Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Theresa Schäfer 24.11.2025 – 11:01 Uhr 
Die Familie Sutton vor dem Haus, in dem ihre Väter (rechts) zuletzt in Stuttgart wohnten: Michael (links), Christopher und Julie Sutton (Mitte) nach der Stolperstein-Verlegung. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Die Nazis nahmen den Sontheimers alles. Zur Stolperstein-Verlegung kommen aus Kanada und Großbritannien die Kinder der Brüder, die sich in letzter Minute ins Ausland retten konnten.
Ein eisiger Freitagmorgen in der Eduard-Pfeiffer-Straße. Die Gruppe, die sich vor dem Haus mit der Nummer 43 versammelt hat, ist ganz still, als Gunter Demnig zwei Stolpersteine in die vorbereiteten Löcher im Gehweg setzt. Sie sind für Pauline und Felix Sali Sontheimer. Als der Künstler fertig ist, legen Julie, Michael und Christopher Sutton, Felix’ Enkelkinder, auf den Steinen Rosen ab. Wenig später verlegt Demnig ein paar hundert Meter weiter, in der Azenbergstraße 57, drei weitere Gedenksteine: Sie sind für Fritz und die Zwillinge Paul und Heinz, die Väter der Suttons. Schüler des Ebelu spielen „Yesterday“ – die Sontheimer-Brüder liebten die Beatles.
In der Weimarer Republik habe die Familie Sontheimer zur feinen Stuttgarter Gesellschaft gehört, sagt Margret Frenz. Die promovierte Historikerin hat für die Stuttgarter Stolperstein-Initiativen ehrenamtlich das Schicksal der Familie recherchiert. „Viele kleine Puzzlesteine“ hat sie dafür aus verschiedenen Archiven zusammengetragen. Felix Sali Sontheimer, der im Ersten Weltkrieg in der Armee diente, ist der stellvertretende Direktor der Württembergischen Vereinsbank und behält diesen Posten auch, als das Geldhaus 1924 von der Deutschen Bank übernommen wird. Verheiratet ist er mit einer eleganten Niederländerin: Roosje Prins, eine Sopranistin aus Rotterdam. Sie geht regelmäßig auf Konzertreisen, auch als sie Mutter wird – Fritz kommt 1920 zur Welt, 1924 folgen die Zwillingsbuben Paul und Heinz.

Heinz, Paul und Fritz Sontheimer (von links), circa 1926 Foto: privat
„Ein Zuhause, gefüllt mit Liebe, Respekt und jüdischen Traditionen“
Die Sontheimers leben in einem stattlichen Haus in der Eduard-Pfeiffer-Straße, das im Krieg zerstört wurde und heute nicht mehr existiert. Die Eltern sind sich innig zugetan und schaffen „ein Zuhause, gefüllt mit Liebe, Respekt und jüdischen Traditionen“, sagt Julie Sutton, Roosjes und Felix’ Enkelin. Die Sontheimers laden zu Abendgesellschaften in die Stuttgarter Halbhöhe, Felix engagiert sich im Leitungskomitee der jüdischen Gemeinde, Roosje singt an Feiertagen in der Synagoge.
Doch schon 1932 wendet sich das Schicksal der Familie: Felix wird von der Deutschen Bank in den Ruhestand gedrängt. Er macht sich als Wirtschaftsberater selbstständig, doch als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen, wird er gezwungen, sein Büro zu schließen. Sein Haus muss er zu einem Spottpreis verkaufen. Die Familie zieht in eine viel kleinere Wohnung in der Hegelstraße um.
Der Witwer zieht drei Jungen allein groß
1935 trifft die Familie ein schwerer Schicksalsschlag: Roosje stirbt an Nierenversagen. „Mit ihrem Tod verstummte die Musik“, pflegten ihre Söhne später zu sagen. Einmal die Woche geht Felix mit seinen Söhnen zu Roosjes Grab auf dem Pragfriedhof. Der Witwer tut sein Bestes, die drei Jungen allein großzuziehen – unterstützt von seiner Mutter Pauline.

Pauline Sontheimer und ihr Sohn Felix Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg; StAL F 215 Bü 45-117/Deutsche Bank AG, Historisches Institut
Die Nationalsozialisten machen der jüdischen Familie das Leben immer schwerer: Die Sontheimers müssen ein zweites Mal umziehen, nun in die Azenbergstraße. 1936 müssen die Zwillinge Paul und Heinz das Dillmann-Gymnasium verlassen und auf eine jüdische Schule gehen. Fritz hat seinen Schulabschluss da schon gemacht und eine Ausbildung begonnen. 1938 verliert Fritz seine Stelle, weil er Jude ist. Sport, Musik, Kunst – alles, was Fritz, Paul und Heinz Spaß macht, ist jüdischen Jugendlichen in Nazideutschland verwehrt.
Felix bringt seine Söhne in einem Kindertransport unter
Nach den November-Pogromen 1938 wird Felix Sontheimer ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Erst als er eine eidesstattliche Erklärung unterschreibt, dass er seine drei Söhne ins Ausland schicken wird, darf er nach Stuttgart zurückkehren. Felix setzt alles daran, seine drei Buben mit einem der „Kindertransporte“ aus Nazideutschland herauszubringen. Während eines ganz kleinen Zeitfensters 1938/39 kommen so rund 10.000 jüdische Kinder und Jugendliche ins rettende Ausland, meist nach England. Noch in den letzten Tagen des Jahres 1938 setzt Felix Fritz, Paul und Heinz am Hauptbahnhof in den Zug Richtung Niederlande. Für die drei Tickets hat der Vater horrende Summen bezahlt. Dass es ein Abschied für immer sein wird, wissen die Sontheimers da noch nicht. „Es ist der Weitsicht unseres Großvaters zu verdanken, dass unsere Väter gerettet wurden“, sagt Julie Sutton.
