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Klara, Jenny und Isidor Lemberger, Maria und Anna Scheck, Urbanstr. 33

Flucht, Mord und ein Herz am rechten Fleck –
Eine kurze Geschichte vom Sterben und Überleben in der Stuttgarter Familie Lemberger

Notiert von Andreas Langen im Herbst 2023 anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen für
Isidor Lemberger (*1875 Schwäbisch Gmünd, + 1944 Auschwitz), Jeanette „Jenny“ Lemberger geb. Deucht (*1876 Neu-Pest/Ungarn, + 1944 Auschwitz) und ihre Töchter Maria (*1905, Neu Pest/Ungarn), Anna „Anni“ (*1906, Ravensburg) und Klara „Kläre“ (*1907, Esslingen) am 06. November 2023 in der Urbanstraße 33, Stuttgart-Mitte.

Im österreichisch-ungarischen Budapest war der 9. August 1903 ein warmer, trockner Sommertag, und auch die Nacht blieb ausgesprochen mild. Es könnte gut sein, dass die frisch Vermählten Isidor und Jenny Lemberger an diesem Tag noch lange feierten, nachdem sie in der Metropole an der Donau geheiratet hatten. Der schwäbische Kaufmann und die einheimische Tochter eines Fuhrunternehmers bleiben jedenfalls zunächst in Budapest, wo Anfang Januar 1905 auch ihre Tochter Maria zur Welt kommt. Kurz darauf zieht die junge Familie um, Richtung Isidors Heimat. Im oberschwäbischen Ravensburg erblickt Mitte Juli 1907 Tochter Maria das Licht der Welt; Isidor führt hier in der Burgstraße 2 ein Bekleidungsgeschäft. Auch dieser Lebensmittelpunkt ist nicht von langer Dauer. Als Nesthäkchen Klara, genannt Kläre, im November 1907 geboren wird, wohnen die Lembergers in Esslingen am Neckar. Erst in Stuttgart lassen sie sich dauerhaft nieder; dorthin siedeln die nunmehr fünf Lembergers im April 1911 um. In den Adressbüchern der Stadt ist Isidor 1912 mit einem „Reklamebureau“ in der Senefelder Straße 78b verzeichnet, 1914 als Kaufmann und Inhaber von Lemberger&Co in der Militärstraße 82, und ab 1920 in der Urbanstraße 33. Die dortige Wohnung im zweiten Stock sollte die Heimat der Familie werden. Hier wachsen die Töchter auf und Mutter Jenny bleibt, bis die NS-Verfolgung sie im September 1939 zwingt, in ein Altersheim nach Herrlingen umzuziehen.

Doch schon lange bevor es soweit kommt, hat die Familie einiges durchzustehen. Da ist vor allem das plötzliche Verschwinden von Isidor im November 1932. Seine Gründe, Frau und Kinder ohne Erklärung zurückzulassen, werden wohl im Dunkel bleiben. Die wenigen Dokumente aus dem frühen Familienleben geben keine Hinweise, im Gegenteil: Relativ häufig war die junge Familie beim Fotografen und hat das nicht ganz billige Vergnügen ausgekostet, im besten Sonntags-Staat zu posieren. Die reizenden drei Mädchen auf diesen Bildern machen es eher noch rätselhafter, dass ihr Vater das Weite suchte.

Erst bei den Recherchen im Zuge der Stolperstein-Verlegung hat Klaus Maier-Rubner aus Göppingen einige karge, aber dramatische Fakten zutage gefördert: Isidor Lemberger wird am 5. Dezember 1941 im heute tschechischen Reichenberg verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Dort nimmt die SS ihn unter der Nummer 23732 in die Häftlingskartei auf. Drei erkennungsdienstliche Fotos zeigen Isidor im gestreiften Drillich und mit kahl geschorenem Kopf, ausdruckslos starrt er in die Kamera. Wenige Tage später, am 11. Dezember 1941, wird Isidor Lemberger in Auschwitz ermordet.

