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Fritz Albert, Paul Felix und Heinz Robert Sontheimer, Azenbergstr. 57

Fritz Albert, Paul Felix und Heinz Robert waren die drei Söhne von Felix Sali (1877-1943) und Roosje Sontheimer geborene Prins. Ihr Vater war stellvertretender Direktor bei der Deutschen Bank, ihre Mutter war eine bekannte Sopranistin, die regelmäßig auf Konzert-Tournee war.

Heinz, Paul und Fritz Sontheimer um 1926 (Foto: privat)

Der älteste der drei Brüder, Fritz Albert, wurde am 13. Februar 1920 in Stuttgart geboren, die Zwillinge Paul Felix und Heinz Robert am 25. September 1924. Als Erwachsene erinnerten sie sich an ihre Kindheit und an ihr Haus, die Geborgenheit und die liebevolle Atmosphäre sowie an die engen Familienbande. Die Brüder hingen sehr an ihrem Vater, der sie oft in die Stadt und in die Bäckerei um die Ecke mitnahm.

Die drei Brüder gingen in die lokale Grundschule und später in das nahegelegene Dillmann-Realgymnasium. Nach dem erzwungenen Ruhestand ihres Vaters 1932 und der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933, sah die Familie Sontheimer keinen anderen Weg, als ihr Haus weit unter Wert zu verkaufen. Sie zogen in eine Wohnung in der Hegelstraße 25. Ende 1935 verstarb Mutter Roosje unerwartet. Nun Witwer, gab ihr Vater sein Bestes, die Kinder alleine großzuziehen. Die vier besuchten Roosjes Grab wöchentlich.

Nachdem Fritz das Realgymnasium abgeschlossen hatte, besuchte er zwei Jahre die höhere Handelsschule und begann dann eine Ausbildung bei der SAPT AG in Stuttgart-Untertürkheim, einer der größten Textilproduzenten der Region. Er plante, am Staatlichen Technikum für Textilindustrie in Reutlingen textiles Ingenieurwesen zu studieren.

1936 wurden die Zwillinge vom Realgymnasium verbannt und zur jüdischen Schule geschickt. Auf dem Schulweg wurden sie oft von anderen Jungen gehänselt – einfach nur, weil sie jüdisch waren. Sie wurden auch von Freizeitaktivitäten ausgeschlossen, die sie gerne hatten: Sport, Musik und Kunst. 1937 feierten Paul und Heinz ihre Bar Mitzvah gemeinsam mit Familienmitgliedern, die aus Deutschland, Holland, und Belgien gekommen waren. Es war das letzte große Familientreffen in Stuttgart.

Im Sommer 1938 wurde Fritz von seinem Arbeitgeber entlassen, weil die Firma von Nationalsozialisten übernommen wurde. Er konnte unbezahlte Arbeit in einer anderen Textilfirma in Stuttgart-Ost finden. Einige Monate später wurden die Zwillinge Paul und Heinz Zeugen des Brandanschlags auf die Stuttgarter Synagoge während der November-Pogrome. Die Synagoge brannte vollständig aus. Zusammen mit anderen jüdischen Männern wurde der Vater in das Konzentrationslager in Dachau gebracht. Er wurde erst entlassen, nachdem er eine Erklärung unterzeichnet hatte, dass er seine Söhne außer Landes schicken werde. Es gelang Vater Felix, überteuerte Bahnfahrkarten in der dritten Klasse für einen Kindertransport von Stuttgart nach Holland über die Reichsvertretung der Juden in Deutschland zu ergattern. Vater Felix begleitete Fritz, Paul und Heinz im Dezember 1938 zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Es war das letzte Mal, dass sie zusammen waren.

Die drei Brüder wurden in Nijmegen in einem Flüchtlingslager für Kinder interniert. Es gelang ihrem Vater, für die Zwillinge Paul und Heinz Bahnfahrkarten für die Weiterreise nach England zu besorgen, wo sie am 7. Juni 1939 ankamen. Fritz konnte eine Schiffsfahrkarte für eines der letzten Passagierschiffe von Holland in die Vereinigten Staaten kaufen. Es verließ Rotterdam am 28. November 1939.

Fritz Albert Sontheimer / Frederick (Fred) Albert Sutton

Fritz erreicht New York am 5. Dezember 1939. Henry Sontheimer, ein Cousin seines Vaters, der sich in den 1900er Jahren in New York niedergelassen hatte, unterstützte Fritz anfangs in New York. Nur wenige Monate später, im Frühjahr 1940, wurde Fritz amerikanischer Staatsbürger und änderte seinen Namen zu Frederick Albert Sutton.

Fred zog nach Houston, Texas, und arbeitete als Verkäufer für ein Möbelgeschäft. Als er 1942 in die Armee eingezogen wurde, diente er in der 96th Division 38th Infantry, die im Südpazifik, in den Philippinen und in Japan kämpfte und die unter dem Kommando von General Douglas MacArthur stand. Für seine Dienste wurde Fred mit der Bronze Star Medaille ausgezeichnet.

