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Der Mann der Stolpersteine

Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 22.01.2011:

Von Thomas Borgmann

Am 6. Oktober 2009 hat Gunter Demnig in schönster Halbhöhenlage für Martha und Otto Hirsch zwei Stolpersteine verlegt. Das jüdische Ehepaar hatte einst dort oben, am Stuttgarter Gähkopf, gewohnt und war 1942 – er im KZ Mauthausen, sie in Riga – von den Nationalsozialisten ermordet worden. Am Montagabend erhält Demnig im Rathaus die Otto-Hirsch-Medaille. “Ich freue mich sehr über diese Auszeichnung und nehme sie gerne entgegen – auch stellvertretend für die vielen Helferinnen und Helfer, die gerade in Stuttgart meine Aktion tragen und überhaupt erst möglich machen”, sagt er.

Ein Hinterhof in der Kölner Innenstadt. Hier lebt und arbeitet Gunter Demnig. Das Atelier des gebürtigen Berliners, Jahrgang 1947, gleicht einem kreativen Chaos: Bücher und Bilder, Skulpturen und alte Möbel, Kunst und jede Menge Krempel, Bett und Büro auf einem hohen Holzgestell, die kleine Küche in einer Ecke. Kaum zu glauben, dass sich einer darin zurechtfindet, gar die Disziplin aufbringt, an 200 Tagen im Jahr irgendwo pünktlich zur Stelle zu sein, wenn es gilt, Stolpersteine, die an die Opfer des NS-Regimes erinnern, in Gehwege einzulassen. “Ich muss hier raus, stecke mitten im Umzug”, erzählt Demnig beiläufig. Im alten Stellwerk der Köln-Benzelrieder Eisenbahn, draußen in Frechen, habe er ein neues Domizil gefunden. Der Ort ist bundesweit bekannt, weil der TV-Unterhalter Alfred Biolek dort einst seine Kultsendung “Bio”s Bahnhof” gemacht hat.

Rückblick. Im Mai 1990 will der Künstler Demnig mit einer “Kreidespur”, die aus der Stadt zum Bahnhof führt, daran erinnern, dass die Nazis 50 Jahre zuvor eintausend Kölner Sinti und Roma, seit Generationen angesehene Bürger der Stadt, in die Messehallen nach Deutz gebracht haben – und von dort aus in die Vernichtungslager. Erst im letzten Augenblick stimmt die Verwaltung seiner Aktion zu. Als sich herausstellt, dass der Bildhauer gar keine richtige Kreide, sondern “feinste Fassadenfarbe” für seine Spur verwendet hat, gibt es Probleme – die jedoch im Sande verlaufen.

Demnig berichtet: “Während dieser Aktion kam eine ältere Frau auf mich zu und sagte: ,Hier in unserer Nachbarschaft haben doch gar keine Zigeuner gewohnt.” Als ich ihr einige Namen der Deportierten nannte, schwieg sie betreten – sie hatte gar nicht gewusst, dass viele ihrer früheren Nachbarn tatsächlich Sinti und Roma gewesen sind.” Dieser Vorfall brachte den Künstler auf die Idee seines Lebens: “Mit den Stolpersteinen möchte ich die Leute daran erinnern, wer in ihrer Stadt, in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt hat und von dort aus verhaftet, deportiert und ermordet worden ist.” Deshalb trügen die goldenen Messingplatten seiner kleinen Quader die Namen und die wichtigsten Lebens- und Todesdaten der Opfer.

Bis heute hat Demnig in zehn europäischen Staaten Stolpersteine verlegt, in 611 deutschen Städten und Gemeinden. In der Rückschau sagt er: “Ich hätte nie gedacht, was aus meinen kleinen Anfängen in Köln einmal werden würde: das größte dezentrale Denkmal der Welt.” Ursprünglich sei seine Aktion von der Obrigkeit als illegal betrachtet worden, also sei er anfänglich auf privaten Grund und Boden ausgewichen. Die Idee, Gedenktafeln an Häuser anzubringen, habe er nach dem heftigen Widerstand vieler Hausbesitzer verworfen. Gegen die Stolpersteine auf öffentlichen Gehwegen indes könnten die privaten Grundeigentümer nichts einwenden.

Trotzdem schwelen die Konflikte um das Erinnern an die Naziopfer bis heute. In München beispielsweise verweigert der SPD-Oberbürgermeister Christian Ude beharrlich Gunter Demnig die Genehmigung; Charlotte Knobloch, die langjährige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, die dort zu Hause ist, war dagegen. Ihren Vorbehalt, “jüdische Opfer werden wieder mit Füßen getreten”, kontert der Künstler so: “Wer einen Stolperstein auf dem Trottoir entdeckt und liest, was darauf steht, der muss sich herunterbeugen – auf diese Weise verbeugt er sich zugleich vor den Opfern.”