Als er 1932 aus Stuttgart verschwindet, sind seine Töchter bereits erwachsene Frauen. Maria, die älteste, hat sich auf die Herstellung von Reklamedrucksachen spezialisiert; im Sommer 1933 heiratet sie den Stuttgarter Adolf Gustav Schäfer. In den Begriffen des NS ist Schäfer „Arier“, seine Ehefrau Maria als Tochter jüdischer Eltern erhält den Status einer „privilegierten Mischehe“ – damit bleibt sie vorerst von den schlimmsten Verfolgungen verschont. 1943 bekommen Maria und Adolf Schäfer ihr einziges Kind, den Sohn Rainer. Mitte Februar 1945 schützt Maria der Status als Ehefrau eines nicht-jüdischen Deutschen nicht mehr, sie wird verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt ist der Krieg längst verloren, die Alliierten haben die deutschen Grenzen überschritten, aber im Land läuft die Terrormaschinerie weiter. Maria Schäfer wird mit dem Transportzug XIII / 7 ins KZ Theresienstadt deportiert, am 18. Februar beginnt ihre dortige Zwangsarbeit. Am 5. Mai übergibt die SS dem Roten Kreuz die Verantwortung für das Lager, am 8. Mai 1945 erreicht die Rote Armee Theresienstadt. Maria hat Krieg und Verfolgung überlebt.

Ihr jüngste Schwester Klara, genannt Kläre, hatte es mit dem Vater Isidor nicht immer leicht. Er verbot ihr jegliche Berufstätigkeit, so dass sie die Volljährigkeit abwarten musste; damals das 21. Lebensjahr, das sie im November 1928 erreicht. Dann besucht Kläre die Handelsschule Zimmermann in Stuttgart, besteht die Prüfung zur Sekretärin und findet nach kurzem Suchen eine interessante Stelle beim Süddeutschen Rundfunk: Ab 1930 baut sie dort das Schallplattenarchiv auf. Anfang 1933 verspricht ihr Chef eine Beförderung, doch als Kläre nach einem kurzen Urlaub im März an die Arbeitsstelle zurückkommt, wird sie erst beurlaubt und bald darauf entlassen. Zwar ist Kläre Lemberger bekannt als integre und politisch neutrale Kollegin, aber dass ihre Eltern der Papierform nach Juden sind, reicht für die Kündigung.
Ähnlich ergeht es Kläres Vorgesetztem Josef Eberle, nach dem Krieg Herausgeber der „Stuttgarter Zeitung“. Mit ihm verbindet sie eine tiefe Freundschaft, denn Eberles Ehefrau ist Jüdin, er deswegen nach NS-Maßstäben untragbar im Rundfunk. Auch der spätere Ministerialrat Wolf Donndorf, verheiratet mit einer Jüdin, zählte zeitlebens zu Kläre Lembergers Freunden. Eberle und Donndorf helfen ihr in rechtlichen Angelegenheiten, doch Kläres Alltag wird immer prekärer. Sie schlägt sich mit schlecht bezahlten Stellen durch, unterstützt dennoch nach Kräften ihre alleinstehende Mutter Jenny, und entkommt im letzten Moment der NS-Verfolgung: Im Juli 1939 erreicht Kläre Lemberger per Schiff Großbritannien. Zu ihrem ersten Geburtstag im einsamen Winter 1939 schriebt ihr Schwager Erwin, der Ehemann ihrer Schwester Anni, einen herzzerreißenden Brief.

„Liebes Klärle!
Du feierst in Kurzem Geburtstag. Deinen ersten wohl ohne die bisher unvermeidliche Tafel mit illustren Gästen. Ich kann mir aber denken, dass du, die du doch schon ein wenig gelernt hast, wenn es nötig ist, auch andere Wege als die bisher üblichen zu gehen, Dir zu helfen weisst. Ich schlage dir daher vor, eine Geburtstagstafel in Gedanken aufzumachen. Tür abschließen, Dein Kämmerchen sauber aufräumen, frisches Tischtuch auflegen, einen Blumenstraß darauf! Und nun versammle Deine Gäste um dich! Deine Gäste, und nur die, die du um dich haben willst! (…) Wenn du jetzt noch ein wenig Platz an deinem Geburtstagstisch hast, lass auch uns noch ein wenig dazusitzen. Und wenn du einmal gerade zu uns herüberguckst, sagen wir Dir, dass es uns gut geht. (…) Wir wünschen Dir die Gunst des Schicksals und Kraft zum Durchhalten. Auf Wiedersehen! – Dein Erwin.“

Kläres Londoner Alltag bleibt mühsam, sie verrichtet zeitlebens Hilfsarbeiten bei bescheidenem Lohn; mehr ist von ihren Lebensumständen nicht überliefert.

