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Bella und Joseph Wochenmark, Olgastr. 75

Dr. phil. Joseph Wochenmark, geb. 18.06.1880 Regwadov, Galizien/Österreich; ab 1918 Polen. Religionslehrer/Rabbiner, gest. 08.03.1943 Stuttgart, „Flucht in den Tod“.
Vater von Joseph: Barusch Wochenmark, Kaufmann Hannover.
Seine Mutter: Scheidel geb. Leder.
Bella Wochenmark geb. Freudenthal, geb. 14.01.1884 Gotha/Thüringen. Ermordet 1945 in Auschwitz.
Vater von Bella: Karl Freudenthal, Viehhändler in Erfurt.
Ihre Mutter: Lina Freudenthal, geb. Hellmann.
Heirat: Joseph und Bella am 14.08.1916 in Erfurt.
Kinder:
Alfred Wochenmark geb. 30.06.1917 in Freudenthal, Schreiner. Flucht über die Schweiz in die USA: Wochen Mark. Drei Kinder: *1946, *1949, *1952.
Arnold Wochenmark, geb. 31.03.1921 in Crailsheim. Verheiratet, Konditor. Flucht über die Schweiz in die USA: Arnold Marque.

Galizien: östlichstes Kronland der Habsburgermonarchie

Auszug aus dem Vorwort: Galizien – Rekonstruktion einer zerstörten europäischen Landschaft.
Aus dem Buch „Das reiche Land der armen Leute“, Wieser Verlag, Klagenfurt von Karl Markus Gauss und Martin Pollack.

„(…). Die konkurrierenden Großmächte Russland, Österreich und Preußen verabreden sich diplomatisch zu einer räuberischen Unternehmung, die als »Erste Polnische Teilung« in die Geschichte eingeht und dem durch innere Wirren geschwächten Königreich Polen 1772 ausgedehnte Gebiete entreißt; zwei weitere Teilungen in den Jahren 1793 und 1795 besiegeln das Schicksal der Adelsrepublik, (…). Das Zarenreich sichert sich Ost- und Mittelpolen sowie Litauen; Preußen kann durch den Gewinn von Westpreußen, von Danzig und Thorn, Posen und Kalisch, seine Territorien Pommern und Ostpreußen mit polnischem Land verbinden; und der Habsburgern wird ein Gebiet zugeschlagen, das künftig den nordöstlichen Rand des Vielvölkerstaates bilden sollte:   Ostgalizien mit Lemberg und Westgalizien mit Krakau als Zentrum. (…);  die russischen Fürstentümer Halicz und Wladimir waren es schließlich, denen das habsburgische »Königreich Galizien und Lodomerien « den klangvollen, ans Mythische gemahnenden Namen verdankte. (…) Bürokraten des Kaisers Ioseph II (…) fanden dort Menschen unterschiedlicher Nationalität, Sprache, Religion und Kultur vor.  Noch kaum von der Aufklärung berührt, existierten in diesem neuen, künstlichen Verwaltungsgebilde nebeneinander jüdische Schtetl (Deutsch: Städtlein: Siedlungen mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil: “jiddisch-daitsch”), polnische Adelsgüter und ruthenische (nach heutigem Sprachgebrauch: ukrainische) Bauerndörfer, und dazwischen verstreut lagen die geschlossenen Ansiedlungen deutscher Kolonisten.   Aber da gab es (…) noch versprengte Gruppen anderer Nationalitäten:  Armenier, Ungarn, Slowaken, Rumänen, Zigeuner und fremdartig rätselhafte Volksgruppen wie Bojken und Huzulen, deren Herkunft sich in Legenden und Sagen verlor.  Zu den großen Glaubensgemeinschaften, dem Judentum, dem polnischen Katholizismus und dem griechisch-katholischen Ritus der Ukrainer, gesellten sich fromme Minderheiten wie die aus Russland geflüchteten Lippowaner oder die aus dem Westen unter Joseph II ins Land gekommenen Mennoniten; beides christliche Sekten.   Ebenso die jüdischen Karaimen, (…), mit denen viele den verlorenen dreizehnten Stamm Israels identifizieren wollten.
Was später (…) oft zur familiären Idylle der k. u. k. Völkereintracht umgefälscht werden sollte, erlebten die Völker und Nationalitäten Galiziens einst als äußerst konfliktträchtige Differenz.  Gab es zwischen ihnen auch manchen Austausch gerade in wirtschaftlichen und kulturellen Belangen, so lebte doch jede Bevölkerungsgruppe recht abgeschlossen in ihrer eigenen Welt, dem Nachbarn der anderen Nationalität oder Religion meist mit Misstrauen.
Das 1772 aus der Taufe gehobene und mit der Donaumonarchie 1918 untergegangene Kronland Galizien und Lodomerien hatte (…) keine eigenen geschichtlichen Traditionen (…).   Für die polnischen Patrioten gab es nur eine Heimat:  Polen. (…) Ukrainer sahen in Galizien kaum ihre Heimat, vielmehr die halbvergessene Peripherie eines fremden Staates, der ihnen zwar das nationale Überleben garantierte, aber das Unrecht, das ihnen von ihren polnischen Grundherren zugefügt wurde, gleichwohl legitimierte. (…).   Für viele von ihnen wurde Galizien lange vor dem Ausbruch des blutigen Weltkrieges, der die Habsburgermonarchie in Trümmer schlug, zum Schicksal, an dem sie kläglich zugrunde gingen. (…)“.

