Menü Schließen

Ella Ast, Dobelstr. 3

Am 4. August 1932 wurde Ella Ast polizeiärztlich ins Bürgerhospital Stuttgart eingewiesen. Zwei Tage zuvor schrieb der Herz- und Nervenarzt Dr. Koschella, zu dem sie von ihrem Ehemann geschickt wurde, ein fachärztliches Zeugnis: „Frau Ingenieur August Ast, Stuttgart, Dobelstr. 3, ist geisteskrank (Verfolgungswahn mit starken affektiven Reaktionen) … sie ist insbesondere für ihren Mann als gefährlich zu betrachten und bedarf so bald als möglich der Aufnahme in eine geschlossene Anstalt“. Die Ärzte hielten die Krankheit für unheilbar. Zu diesem Zeitpunkt war Ella Ast 60 Jahre alt.

Geboren wurde sie am 27. Juli 1872 in Schwerin (Mecklenburg). Ihre Eltern nannten sie Ella Mathilde Ernestine Cramer. Sie war eines von neun Kindern. Der Vater, ein Schlossermeister, verließ die Familie früh und ließ die Kinder bei der Mutter zurück, die offenbar überfordert war. Sie vernachlässigte und misshandelte die Kinder, so dass das Jugendamt ihr einige von ihnen wegnahm. Ella blieb bei der Mutter. Narben von Verletzungen, die ihr die Mutter beigebracht hatte, waren lebenslang zu sehen, zum Beispiel Narben auf der Brust von einer Schere, die die Mutter nach ihr geworfen hatte oder eine kahle Stelle am Kopf, wo die Mutter ihr die Haare ausgerissen hatte.

Wir wissen viel über Ellas Leben aus den Berichten, die die Ärzte in den psychiatrischen Anstalten protokollierten. Sie war ein lebendiges, fröhliches und sehr intelligentes Kind und lernte sehr gerne und „je nach Lehrer“ mit hervorragenden Ergebnissen. Zuhause musste sie sehr viel helfen, so dass sie keine Zeit hatte, Freundschaften zu schließen. Als sie von zuhause mit 17 Jahren (so früh wie möglich) wegging, wurde ihr von einigen Menschen gesagt, so erzählt sie in ihrem Lebensbericht, „mit deinem Weggang ist die Sonne untergegangen“. Auch die Geschwister trieb es früh von zuhause weg. Zwei Brüder verdingten sich als Matrosen, einer ging nach Afrika und kam dort unter nicht geklärten Umständen um. Eine Schwester war geisteskrank.

Auch nach der Schule, die sie so früh wie möglich verlassen hatte, um selbstständig zu werden, wollte sie immer weiter lernen und verdingte sich deshalb in mehreren Haushalten mit Kindern, um Kochen und Erziehen zu lernen. Einmal wünschte sie sich, dass man ihr eine Birne vom Einkaufen mitbringen würde. Der Herr des Hauses hörte diese Bitte und ließ ihr sofort Birnen und Süßes bringen, mit der Bemerkung, dass er hoffe, sie käme ihm nun auch entgegen. Ellas Argwohn war geweckt und sie verließ die Familie sofort.

Sie arbeitete eine Zeitlang bei ihrer Schwester, die ein Manufakturgeschäft aufgemacht hatte und lernte dort nähen. Sie blieb bei ihr bis zu ihrer Heirat 1896. In dieser Zeit hatte sie sich mit einem Arzt verlobt, zog aber die Verlobungszeit immer mehr in die Länge. Von der Schwiegermutter fühlte sie sich abgelehnt. Diese hatte, als der Verlobte seinen Eltern die Braut vorstellte, heftig ablehnend reagiert, als ihr eigener Mann fröhlich bemerkte, dass Ella Ähnlichkeiten mit seiner früheren Braut hätte. Von da an war besonders Ella aufmerksam auf die Spitzen der Schwiegermutter in spe. Sie entschloss sich die Verlobung aufzulösen. Auch entsprach ihr Verlobter nicht ganz ihren Wünschen an einen männlichen Gefährten.