Während des Kriegs war es schwierig, mit den Verwandten Kontakt zu halten, die in Deutschland häufig umziehen mussten oder denen es gelungen war, in andere Länder zu fliehen. Die Neuigkeiten, die Fred von seinem Vater Felix und seiner Großmutter Pauline  (1854-1942) erhielt, gelangten über Mitglieder der Großfamilie in Spanien zu ihm nach Houston. Nach Möglichkeit gab er die Neuigkeiten an seine Brüder in England weiter.

Nach seiner Rückkehr nach New York 1946 arbeitete Fred in verschiedenen Warenhäusern. 1947 zog er nach Terre Haute, Indiana, wo er eine Stelle als Verkäufer annahm, und ließ sich dauerhaft dort nieder. Hier traf und heiratete Fred Virginia geborene Batt im Jahr 1949. Im selben Jahr wurde die gemeinsame Tochter Florence geboren. Sie trennten sich jedoch. 1968 heiratete Fred Rosemary geborene Adams.

1950 gründete Fred seine eigene Firma, die Sutton Insurance Agency. Fred engagierte sich auf verschiedene Weise in Terre Haute: beispielsweise war er gewählter Schatzmeister der Terre Haute Independent Insurance Agents. Er erhielt vom Governor of Indiana die Auszeichnung Sagamore of the Wabash für seine Dienste für den Staat Indiana. Einige Jahre lang war Fred der Vize-Präsident des Terre Haute German Oberlandler Club, einem Verein, der seit 1967 deutsche Kultur pflegt.

Fred Albert Sutton, früher Fritz Albert Sontheimer, starb am 10. September 2005 in Terre Haute, Indiana.

Die Zwillinge Paul Felix Sontheimer / Paul Felix Sutton
und Heinz Robert Sontheimer / Henry Robert Sutton

Die Zwillinge Paul und Heinz erreichten den Bahnhof Euston Station in London am 7. Juni 1939. Dort hätten sie von einer Familie aus Hull abgeholt und aufgenommen werden sollen. Die beiden Vierzehnjährigen warteten jedoch vergeblich. Eine Mitarbeiterin des „Movement for the Care of Children from Germany“ nahm sie schließlich mit. Die Zwillinge wurden in ein Internat nach Ipswich geschickt.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die Zwillinge von einem Arbeitgeber aus Wellingborough angeworben und eingelernt. Die Firma stellte Stiefel für die britische Armee her. Die beiden zogen oft um, blieben aber immer zusammen. Dann wechselten sie nach Leicester zur Brevitts Shoe Company und standen unter der Obhut des „Leicester Co-ordinating Committee for Refugees“.

Als die Zwillinge 16 Jahre alt wurden, mussten sie vor einem Sondertribunal erscheinen, weil sie als deutsche Staatsangehörige als potentielle Feinde galten. Zu dem Zeitpunkt hatten sich beide hinreichend etabliert, so dass Briten für sie bürgten. Sie wurden daher in die Kategorie „C“ – „kein Sicherheitsrisiko“ eingestuft.

Im November 1943 meldeten sich Paul und Heinz zur britischen Armee, nachdem sie ihre Namen zu Paul Felix Sutton und zu Henry Robert Sutton geändert hatten, wie schon ihr Bruder Fred einige Jahre zuvor. Im Anschluss an die Grundausbildung wurde Paul mit dem 5th Batallion Wiltshire Regiment nach Deutschland gesandt, Henry mit dem General Service Corps nach Indien. Damit wurden die Zwillinge zum ersten Mal in ihrem Leben voneinander getrennt.

Paul Felix Sontheimer / Paul Felix Sutton
Paul wurde nach der Invasion der Normandie 1944 in die Field Security Section des Intelligence Corps befördert. Pauls Sprachkenntnisse des Deutschen, Englischen und Niederländischen waren sehr willkommen. Mit seinem Regiment rückte er durch Belgien und das Rheinland vor, befreiten das Konzentrationslager Bergen-Belsen und erlebten die Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Feldmarschall Montgomery. Seine Einheit war auch Teil der Anstrengungen, die zur Verhaftung von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach durch amerikanische Truppen führten. Seine Einheit blieb nach dem 8. Mai 1945 in Deutschland und wirkten bei der Entnazifizierung im heutigen Nordrhein-Westfalen mit. Paul war auch als Übersetzer bei den Bergen-Belsen-Prozessen tätig.

Während der Zeit in Deutschland nahm Paul Urlaub, um Stuttgart zu besuchen und nachzuforschen, was seiner Familie widerfahren war. Er fand heraus, dass sein Vater, seine Großmutter, sein Onkel und seine Tante in Theresienstadt und in Treblinka ermordet worden waren.