Die zunehmenden Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung um die Jahrhundertwende und auch davor, veranlasste viele Juden nach Westen zu ziehen.  So auch der Religionsphilosoph Martin Buber (1875-1965), die Dichterin der neuen Sachlichkeit Mascha Kaléko  (1907-1975) – sowie auch Joseph Wochenmark und viele Andere.
Über die ersten zwei Dekaden von Joseph Wochenmarks Leben wurden keine Überlieferungen gefunden.  Der oben angeführte Geschichtsüberblick veranschaulicht die wechselvollen 150 Jahre seiner Heimat.

Joseph strebte zunächst die Ausbildung zum Volksschullehrer an u. besuchte das Lehrerseminar in Esslingen.  Mit 36 Jahren heiratet er Bella Freudenthal – gebürtig aus Gotha – in Erfurt.

In Gotha hat sich über Jahrhunderte eine jüdische Gemeinde angesiedelt und entwickelte sich nach 1848 – als der Stadtrat die Bürgerrechte für Juden erleichterte – zu einer Gemeinde mit Synagoge, Friedhof, rituellem Bad und Religionsschule.

Wochenmark Bella und JosephJoseph Wochenmark war Religionslehrer am Gymnasium in Crailsheim.
Ab1925 lehrte Wochenmark acht Jahre am Uhland-Gymnasium in Tübingen; sein Sohn Arnold ging dort 1927 – 1933 zur Schule.
„Er war ein Beobachter des Antisemitismus“, wie es bei Marie Zelzer heißt. „(…) 1929 Teilnehmer an der Seminararbeitsgemeinschaft Professor Hausers an der Philosophischen Fakultät Tübingen, in der das Religionsgeschichtliche Problem des Schicksalsglaubens behandelt wurde.  Aus dem Seminarsreferat Wochenmarks über die Schicksalsidee gestaltete sich auf Anregung von Prof. Hauser die Dissertation, mit der Wochemark im Jahre 1933 promovierte: > die Schicksalsidee im Judentum <, erschienen in der Reihe der Veröffentlichungen des orientalischen Seminars der Universität Tübingen, 6. Heft, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1933. Auch weiterhin mit der Jüdischen Geistesgeschichte beschäftigt, hielt Dr. Wochenmark einen Vortrag über Don Isak Abravanel im März 1937 in Stuttgart. (…)“.
Anmerkung: Isak Abravanal war Finanzier und Politiker 1437-1508, seine geistesgeschichtliche Bedeutung liegt in seiner Tätigkeit als Bibelkommentator und Philosoph.

Wochenmark mit Alfred und ArnoldAm 27.08.1934 meldete sich die Familie von ihrer Wohnung Wöhrdstr. 23 in Tübingen ab und zieht nach Schwäbisch Gmünd Königsturmstr. 29/2.   Von der Jüdischen „Gemeinde wurde er sehr geschätzt; er schrieb auch deren Geschichte („Gemeindeplatt“ 1937/1938).“
Am 22.01.1939 mussten sie in ein „Judenhaus“ umziehe, in das Haus Nr. 18 in der selben Straße.  Das Anwesen gehörte dem jüdischen Schuh-Fabrikant Gustav Mayer.  Das Mobiliar wurde auf dem Dachboden abgestellt, um vielen bedrängten Menschen Raum zu geben.  Wochenmarks war ein Raum zugeteilt; die Küche mussten sich alle teilen.
Seit Oktober 1938 war Dr. Wochenmark „vom Dienst entfernt“.