Abb. Foto Kläre auf Brücke.
Dieses Foto schickt Kläre Lemberger aus London vermutlich an ihren Schwester Anni nach Stuttgart.

Auf die Rückseite hat Kläre mit Bleistift geschrieben: „Frohes Weihnachten + alles Gute für 1949, Eure Kläre“.

Nach dem Krieg führt Kläre, wie Abertausende Überlebende und Nachkommen von Ermordeten, ein so genanntes „Wiedergutmachungs-Verfahren“ mit der Bundesrepublik Deutschland. Dieser bürokratische Hindernislauf ist so beschämend wie typisch.

Ein ihren Unterlagen erhaltener Brief schätzt dem Umfang ihrer Ansprüche wegen der Kündigung beim Rundfunk und die folgende Erwerbsbiografie in lebenslang unterqualifizierter Stellung auf cirka 40.000 DM. Tatsächlich erhält sie rund ein Zehntel davon: Anfang der 1960er Jahre gesteht ihr die BRD 4.473,- DM „wegen Schadens im beruflichen Fortkommen“ zu. Für die als „Auswanderung“ verharmloste Flucht kommen sage und schreibe 48,-DM dazu, und aus dem Erbe ihrer ein Auschwitz ermordeten Mutter 1.398,- DM – also insgesamt 5.919 DM. Dafür verlangen Kläres Stuttgarter Anwälte 1.663,- DM Honorar – die letzte Rate davon kann Kläre nicht aufbringen, ebenso wenig weitere Honorare für das Einlegen von Widerspruch. So wird der knausrige Bescheid rechtsgültig.
Als weiteren Schritt beantragt Kläre einen „Härteausgleich“. Den aber lehnt das Justizministerium Baden-Württemberg im Dezember 1961 ab. Im Schreiben heißt es: „Der erlittene Berufsschaden und der durch die Kosten der Auswanderung entstandene Schaden muss als ausgeglichen angesehen werden. (…) Die Voraussetzungen zur Bewilligung eines Härteausgleichs sind nicht erfüllt. Mit Rücksicht auf das schwere Verfolgungs- und Emigrantenschicksal der Antragstellerin wird aber eine einmalige Beihilfe in Höhe von 1000 DM bewilligt.“

Von ihrem früheren Arbeitgeber erhält Kläre Lemberger eine bescheidene Entschädigung. Der Süddeutsche Rundfunk unterstützt sie einige Jahre lang, der genaue Zeitraum ist nicht bekannt. Erhalten ist ein knallgelber Luftpostbrief, in Stuttgart abgestempelt am 8.2.1990. Darin teilt ihr der Verwaltungsdirektor mit, dass sie aus dem Künstlerfonds des Süddeutschen Rundfunks 1.200,- DM bekommt. Das Schreiben endet: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich bis Dezember d.J. über evtl. Veränderungen unterrichten würden, damit Anfang 1991 die Zuweisungen des kommenden Jahres erfolgen können.“ Dazu kommt es nicht mehr – Kläre Lemberger stirbt noch im selben Jahr.

Zurück in die Vorkriegszeit. Familienmutter Jenny Lemberger ist eine selbstbewusste, tatkräftige und lebenslustige Frau – das bezeugen nicht nur die Erinnerungen ihrer Nachfahren, sondern auch Fotos aus jener Zeit. Porträt-Aufnahmen von Jenny Lemberger zeigen eine aufrechte Person, stets gepflegt und mit einem Hauch von Schalk im Blick.

