größerem Leid geprägte Geschichte. Die Familiengeschichte ging jedoch weiter. Heilbronners Tochter Charlotte und ihre Mann Karl fassten in den USA Fuß. Er arbeitete als Klaviertechniker, sie wurde Klavierlehrerin. Karl starb 1967, Charlotte 1986. Ihr Sohn Willi war in einem Krankenhaus tätig, Tochter Eva Ruth als Malerin und Kunsttherapeutin erfolgreich.

Bewegend ist die weitere Geschichte von Julie  Heilbronners Sohn Edgar Jakob und dessen Familie. Nach der Emigration nach Palästina arbeitete er als Arzt in einer Klinik für Kinder mit Behinderung. Er starb 1967, seine Frau Anna 1974. Ihr ältester Sohn Gerhard änderte seinen Namen in Abraham Havron und wurde mit seiner Frau Rina Mitbegründer 1947 des unweit des Gazastreifens gelegenen Kibbuz Be’ri. Sie hatten vier Kinder. Auch der zweite Sohn von Edgar Jakob und Anna Heilbronner, Hans Isaak, entschied sich für einen anderen Namen. Als Chanan Havron wurde er ebenfalls Mitbegründer eines Kibbuz (Reìm) und arbeitete als Architekt. Er starb im Jahr 2000.


Stolpersteine für Julie Heilbronner, ihre Tochter Rosalie und deren Mann Georg in der Hölderlinstraße 35 im Stuttgarter Norden. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Abraham Havron, der sieben Jahre alt war, als er mit den Eltern Stuttgart verließ, kehrte 2018 für einige Stunden an seinen Geburtsort zurück – 85 Jahre nach der Flucht aus Deutschland. Es war ihm wichtig, bei der Verlegung des Stolpersteins für seine Großmutter Julie Heilbronner in der Hölderlinstraße 35 dabei zu sein, wo bereits Stolpersteine für seine Großtante Rosalie und ihren Mann Ludwig Georg lagen. Es wollte auch nochmals das Haus seiner Eltern am Kräherwald sehen. Vorausgegangen waren intensive Diskussionen in der Familie Havron. Ein Besuch in Deutschland war etwas, was Wunden aufriss.


Das ehemalige Wohnhaus von Jacob Edgar und Anna Heilbronner am Kräherwald. Ihr Sohn Abraham wollte es 85 Jahre nach ihrer Flucht noch einmal sehen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Als Abraham Havron schließlich zur Stolpersteinverlegung anreiste, war er nicht alleine. Seine Tochter Lilach Kipnis begleitete ihn, eine ausgebildete Traumatherapeutin. Auch deren Söhnen Yotan und Nadav. Ebenso sein Sohn Aviv Havron und dessen Tochter Ella. Nach der kleinen Zeremonie kehrten sie nach Israel zurück, in den Kibbuz Be‘ri.

Am 7. Oktober 2023 erlangte dieser Ort furchtbare Bekanntheit. Terroristen der Hamas drangen in den Kibbuz ein und ermordeten 120 Bewohner. Mehrere Mitglieder der Familie Havron wurden verschleppt. Ende November kamen fünf von ihnen wieder frei, unter ihnen die dreijährige Yahel Neri Shoam. Anfangs war vermutet worden, dass die Terroristen auch Lilach Kipnis entführt hatten. Später wurde es schreckliche Gewissheit, dass sie bei dem Terrorangriff ermordet worden war, wie auch zwei weitere Mitglieder der Großfamilie. Abraham Havron hat dies nicht mehr miterleben müssen; das Familienoberhaupt verstarb 2022 im Alter von 97 Jahren. Ein älteres Foto zeigt ihn glücklich im Kreise der Familie.