Zusammen mit seiner Mutter Pauline wird Felix gezwungen, in ein sogenanntes „Judenhaus“ in der Hasenbergsteige zu ziehen. Ihre Möbel müssen sie zurücklassen, ihre Wertgegenstände abgeben. Im März 1942 werden Mutter und Sohn in ein jüdisches Zwangsaltersheim bei Ulm umgesiedelt. Nur wenige Monate später – Pauline ist inzwischen 88 Jahre alt – bekommen die Sontheimers wie tausende Juden aus ganz Württemberg den Befehl, sich am Stuttgarter Nordbahnhof einzufinden. Felix schreibt eine letzte Postkarte, datiert auf den 22. August 1942. Darauf stehen drei Worte: „Leben Sie wohl!“ Es ist sein letztes Lebenszeichen. Am selben Tag werden die Sontheimers ins Lager Theresienstadt deportiert. Pauline stirbt am 20. November 1942, ihr Sohn Felix wenige Monate später am 2. März 1943.
Die Stolpersteine für Pauline und Felix Sontheimer Foto: StZN/Schäfer
In den 1990er Jahren besuchten Henry und Paul Stuttgart
Ein Trost für Felix war, seine drei Söhne in Sicherheit zu wissen. Die Zwillinge Heinz und Paul landen in Großbritannien, ihr älterer Bruder Fritz schlägt sich in die USA durch. Alle drei kämpfen später für die Alliierten. Pauls Regiment befreit das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Während seiner Stationierung in Deutschland fährt Paul auch nach Stuttgart. Dort steht er vor der Ruine seines früheren Zuhauses in der Eduard-Pfeiffer-Straße und muss erfahren, dass sein Vater und seine Großmutter von den Nationalsozialisten ermordet wurden. In den 1950er Jahren scheitert Pauls Versuch, den Familienwohnsitz im Stuttgarter Norden zurückzuerhalten. Alle drei Brüder, die sich später Fred, Henry und Paul Sutton nennen, heiraten, werden Väter und sind erfolgreich im Beruf. Paul stirbt 1997, Fred 2005, Henry ein Jahr später. Wenige Jahre zuvor hatten sowohl Paul als auch Henry auf Einladung der Stadt Stuttgart besucht. „Es war schmerzhaft für meinen Vater hier zu sein“, sagt Michael Sutton, der seinen Vater Henry damals begleitete. „In der Synagoge wurde er gefragt, ob er aus der Thora lesen möchte – er konnte es nicht.“
Zum 100. Geburtstag der Zwillinge waren ihre Kinder, die in Kanada und Großbritannien leben, 2024 in Stuttgart und knüpften Kontakt zu den Stolperstein-Initiativen. „Für unsere Familie ist die Verlegung heute ein Abschluss“, sagt Christopher Sutton. „Diese Steine erinnern daran, was unsere Väter als Kinder durchmachen mussten. Als 14-Jährige von ihrem Vater getrennt zu werden, muss unglaublich hart gewesen sein.“ Pauline und Felix Sontheimer haben kein Grab, das die Familie besuchen könnte. „Hier können wir ihrer jetzt gedenken. Hierher können wir zurückkehren.“
Besuchsprogramm – wäre eine Neuauflage denkbar?
Programm bis 2001: Auf Einladung der Stadt kamen zwischen 1983 und 2001 rund 1300 ehemalige Stuttgarterinnen und Stuttgarter und ihre Angehörigen in ihre alte Heimatstadt. 2001 endete das Besuchsprogramm. Wenn heute Verwandte von NS-Opfern kommen, organisieren die Stolperstein-Initiativen das selbst. „Die Angehörigen kommen auf eigene Kosten“, sagt Werner Schmidt, einer der Koordinatoren der Stuttgarter Initiativen. Dort würde man sich wünschen, die Stadt würde über eine Form der Unterstützung nachdenken, zum Beispiel einen Reisekostenzuschuss.
Neuauflage? Auch beim Kulturamt hält man eine „neue Betrachtung dieses Programms für die nachfolgenden Generationen“ grundsätzlich für „wünschenswert und diskussionswürdig“. Dann verweist das Amt auf die angespannte Haushaltslage. Erst wenn der Doppelhaushalt am 19. Dezember verabschiedet sei, „lässt sich absehen, welche Möglichkeiten die Stadt hat.“
Geschichtsmagazin
In Zusammenarbeit mit den Stolperstein-Initiativen hat unsere Redaktion ein Jahr lang Porträts von NS-Opfern aus Stuttgart veröffentlicht. Das Magazin „Stuttgarter Stolpersteine“ enthält eine Auswahl von 24 dieser bewegenden Lebensgeschichten. Es ist in Buchhandlungen sowie an Kiosken für den Preis von 14,90 Euro erhältlich. Erworben werden kann es auch in unserem Online-Shop unter: www.shop711.de