Dazu passt, dass ihre drei Töchter aktive Mitglieder in der Stuttgarter Karnevals-Gesellschaft „Möbelwagen“ sind; eine ganze Foto-Serie zeigt sie als junge Frauen karnevalesk kostümiert.

Jenny ist bereits Mitte 50, als ihr Mann sie 1932 plötzlich verlässt. Auch danach bleibt sie im zweiten Stock der Urbanstraße 33 wohnen, über der historischen Gaststätte „Zum Becher“, die bis heute im originalen Gründerzeit-Gebäude existiert. Ihre Töchter unterstützen sie, können aber die Verfolgung durch das NS-System nicht verhindern. Im September 1939 muss Jenny ihre Wohnung räumen, kommt kurz im Haushalt ihrer Tochter Anni unter, und muss dann in ein Altersheim nach Herrlingen umziehen.

In Briefen an ihre nach London geflohene Tochter Kläre bemüht sich Jenny um einen positiven Ton, berichtet vom erfolgreichen Verkauf ihrer Möbel, den Besuchen durch Anni. Deren Ehemann Erwin Scheck schreibt ebenfalls an Kläre. Auch er betont, das sich Jenny „ausgezeichnet an die Umstände angepasst“ habe, schildert die schöne Lage des Herrlinger Hauses am Waldrand und „dass es absolut nichts Kaserniertes an sich hat“. Anders gesagt: Kasernierung war das, womit man zu rechnen hatte. In dieser Hinsicht war Jennys Quartier ein letzter Aufschub: Das Haus liegt tatsächlich sehr schön, es war seit den 1910er Jahren erst Kinderheim, später reformpädagogische Schule und Landschulheim (zum Lauf der Dinge gehört, dass 1943/44 im selben Anwesen Generalfeldmarschall Erwin Rommel lebte, bis zu seinem erzwungenen Suizid; und ebendort im November 1947 die Schriftsteller der „Gruppe 47“ tagten). Jenny Lebensumstände in Herrlingen waren noch einigermaßen erträglich, aber nicht gut: Sie wurde, wie auch andere Bewohner des Heims, bei Fußwegen in der Umgebung von Jugendlichen aus dem Dorf beschimpft, bedrängt und mit Steinen beworfen. Aber es kommt noch schlimmer. Im Juni 1942 wird Jenny verlegt ins Schloss Oberstotzingen – ein trotz seines herrschaftlichen Namens erbärmlich baufälliges und stark überbelegtes Gebäude, wo sie mit drei Leidensgenossinnen ein Zimmer teilen muss. Die Zwangsumsiedlungen im ländlichen Raum dienten dazu, soziale Bindungen zu kappen und die vereinzelten Opfer unauffällig zu deportieren. So still wie geplant verlief es aber nicht, als die Senioren bald darauf – unter falschen Versprechungen guter Wohnverhältnisse im nächsten Quartier – auch aus Oberstotzingen abtransportiert wurden. Die NS-Behörden hatten den Abtransport im Dunkel der Nacht angesetzt, aber der Oberstotzinger Ortvorsteher Joseph Groll erinnerte sich noch nach mehr als 50 Jahren an diese Nacht: „Das Jammern und Wehklagen ging mir durch Mark und Bein. Noch heute habe ich das Schreien der alten Leute in den Ohren.“

