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Gegen den Schlussstrich

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Jan Sellner – 03.05.2025 

80 Jahre nach Kriegsende gilt es, den Tendenzen zur Geschichtsvergessenheit entgegenzuwirken. Neben zeitlosen Formaten wie den Stolpersteinen braucht es neue Formen des Erinnerns. Ein Kommentar von Jan Sellner

Vor uns liegt eine Woche des Erinnerns und Gedenkens mit dem 8. Mai als zentralem Datum. Es ist der Tag, an dem sich das Ende des von Nazideutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährt – der zerstörerischste und verlustreichste Krieg in der Geschichte der Menschheit mit mehr als 60 Millionen Toten.

In Stuttgart endete der Krieg 16 Tage früher. Am 21. April marschierten französische Truppen ein, tags darauf übergab Oberbürgermeister Karl Strölin im Gasthof Ritter in Degerloch die Stadt an den französischen General Jacques Schwartz. Strölin war glühender Nationalsozialist, hatte jedoch erkannt, dass der Kampf verloren war. Die Zerstörungen waren so schon immens, wovon der Monte Scherbelino, der Trümmerberg, bis heute zeugt. Der 80. Jahrestag der Kapitulation könnte Anlass sein, an dem markanten Fachwerkbau am Degerlocher Albplatz mit einer Tafel an das Kriegsende zu erinnern. Noch immer begegnet einem im Stadtbild zu wenig Geschichte.

Doch sollte sie einem überhaupt begegnen? Und ist zu diesem Kapitel deutscher Geschichte nicht alles gesagt und aufgearbeitet? Dieser Meinung scheinen immer mehr Bürgerinnen und Bürger zu sein. Nach einer aktuellen, repräsentativen Befragung der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft, die regelmäßig die Einstellungen der Bundesbürger zur Erinnerung an die NS-Zeit untersucht, wünscht sich erstmals eine relative Mehrheit – 38,1 Prozent der Befragten – einen „Schlussstrich“. Nur 37,2 Prozent lehnten dies ab.

Geschichte nicht als „vergangen“ abheften
Dieses Ergebnis muss zu denken geben, denn es ist Ausdruck eines Rückzugs aus der Verantwortung, die im Kern darin besteht, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten und damit auch an die Ursachen und Bedingungen seiner Entstehung. Wer Geschichte gedanklich als „vergangen“ abheftet, verkennt, dass sich zivilisatorischer Fortschritt nicht automatisch einstellt, sondern es steter Wachsamkeit bedarf, um die Gefahren zu erkennen, die Gesellschaften in ideologische Abgründe führen können. So stark und entschlossen das „Nie wieder!“ nach dem Zweiten Weltkrieg erklang, so sehr weist diese Haltung inzwischen Risse auf. Nur das Wissen um die Geschichte und die Beschäftigung mit ihr kann sie kitten. Der Holocaustüberlebende Primo Levi sieht darin einen bleibenden Auftrag: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

Wie aber kommt man dieser Aufgabe am besten nach? Mag sein, dass Gedenktafeln nicht mehr zeitgemäß sind und auch Erinnerungskultur stärker in Social-Media-Formaten gedacht werden muss. Unsere mit dem Stadtarchiv entwickelte Videoserie „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“ setzt auf das Bewegtbild. Wichtig ist die Sichtbarkeit von Geschichte und die persönliche Ansprache – auch dann, wenn es keine Zeitzeugen mehr geben wird. Dazu braucht es neue Ideen gerade angesichts der Tendenz zur Geschichtsvergessenheit. Ein lohnendes Thema für die Gedenkveranstaltungen, die es zum 8. Mai auch in Stuttgart geben wird.

1053 Stolpersteine gibt es in Stuttgart – weitere folgen
Eine zeitlose Form des Gedenkens sind die Stolpersteine am letzten selbst gewählten Wohnort von NS-Opfern. Den ehrenamtlich tätigen und gedenkenden Frauen und Männern der 16 Stuttgarter Stolpersteininitiativen ist es zu verdanken, dass in Stuttgart 1053 dieser Steine verlegt und die Schicksale der verfolgten Menschen nachgezeichnet worden sind. Weitere Gedenksteine werden folgen, denn etliche Opferbiografien sind noch immer unerforscht. Von Schlussstrich kann auch hier keine Rede sein.