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Alice Haarburger, Sandbergerstr. 26

Passfoto Alice HaarburgerDie Malerin Alice Haarburger, die am 16. 11. 1891 in Reutlingen geboren und am  26.3.1942 in Riga am Zielort der ersten Deportation der jüdischen Bevölkerung Stuttgarts erschossen wurde, war Deutsche und Stuttgarterin aus vollem Herzen. Ihr Vater Friedrich Haarburger, (1855-1920) war einer der wohlhabendsten Fabrikanten des angehenden 20. Jahrhunderts. Mit einer bahnbrechenden Kunststoffproduktion in seiner Firma Julius Vottelers Nachfolger G.m.b.H. in Reutlingen hat er Industriegeschichte geschrieben. Die Mutter Fanny, geb. Hess, (1868-1942) war eine Urenkelin des bedeutenden jüdischen Buchhändlers und Emanzipators der Juden Württembergs Isaak Hess aus Ellwangen (1789-1866). Die Familie zog im Jahr 1903 nach Stuttgart, um den drei Kindern Alice, Karl (1893-1935) und Ernst (1897-1927) in der württembergischen Residenz eine bessere Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Das vom Vater 1902 geplante und erbaute Haus in der Danneckerstraße 36 zeugt noch heute von den ursprünglichen Eigentümern und Bewohnern; die stilisiert-verschnörkelten Initialen FH sind über dem Toreingang des stattlichen dreigeschossigen Hauses im Süden Stuttgarts zu sehen. Von der Rückseite aus öffnet sich der Ausblick auf die Stuttgarter Stadtlandschaft.

Eine kurze tabellarische Auflistung soll hier die Lebensstationen und -orte der ermordeten Malerin, deren Familie fast völlig ausgelöscht wurde, dokumentieren:

1891-1903   Glückliche Kindheit im Wohn- und Bürohaus der väterlichen Firma in der Bismarckstr. 4 in Reutlingen.

1903            Umzug nach Stuttgart-Mitte in das vom Vater in der Danneckerstr. 36  gebaute Haus, Besuch eines Stuttgarter Mädchengymnasiums, von Internaten in Genf, Lausanne und London.

1910           Private Malschule für Damen von Alfred Schmidt, Stuttgart.

1917           Studium in der Akademie der bildenden Künste Stuttgart bei Arnold Waldschmidt.

1920           Besuch der Debschitz-Schule für angewandte Kunst in München Mitgliedschaft im “Württembergischen Malerinnenverein” in Stuttgart.

Seit 1921    Mehrfache Ausstellungen in Stuttgart, u.a. im Kunstverein.

1932-1933  Erste Schriftführerin des “Württembergischen Malerinnenvereins”

Ab 1933     Gleichschaltung des “Württembergischen Malerinnenvereins” und Ausschluss, nur noch Zugang zu geschlossenen jüdischen Ausstellungen, vor allem bei der von Karl Adler eingerichteten “Stuttgarter jüdischen Kultur-Gemeinschaft”.

1938           Zwangsverkauf des Hauses in der Danneckerstraße.

1938-1941  Wohnung mit mehreren Familienmitgliedern und Freunden im vollkommen überbelegten Haus der Familie in der Sandbergerstr. 26, Stuttgart-Ost.

1.12.1941   Wird mit der ersten Stuttgarter Deportation vom Sammellager auf dem Stuttgarter  Killesberg nach Riga verbracht und dort am 26.3.1942 bei einer Massenerschießung umgebracht.