Jenny Lemberger wird im August 1942 zusammen mit anderen Insassen des Zwangsquartiers Oberstotzingen nach Stuttgart gebracht, wo die NS-Verwaltung tausende Jüdinnen und Juden in den Messehallen am Killesberg zusammentreibt. Dort begegnet Jenny ihrer Familie ein letztes Mal: Ihre Enkel-Buben Werner (*1929) und Gerhard (*1936) wuseln umher, die zur Deportation bestimmten Leute schenken Werner Taschenmesser, die sie nicht mitnehmen dürfen. Im Gegenzug verteilen die Jungs den Wartenden kleine hölzerne Schaber, mit denen man notdürftig Brote schmieren kann. Ihr Vater Erwin Karl Scheck, Ehemann von Jennys mittlerer Tochter Anni (*1902), hat diese Aushilfs-Werkzeuge eigens hergestellt, um den zur Vertreibung Bestimmten ein wenig zu helfen. Anni hilft bei der Essensausgabe, um ihrer Mutter nahe zu sein; das Einzige, was sie der alten Frau noch verschaffen kann, ist ein ein halbwegs erträglicher Schlafplatz am Boden der Halle.
Jenny Lemberger wird 22. August 1942 über den Nordbahnhof Stuttgart nach Theresienstadt deportiert. Die mörderischen Lebensumstände dieses KZ übersteht Jenny dank ihrer Robustheit relativ lange. Im Mai 1944 ist sie 67 Jahre und zusammen mit der 68jährigen Emilie Goldstein die letzte von zwei noch lebenden Ex-Herrlinger Heimbewohnern in Theresienstadt. Am 16. Mai 1944 aber wird sie nach Auschwitz deportiert – ohne zu wissen, dass ihr vormaliger Mann Isidor zweieinhalb Jahre zuvor dort ermordet worden war. In Auschwitz verliert sich jede Spur von Jenny Lemberger.

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Red Cross Message Bureau, Vorder- und Rückseite
BU:
Rot-Kreuz-Nachricht von Kläre Lemberger an ihre Schwester Anni, in London abgesendet am 19. Oktober 1944; diese antwortet rückseitig am 30. August 1945: Mutter Jenny verschollen „von Theresienstadt auf Transport, vermutlich Polen.“

Als Anni ihre Mutter Jenny im August 1942 zum letzten Mal sieht – in den Messehallen auf dem Stuttgarter Killesberg, dem Durchgangslager vor der Deportation ins KZ – da hat sie schon eine Menge erlitten: Verachtung, Schikane, Entrechtung und Hass erleben alle Deutschen, die vom NS-System als jüdisch eingestuft werden. Spätestens der Krieg ermöglicht es dem Regime, den antisemitischen Hass in Völkermord umzuwandeln. Dass Anni so lange in Stuttgart bei ihrer Familie blieben kann, ist ihrem Ehemann zu verdanken.

Erwin Karl Scheck, geboren 1902 in Stuttgart, und Anni haben am 31. Juli 1928 geheiratet. Zwei Jahre später wird ihr ersten Sohn Werner geboren, 1936 der zweite, Gerhard. Dass Anni rein formal als Jüdin gilt, ist nichts weiter als eine Zeile im Pass. Im Alltag der Familien Lemberger und Scheck hat nichts Jüdisches je eine Rolle gespielt, weder religiös noch politisch oder kulturell. Erst die Machtübernahme durch die Nazis ändert das – wie ja Annis Schwester durch ihre Kündigung beim Süddeutschen Rundfunk sehr rasch erlebt.
Anni hat vergleichsweise Glück. Sie ist Ehefrau und Mitarbeiterin eines aufstrebenden kunsthandwerklichen Unternehmers: Erwin hatte nach einer kaufmännischen Ausbildung bei Bosch seinen Vater und seinen Großvater, die beide als Klavierbauer bei der Stuttgarter Firma Schiedmayer angestellt waren, vom Wagnis der Selbständigkeit überzeugt. Erwin gründet die Firma Klavierbau Scheck, seine Frau Anni wird Mitarbeiterin in Verwaltung und Verkauf.
Klaviere sind seit der musikalischen Romantik der Goldstandard gut bürgerlicher Wohnzimmer-Möblierung – wer was auf seine Bildung hält, in dessen Haushalt gehört ein Klavier. Die Firma Scheck expandiert, im Frühjahr 1933 sollen gute Geschäftsräume in der zentral gelegenen Olgastraße bezogen werden. Erwin notiert später: „Da kam die Bedrohung durch das NS-Regime. Meine Frau war Jüdin, ich selbst damit ´Judenknecht`. (…) 1938 wurde ich von er NS-Gauwirtschaftsstelle aufgefordert, mich scheiden zu lassen, andernfalls meine Selbständigkeit aufzugeben. Da man mir erklärte: `Wir werden darüber wachen, dass Sie nicht nur das Firmenschild ändern`, und da meine Karteikarte beim Städtischen Steueramt mit dem Vermerk `Ehefrau Jüdin` diagonal über die ganze Karte versehen war, musste ich ganz besonders vorsichtig sein.“

