„Oh Herr Doktor. Lassen Sie me doch hoim“, soll Martha Leiss bei jeder Visite im Bürgerhospital wiederholt haben. Dort ist sie am 26. Juli 1935 eingewiesen worden mit der Diagnose Schizophrenie, vermutlich ausgelöst durch eine Totgeburt im Jahr 1934.
Schon ihre Geburt am 12. Februar 1901 stand unter keinem guten Vorzeichen. Der Vater, Ernst Klumpp, der bekannte Löwenwirt von Degerloch, stirbt 3 Monate zuvor im Alter von 28 Jahren bei einem „entsetzlichen Familiendrama“ mit seinem Bruder Herrmann Klumpp.
Martha wächst bei den Großeltern in Heslach auf, geht dort zur Volksschule und besucht eine Nähschule. Von ihrem 14. Lebensjahr bis zur Heirat hilft sie im Haushalt. 1922 heiratet sie den Maschinenmeister Hugo Leiss und wird Hausfrau. Es geht ihnen gut. Sie wohnen in der Frauenstr. 17, im Haus der Großmutter. 1934 dann die Totgeburt. Sie leidet zunehmend unter Wahn- und Verfolgungsvorstellungen.
Im Juli 1935 erfolgt die Einweisung ins Bürgerhospital. Über Heil- bzw. Behandlungsmethoden ist nichts bekannt. „Gleiches Zustandsbild“ heißt es in regelmäßigen Abständen. Doch das ändert sich im August. Es beginnt eine dramatische Wendung. Aufgrund der Prognose, dass sich ihr Zustand nicht ändere und eine Entlassung nach Hause nicht angebracht erscheine, „wird die Patientin heute in die Anstalt abgemeldet“. Am 9. September 1935 ist es soweit. Aktenvermerk des Bürgerhospitals an das Gesundheitsamt: „Martha Leiss wird heute in unverändertem Zustand nach Weissenau überführt.“
In der Heilanstalt Weissenau wird Martha Leiss fünf Jahre lang auf verschiedenen Stationen leben mit kurzen Einsätzen in der Nähstube und Bügelstube. Über Behandlungsmethoden ist nichts bekannt. Auch hier äußert sie bei jeder Visite den Wunsch, man möge sie nach Hause entlassen. Auf die Erwiderung der Ärzte, davor müsse sie erst mal regelmäßig arbeiten „zieht sie sich zurück“.
1937 beantragt ihr Ehemann die Scheidung, die 1938 vollzogen wird. Im März 1940 wird Martha Leiss verlegt, „wegen Benötigung ihres Platzes“.
Im Januar 1940 beginnen im ganzen Reich die Maßnahmen zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Ausschlaggebende Kriterien sind „Rasse“, Hospitalisierung von mehr als fünf Jahren und Arbeitsfähigkeit.
Auch nach Weissenau kommen die Busse zur Todesfahrt nach Grafeneck. Vom 20. Mai bis 5. Dezember 1940 gibt es 10 Transporte mit 677 Menschen.
Martha Leiss wird mit dem zweiten Transport am 24. Mai 1940 mit 67 anderen weiblichen Patienten nach Grafeneck in die Gaskammer geschickt. Sie ist gerade einmal 39 Jahre alt geworden.
Am 21. November 2025 wird in der Frauenstraße 17 ein Stolperstein für Martha Leiss verlegt.
Recherche und Text: Elisabeth Tielsch-Saur, Stolperstein-Initiative Stuttgart Süd
Quellen:
Kretschmer, Manfred: Die Heilanstalt Weißenau 1933-1945. In: Peter Etel (Hg.): Ravensburg im Dritten Reich. Beiträge zur Geschichte der Stadt. Ravensburg: Oberschwäbische Verlagsanstalt, 2. Auflage 1998, S. 361-378.
Bundesarchiv Berlin: Akte R 179/24603 Leiss, Marta
Staatsarchiv Ludwigsburg: Bestand F 235 III Büschel 492 über Sofie Karoline Martha Leiss, geb. 12.2.1901 in Degerloch
Stadtarchiv Stuttgart
Akten aus dem Bürgerhospital: Bestand 251/1, Martha Leiss
Adressbücher der Stadt Stuttgart 1901-1940
Straßenverzeichnis Degerloch 1900
Personenregister der Stadt Stuttgart
Standesamt Stuttgart: Auszug Nr. 3398 vom 8.12.1900
Standesamt Degerloch: Auszug Nr. 10 vom 14.2.1901
Filderbote, 7.12.1900
Neues Tagblatt, 7.12. 1900
Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg, 7.12.1900
Bild Martha Leiss, Akte Bürgerhospital