Abschrift aus Drucksache Nr. 9 der israel. Landesversammlung 1937 /38: „(…) Der Religionslehrer Dr. Joseph Wochenmark ist z. Zt. beurlaubt.  Den Religions-Unterricht erteilt Oberlehrer Metzger-Ludwigsburg, der auch den Unterricht in der zu Schwäb. Gründ gehörenden Gemeinde Aalen gibt.“

Die inzwischen betagte ehemalige Putzfrau Barbara Bubeck war sechs Jahre bei Mayers beschäftigt – auch sonntags – gibt 1962 zu Protokoll:  „Mayers wollten in die USA.   Plötzlich war alles leer, Möbel standen noch, Haus verschlossen, von da an keine Nachricht von Familie Mayer, Wochenmark und den Anderen.  Die Mutter von Frau Wochenmark (Lina Freudenthal) lebte in Freudenstadt.  Der eine Sohn Wochenmark (Arnold) ging bereits 1937 als Konditor nach Basel, der andere Sohn (Alfred) nach Amerika zu seiner Tante (Josephs Schwester).“

Wochenmark Joseph DokumentIn den Akten gibt es viele Verschreiber, Verwechslungen von Daten usw. deshalb wird ein Dokument eingefügt, das Auskunft über die Zeit in Stuttgart gibt: Einschub Dokument von Joseph Warscher:
Bella und Joseph Wochenmark kamen am 07.01.1940 nach Stuttgart und fanden im Haus Rosenbergstr. 103/3 Unterkunft.  Bei sich hatten sie nur das aller Nötigste.   Die Möbel lagerten noch auf dem Dachboden in Schwäb. Gmünd. Das Finanzamt Schwäb. Gmünd hatte die Verwaltung des Hauses Gustav Mayer nach dessen Flucht in die USA übernommen. Das Mobiliar war nach 1945 nicht mehr auffindbar.

1941 wohnt das Ehepaar im Haus Olgastr. 75.
In den letzten drei Kriegsjahren wurden die Wohngebäude im S-Westen und S-Mitte durch Luftangriff zerstört.  Auch die alten Baupläne verbrannten bei den Luftangriffen.

In dieser Zeit macht Joseph Wochenmark März 1941 das Rabbinats-Diplom an der Lehranstalt der Wissenschaften Berlin.
Ab 19.09.1941 müssen sie den Judenstern tragen und sind den vielen Schikanen des täglichen Lebens – „wegen ihrer Rasse“ – ausgeliefert.
1942 wird das Ehepaar wieder gezwungen in ein Judenhaus, in die Eberhardstr.1, in das Haus von Martha und Julius  Baer zu wechseln.
Joseph verdient sich einen kargen Lohn bei der Israelitischen Gemeinde und als Straßenfeger (Zeugenaussage).

Mit der Nachricht zur Deportation sind Joseph und Bella am Ende ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit.

Sie wählen am 08.03.1943 den Freitod.

Bella Sara Wochenmark misslang der Selbstmordversuch.
Sie wird 40 Tage später, am 17.04.1943, mit 18 anderen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern nach Theresienstadt, am 16.10.1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Der Todestag ist auf das Datum der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee – am 27.01.1945 – amtlich festgelegt.

Joseph Wochenmark erreichte ein Alter von 63 Jahren.
Seine Grabstätte in Stuttgart:   Pragfriedhof, jüdischer Teil: XXI-XII-3046.
Bella Wochenmark geb. Freudenthal wurde 60 Jahre alt.

Wochenmark Bella und Joseph Stolpersteine

Die Überlebenden:
Beide Buben können Ihre Schulausbildung, verfolgungsbedingt, nicht abschließen und ihnen bleibt die von den Eltern angestrebte akademische Berufsausbildung verwehrt; sie flüchten auf entbehrsamen Wegen über die Schweiz in die USA.
Hierzu das Buch „Zerstörte Hoffnungen – Wege der Tübinger Juden“, Herausgeber: Geschichtswerkstatt Tübingen e.V. Dr. Martin Ulmer berichtet über diese Schicksale sehr ausführlich.

Sohn Manfred ist der erste Tübinger Jude, der 1933 in die Schweiz flüchtet. Er absolviert die Ausbildung zum Schreiner und kann in die USA ausreisen.
Sohn Arnold gelang 1937  die Einreise in die Schweiz; er konnte als Konditor seinen Unterhalt verdienen und musste sich regelmäßig um eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung kümmern.  Mit Kriegsbeginn kam er in ein Internierungslager und konnte am 05.02.1946  in die USA ausreisen.

Mit dem heutigen Tag, Dienstag, dem 18.09.2012 –  nach jüdischer Zeitrechnung Neujahrstag 5773 – erhalten die Eheleute Wochenmark ein Kleindenkmal vor dem Haus Olgastr. 75.

Recherche & Text:  2012, Gebhard Klehr, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Mitte.

Quellen: Staatarchiv Ludwigsburg, Stadtarchiv Stuttgart, Maria Zelzer: „ Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden“. Joachim Hahn 3. Bd. „Pragfriedhof, Jüdischer Teil“ (s. 228, Grabstein Nr. 3046) und die im Text angegebenen Dokumente und die Literatur. Foto Gedenkstein: Gebhard Klehr.
Spender/Paten für die Gedenksteine:
Dr. Joseph Wochenmark:  Rudolf Guckelsberger, Stuttgart und Andreas Bacher.
Bella Wochenmark:  Daniel Schumann, Tobias Hena und Christoph Steger, Nürtingen.