Im November hat Demnig in München doch seine ersten zwei Stolpersteine verlegt: in der sonntäglichen Fernsehserie “Lindenstraße”, was seine bundesweite Bekanntheit noch gesteigert hat. Im Internet quittierte die rechte Szene diese Aktion mit wütenden Schmähungen, offenem Antisemitismus und geschmacklosen Angriffen. Demnig lässt sich davon nicht beirren: “Ich habe im Laufe der Zeit schon mehrere Morddrohungen erhalten, aber Angst habe ich nicht.” Vielerorts stünden die jüdischen Gemeinden hinter seiner Aktion, er habe schon Auszeichnungen von ihnen bekommen. Dass man sich in München immer noch gegen ihn stellt, schmerzt ihn schwer.

Und in Stuttgart? Bereits Ende der achtziger Jahre hat im Osten der Stadt die von privater Seite getragene Spurensuche nach den Opfern des Nationalsozialismus begonnen. 2003 wurde Gunter Demnig hierher eingeladen, um seine ersten Stolpersteine zu verlegen. Bis heute sind es fast 600.

Ihr Erfinder ist voll des Lobes und des Respekts: “In Stuttgart gibt es inzwischen 17 Initiativen, die in den Stadtbezirken recherchieren, meine Arbeit vorbereiten, Veröffentlichungen und Veranstaltungen machen, das Tiefbauamt unterstützt meine Verlegungen auf den Gehwegen. Eine solche Basis haben mein Helfer und ich in keiner anderen Stadt.” Also komme er zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst; die nächsten Termine stünden längst fest. An vielen Orten, auch in der Region um Stuttgart herum, nehme man sich die hiesigen Initiativen zum Vorbild.

27 000 Stolpersteine in zwanzig Jahren, fast ständig unterwegs, kaum ein Privatleben und keine Zeit für andere Kunstprojekte – besteht da nicht die Gefahr, zum Sklaven seiner eigenen Idee zu werden? Die Antwort kommt prompt: “Vor wenigen Tagen war ich zum zweiten Mal in Rom, habe dort mehr als fünfzig Steine verlegt.” An einer Stelle seien eigens zwei Nachfahren der Opfer aus Israel angereist. Als sie sagten, sie besäßen kein einziges Foto ihres ermordeten Vorfahren, wüssten also auch nicht, wie er ausgesehen habe, da sei eine Nachbarin ins Haus gegangen und mit einem alten Klassenfoto zurückgekehrt. Darauf sei auch der Vorfahre zu sehen gewesen. Da habe er, selbst nach so vielen Jahren, “eine Gänsehaut bekommen”.

Das seien die Momente, die ihn darin bestärken, immer weiterzumachen, sagt Demnig mit tiefem Ernst. Deshalb wehre er sich gegen Nachahmer, die es leider auch gebe – deshalb habe er sich vorbehalten, alle Stolpersteine eigenhändig in den Boden einzulassen. Er nennte sie “eine soziale Skulptur”, und er bekennt, “dass ich als Alt-68er damit auch einen politischen Anspruch verbinde”. Im Übrigen staune er immer wieder, wie viele Menschen zu den Verlegungen kämen, wie interessiert die Schulklassen seien, aber auch öffentliche Honoratioren. Mehr und mehr treffe er an seinen Stolpersteinen die Enkel und Urenkel der Opfer aus aller Welt. Und er habe an vielen Orten echte Freunde gefunden. Am Montagabend, das sei schon ausgemacht, werde er nach der Verleihung mit seinen Stuttgarter Freunden feiern – er sei nämlich, selbst wenn man ihm das auf den ersten Blick nicht ansehe, ein heiterer Zeitgenosse.

Ach, und dann ist da ja noch der unvermeidliche Hut, quasi sein Markenzeichen. Hat der womöglich mit Joseph Beuys zu tun? Nein, sagt Demnig, und lacht: “Ich hab mal als junger Mann im Fundus der Deutschen Oper gejobbt. Eines Abends, als es regnete, hab ich mir einfach einen Hut gegriffen, um nicht nass zu werden – bei dem Hut ist es geblieben.” Den freilich setzt Gunter Demnig nur höchst selten ab, schon gar nicht in geschlossenen Räumen. Also auch nicht am Montagabend, wenn er im Stuttgarter Rathaus die Otto-Hirsch-Medaille bekommt, die an den Mann erinnert, der Zehntausenden von Juden zur Flucht vor den Nazis verholfen hat und der selbst auf eine mögliche Flucht verzichtet hat, wohl wissend, dass ihn das sein Leben kosten werde. Seit dem 6. Oktober 2009 gibt es auch für Otto Hirsch einen Stolperstein.