Nach der Entlassung aus der Armee 1947 trafen sich die Zwillingsbrüder wieder in Leicester, setzten ihre Arbeit in Brevitts Shoe Company fort und besuchten Kurse für Modedesign. Beide beantragten die britische Staatsbürgerschaft und wurden 1947 eingebürgert.

Paul heiratete Eva Erika Ernestine geborene Rosenthal am 25. Juli 1954 in der Synagoge in St John’s Wood, London. Henry war Trauzeuge und Fred kam zur Hochzeit. Paul und Eva ließen sich in Blackburn nieder und bekamen 1958 eine Tochter, Julie Ruth. Dennoch hatten sie das Gefühl, in der englischen Gesellschaft nicht vollständig akzeptiert zu sein. In den 1950er Jahren versuchte Paul, den Familienwohnsitz in der Eduard-Pfeiffer-Straße 43 zurückzuerhalten. Dies scheiterte jedoch.

1956 gründete Paul eine Firma, die modische Damenschuhe herstellte. Henry stieg 1962 ein. Letztlich mussten sie das Geschäft aber aufgeben, und Paul nahm 1967 eine Arbeit in Kanada an. Pauls Frau Eva und Tochter Julie kamen 1968 nach. Paul arbeitete als Designer für mehrere Schuhfirmen in Toronto, und er gewann Preise für seine Designerschuhe, von denen einige nun im Bata Shoe Museum stehen.

1996 nahmen Paul und Eva ihre Erinnerungen für die Shoah Foundation auf. Am Ende seines Interviews sagte Paul: „Es ist ein Jammer, dass die Menschen immer noch nicht aus der Vergangenheit gelernt haben.“

Paul Felix Sutton starb am 16. November 1997 in Toronto. Er wurde nach traditionellem jüdischen Ritus begraben.

Heinz Robert Sontheimer / Henry Robert Sutton
Im Jahr 1943 wurde Henry Teil des General Service Corps in der britischen Armee, das Spezialisten für andere Einheiten zu den Kriegsschauplätzen sandte. Einige Monate später wurde Henry mit dem Leicestershire Regiment nach Britisch-Indien gesandt. 1945 trat er in das Worcestershire Regiment ein. Henry kämpfte im Burma-Feldzug unter Generalmajor Orde Charles Wingate. Er war für neun Monate direkt an der Front. Später wurde Henry der King’s Own Yorkshire Light Infantry zugeordnet und zum Colour Sergeant befördert.

Henry und Paul wurden 1947 aus der Armee entlassen. Beide nahmen die Arbeit in der Brevitts Shoe Company wieder auf und besuchten Kurse für Modedesign. Paul und Henry beantragten die britische Staatsbürgerschaft und wurden 1947 eingebürgert.

Am 11. Oktober 1952 heiratete Henry Elizabeth (Betty) Gladys geborene Clarke. Paul war sein Trauzeuge. Henry und Elizabeth bekamen zwei Söhne, Michael Robert 1955 und Christopher David 1958. Henry verließ Blackburn in den 1960er Jahren und arbeitete in Leicester erfolgreich als Verkäufer bis zu seinem Ruhestand.

Henry verbrachte gerne Zeit mit seinen Söhnen und Enkeln. Er genoss das Leben und hatte einen kleinen Kreis jüdischer Freunde, mit denen er zusammenkam. Henry war ein Gentleman. Ermutigt von Paul ließ Henry 1998 seine Erinnerungen von der Shoah Foundation aufnehmen. Er kehrte mit seinem älteren Sohn auf Einladung der Stadt Stuttgart nach Stuttgart zurück, kurz nachdem seine Frau Betty verstorben war.

Henry Robert Sutton starb am 17. Juni 2006 in Leicester. Als er von seinem Sohn nach Wünschen für die Beerdigung gefragt wurde, sagte er: „Ich kam als Jude, als Jude gehe ich.“ Henry wurde nach reformiertem jüdischem Ritus begraben, auf demselben Friedhof wie seine Frau.

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Seit dem 21. November 2025 wird der drei Brüder Fritz/Fred, Paul/Paul und Heinz/Henry mit drei Stolpersteinen vor der Azenbergstraße 57 gedacht. Dies ist der Ort, von dem aus sie Deutschland verlassen mussten, weshalb ihre Nachfahren diesen Verlegeort gewählt haben.

Text: Margret Frenz, Familie Sutton, für Stolperstein-Initiative Stuttgart-Nord
Photo: privat
Quellen: Landesarchiv Baden-Württemberg (Staatsarchiv Ludwigsburg), Stadtarchiv Stuttgart, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Standesamt Stuttgart, Archiv des Historischen Instituts der Deutschen Bank Frankfurt, Krupp-Stiftung, The National Archives, Library of Congress, Sutton Familienarchiv