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Gertrud und Klara Henoch, Hauptmannsreute 17

Die wohl recht begüterte Familie Henoch war im Sommer 1930 – vermutlich aus Neunkirchen / Saar kommend – nach Stuttgart in die Hauptmannsreute 10 gezogen. Stuttgart war die Heimatstadt der Ehefrau Klara geborene Harburger; hier war sie am 4. September 1873 geboren worden.
Zu den Hintergründen des damaligen Umzugs und der familiären Situation der Henochs in diesem Zeitraum ist kaum mehr etwas bekannt. Der Ehemann Heinrich Henoch, Jahrgang 1874, bezeichnete sich als “Privatier” und soll zu dieser Zeit ein beträchtliches Vermögen -von etwa einer Million Goldmark- besessen haben. Einen Großteil dieses Geldes legte er hier in Stuttgart in den Folgejahren in Häusern und Wertpapieren an. So kaufte er 1933 das Haus Zeppelinstraße 153, das vermietet wurde, und schließlich 1935/36 das Haus in der Hauptmannsreute 17, in das die Familie einzog.
Wie viele der drei erwachsenen Kinder mit in das Haus gekommen sind, ist nicht mehr feststellbar. Als sicher erscheint, dass die jüngste, unter Schizophrenie leidende Tochter Gertrud, geboren am 17. September 1908 in Neunkirchen / Saar, mit in die Hauptmannsreute 17 einzog. Dieses Haus Nummer 17 muss bereits in seiner damaligen
Form ein stattliches Objekt gewesen sein, denn neben der Familie Henoch wohnten noch ein Rechtsanwalt, ein Diplomingenieur, eine Beamtenwitwe und ab 1938 ein Fabrikdirektor im Haus.
Als Heinrich Henoch 1937 starb, war die Ehefrau Klara mit ihrer kranken Tochter Gertrud nunmehr auf sich gestellt. Aufgrund des wachsenden Drucks auf die jüdische Bevölkerung musste sie in den folgenden Jahren ihr “ganzes Vermögen flüssig machen”, nachdem Juden ihren Grundbesitz “abstoßen” mussten. Ende 1938 musste sie das Haus Zeppelinstraße 153 für rund 50 Tausend Reichsmark und im November 1940 schließlich auch ihr Wohnhaus  Hauptmannsreute 17 verkaufen. Beide Verkaufserlöse kamen auf ein Sperrkonto und “verfielen (später) an das Deutsche Reich”.
Seit 1939 wurden immer mehr jüdische Bürger in das damals noch Frau Henoch gehörende Haus eingewiesen. Das Stuttgarter Adressbuch nennt für das Jahr 1941 allein für das Erdgeschoss neben Frau Klara Henoch vier weitere Frauen mit verordneten Vornamen Sara. Nach dem Verkauf des Hauses musste Frau Klara Henoch im Juli 1941 in das “Judenhaus” Rosenbergstraße 105 umziehen, eine Adresse, unter der in dieser Zeit immer mehr jüdische Bürger
zusammengepfercht wurden. Wenige Wochen später, am 1. Oktober 1941, wurde sie im Wege der sogenannten Landaussiedlung der Juden zwangsweise in das Jüdische Altersheim Schloss Weißenstein bei Süßen umgesiedelt. Hier blieb sie bis August 1942.
Am 22. August 1942 wurde Klara Henoch nach Theresienstadt deportiert, von dort ging es am 29. September 1942 ins
Vernichtungslager Treblinka.
Die psychisch kranke Tochter Gertrud Henoch wurde am 2. April 1939 in die Jüdische Heil- und Pflegeanstalt Sayn bei Koblenz aufgenommen. Nähere Umstände hierzu sind zwar nicht bekannt, doch muss diese Einweisung vermutlich in Zusammenhang mit einer Anordnung des Reichsinnenministeriums gesehen werden, wonach “jüdische Geisteskranke” nur mehr in die von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland geführte Anstalt in Bendorf-Sayn aufzunehmen seien. Nach einer (nicht anderweitig bestätigten) Mitteilung eines Anwalts aus dem Jahr 1950 soll die Mutter Klara
ihre kranke Tochter Gertrud 1941 in das jüdische Sanatorium Sayn bei Koblenz eingekauft (haben). Hierfür wurde als lebenslängliche Versorgung ihr elterliches Erbteil in Höhe von 240 000 Reichsmark an dieses Heim bezahlt.
 

Von dort ist Frau Gertrud Henoch zusammen mit mehreren Hundert anderen Patienten am 15. Juni 1942 “in den Osten” deportiert worden. Mit diesem auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamts aufgestellten Transport D 22 (dem dritten von fünf aus Bendorf – Sayn) wurde am 15. Juni 1942 ein weiterer Teil der im Rheinland lebenden Juden “evakuiert”. Dem 1.066 Personen umfassenden Transport waren “allein neun Güterwagen für die geistig behinderten
Juden” aus Bendorf-Sayn angeschlossen. Die Patientinnen und Patienten waren zum Teil so gebrechlich, dass sie nur liegend transportiert werden konnten. Dies erklärt den Einsatz von “G-Wagen” (gedeckter Güterwagen) bei dem Transport. Ziel des Zugs war das (Durchgangs-)Lager Izbica bei Lublin. Von dort gingen ab Juni 1942 mehrere Transporte in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor. Die Spur von Frau Gertrud Henoch verliert sich in
Sobibor.
Nichts erinnert hier mehr an das, was einmal war.
Die jetzt gesetzten “Stolpersteine” sollen den nahezu vergessenen Frauen Klara und Gertrud Henoch wenigstens ihren Namen zurückgeben und uns Lebende mahnen.

Text & Recherche: Dr. Helmut Rannacher, Stolperstein-Initiative Stuttgart-Nord, Mai 2009