Sie verlobte sich noch am selben Tag mit ihrem zukünftigen Ehemann Ingenieur August Ast. Die beiden heirateten schon drei Monate später, auch, weil Ella befürchtete, so erzählte sie es ihrem Arzt, dass der frühere Verlobte noch versuchen könnte, sie von dem neuen Partner zu trennen. Das Ehepaar, August war inzwischen Oberingenieur, zog für viereinhalb Jahre nach Hannover bis seine Firma ihn 1901 nach St. Petersburg versetzte. 1905 zogen sie wegen der Arbeit nach Moskau. Ella war mit dem Umzug nach Russland sehr einverstanden, weil sie die politisch revolutionäre Stimmung begrüßte. 1906 hatte sie eine Fehlgeburt. Ihr Mann gab später an, von einer solchen Fehlgeburt nie etwas erfahren zu haben, wie überhaupt die Lebensgeschichte Ellas in den Erzählungen ihres Mannes, eine andere, als die von ihr erlebte, gewesen zu sein scheint. Sie erzählt von der Untreue ihres Mannes und ihren häufigen Ansteckungen mit Geschlechtskrankheiten, er spricht von einer Ehe, in der beide Partner einander treu waren, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Ella den ehelichen Verkehr ablehnte. Beide sprechen davon, dass ihre Ehe zu Beginn für Jahre harmonisch war.

Ella sucht weiter nach Erkenntnismöglichkeiten und dabei war sie auch offen für solche, die den meisten Menschen suspekt waren, z.B. die Astrologie und die Homöopathie. Auch bei den Ärzten in den verschiedenen Heilanstalten, stößt sie damit auf Misstrauen. In den ersten Untersuchungen im Stuttgarter Bürgerhospital versucht ihr Arzt zu verstehen, wie weit ihre Kenntnisse in diesen Bereichen auf dem Boden der jeweiligen Wissenschaft stehen und schickt mehrere Horoskope, die er die Patientin für Mitpatienten machen lässt an eine astrologische Kapazität Prof. Dr. Gerhard Naumann in Wurzen. Er antwortete, dass die Horoskope, die Frau Ella Ast ohne die gewohnten Hilfsmittel erstellt hätte, „geradezu eine Leistung“ seien. „Die Berechnungen stimmen alle, auch die Deutungen sind meist durchaus treffend.“

In den vielen Jahren, die Ella Ast in den psychiatrischen Heilanstalten verbringen musste, wurde sie immer wieder durch ihre Ärzte befragt und beurteilt. Sie sprachen alle von einer heiteren zugewandten, hilfsbereiten, tüchtigen, zupackenden, kreativen Person, die sich ab und zu in Wahnideen verlor und die sie verdüsterten, in denen sie sich verfolgt fühlte und sich vor der Verfolgung mit phantastischen Mitteln schützen wollte. Sie malte viel, war stolz auf ihre Malerei und hatte den Plan, wenn sie endlich aus der Heilanstalt entlassen würde, als Künstlerin zu leben.

Zuerst kam sie vom Stuttgarter Bürgerhospital am 28. September 1932 nach Göppingen und von dort wurde sie am 23. Mai 1933 in die Heilanstalt Weissenau aufgenommen. Bis zu ihrem Todestag blieb sie dort. Am 24. Mai 1940 wird sie in die Vernichtungsanstalt Grafeneck gebracht und am selben Tag im Gas ermordet.

Recherche und Text: Barbara Heuss-Czisch und Jennifer Lauxmann-Stöhr, Stolperstein-Initiative Stuttgart-Mitte

Quellen:
Elke Martin (Hrsg.): Verlegt. Krankenmorde 1940/41 am Beispiel der Region Stuttgart. Stuttgart: Verlag Peter Grohmann 2011.
Stadtarchiv Stuttgart, Standesamt Stuttgart, Bürgerhospital Stuttgart, Bundesarchiv Berlin: Personalakte Weissenau