Seit 1938 lebte Alice Haarburger, die allerdings kaum mehr Zeit und Ruhe zum Malen fand, mit mehreren Familienmitgliedern und Freunden im vollkommen überbelegten Haus Sandbergerstraße 26, in einer Villengegend in Halbhöhenlage des Stuttgarter Ostens. Vorher hatte das Haus in der Danneckerstraße 36 erzwungenermaßen stark unter Wert verkauft werden müssen. Nur dank der Tatsache, dass neben Alice Haarburger auch der “halbjüdische” Neffe Friedrich und die Nichte Hanna Haarburger Miterben waren, konnte mit dem Verkaufserlös das kleinere, zum Verkauf anstehende Haus in der Sandbergerstraße 26 erworben werden. Aber auch dieses Haus wurde 1942 “arisiert”: Das heißt, alle Bewohner, die dort Zuflucht gefunden hatten, sind kurz nach den Verschleppungen und Deportationen gestorben oder wenig später umgebracht worden. Hier seien genannt: Alices betagte Mutter Fanny Haarburger. Sie war 1942 in das “jüdische Altenheim Dellmensingen” verschleppt worden und starb dort wenig später. Ihre Schwester Emma Hess, geboren 1870, wurde ebenfalls 1942 nach Dellmensingen verschleppt und im selben Jahr in Theresienstadt ermordet. Der verwitwete Bruder der Mutter, Rechtsanwalt Dr. Ludwig Hess, geboren 1864 in Ellwangen hatte seine Wohnung und sein Büro in der Gaußstr. 109 räumen müssen und mit einer heiß erkämpften Genehmigung im September 1941 in der Sandbergerstraße 26 einziehen “dürfen”. Auch er wurde 1942 nach Dellmensingen verbracht. Ermordet wurde er in Theresienstadt im Herbst desselben Jahres. Die Cousine der Mutter, Fanny Hess, geboren 1862 in Ellwangen ist ebenfalls nach der Verschleppung 1942 in Dellmensingen gestorben.

Obwohl die Spuren des Lebens und Wirkens der Stuttgarter Bürgerin Alice Haarburger in der Stadt ihres künstlerischen Wirkens immer noch präsent sind, wurden sie doch bisher kaum dokumentiert. Immerhin erinnert seit 1987 die Alice-Haarburger-Staffel, die vom Stuttgarter Hoffeld ins Ramsbachtal hinunterführt, an das heillos traurige Schicksal der schwäbischen Malerin, die an ihrem fünfzigsten Geburtstag den Einberufungsbefehl der Gestapo zur Deportation bekommen hatte.

Eine Emigration hatte sie wohl nie in Erwägung gezogen. Obwohl Alice Haarburger 1940 ein Schweizer Visum erhalten hatte, verzichtete sie auf die Ausreise. Sie wollte für die Mutter dableiben und fühlte sich auch sicher, weil beide Brüder im Ersten Weltkrieg gedient hatten und “dekoriert” worden waren. Dass die Ermordung ihr eigenes Schicksal sein könnte, hatte sie wohl selbst in ihren dunkelsten Vorahnungen angesichts der immer deutlicher werdenden gesellschaftlichen Ausgrenzung nie befürchtet.

Ihr Werk repräsentiert ein verschwundenes und doch heiles Kinderland, die ungebrochene Liebe zu einem intakten Zuhause und vor allem zur landschaftlichen Schönheit ihrer Heimatstadt Stuttgart. Rund 150 Ölbilder erinnern heute noch an die Malerin “Stilleben, Landschaften, Interieurs und Porträts. Sie befinden sich in Privatbesitz, in Kunstmuseen Böblingen und Reutlingen, im Stuttgarter Stadtarchiv und im alten Atelierhaus des “Bundes Bildender Künstlerinnen Württemberg e.V.”, dem Nachfolgeverband des Württembergischen Malerinnenvereins” in der Eugenstraße 17 in Stuttgart.

Mascha Riepl-Schmidt

Ausführlich berichtet Mascha Riepl-Schmidt über das Schicksal Alice Haarburgers in dem 2006 erschienenen  Buch “Stuttgarter Stolpersteine- Spuren vergessener Nachbarn”. Dort findet sich auch ein Verzeichnis der Quellen zur Geschichte Alice Haarburgers.