Der Druck auf die junge Familie wächst allenthalben. Sogar Erwins Vater übernimmt eine Zeit lang der Judenhass der Staatspropaganda; aus dem öffentlichen Leben müssen sich die Schecke weitgehend zurückziehen. Besonders krass wirkt sich der Antisemitismus in Erwins Leben dort aus, wo er buchstäblich eine große Nummer ist, im Sport. Erwin Scheck ist langjähriges Mitglied bei den Stuttgarter Kickers, Abteilung Leichtathletik. 1932 wird er Süddeutscher Meister im Weitsprung, 1934 gewinnt er den Weitsprung in einem internationalen Wettkampf Deutschland-Schweiz, und auch im Hürdenlauf zählt Scheck zu den besten deutschen Sportlern. Stuttgarts OB Karl Strölin, ein Offizier und strammer Nazi, gratuliert ihm 1934 mit persönlichem Schreiben: „Zu Ihrem großen Sieg im Weitsprung in der Adolf-Hitler-Kampfbahn in Stuttgart spreche ich Ihnen namens der Stadtverwaltung Stuttgart die besten Glückwünsche aus. Ich gebe der Erwartung Ausdruck, dass es Ihnen weiterhin möglich sein wird, Ihre Vaterstadt bei sportlichen Grosskämpfen mit Erfolg zu vertreten. Mit deutschem Sportgruss und Heil Hitler! gez. Strölin“.

1935 werden die Kickers Deutscher Vereinsmeister der Leichtathletik, Erwin Scheck ist einer der Leistungsträger der Mannschaft. Auch jetzt wird er wieder vom Oberbürgermeister geehrt, durch Empfang und Festessen im Rathaus. Allerdings ist es mit der fast sprichwörtlichen Kameradschaft unter den Sportlern nicht mehr weit her. Es gibt ein Foto des siegreichen Kicker-Kaders, das alles sagt über den Ungeist der Situation: In mehreren Reihen hintereinander gestaffelt posieren die Männer in Vereins-Trikots und kurzen Hosen; gekrönt von einer stolz geblähten Kickers-Fahne schauen sie in die Kamera. Ganz vorne links, halb angeschnitten, steht ein Mann im dunklen Anzug. Er ist als einziger im Profil zu sehen, weil er nicht in die Kamera schaut, sondern buchstäblich als Randfigur auf seine Mannschaftskameraden blickt, die keinen Blick an ihn verschwenden: Erwin Scheck.

Noch kein Jahr nach dieser Meisterschaftsfeier lässt die Vereinsführung Erwin Scheck wissen, was sie in ideologischer Hinsicht von ihm erwartet. Mit dem Vermerk „Vertraulich!“ schreibt der Vereinsführer am 12. März 1936: „In beiderseitigem Interesse ersuchen wir Sie, zukünftig Besuche unserer Übungsstätten sowie unserer Veranstaltungen in Begleitung Ihrer Frau zu vermeiden. Mit deutschem Sportgruss Heil Hitler!“
Erwin antwortet per Brief am 21. März: „Ich lasse meine Familie nicht im Stich. Wenn dem Sportverein Stuttgarter Kickers den Zeitumständen zufolge meine Person plötzlich ecklig wird, dann soll er den Mut aufbringen und mich aus dem Verein hinauswerfen. (..) Mit deutschem Gruss, Erwin Scheck.“ Zu diesem Zeitpunkt sind es nur noch wenige Monate bis zu den Olympischen Spielen. Als amtierenden Meister wäre Erwin Scheck selbstverständlich qualifiziert für den Olympia-Kader – aber nur, wenn er sich von seiner Frau trennt. Das aber kommt für ihn nicht in Frage (auch den Kickers wird er übrigens die Treue halten. 1979 gehört er zu den Ehrengästen, die anlässlich der deutschen Meisterschaften vom Verein ins Stuttgarter Neckar-Stadion eingeladen werden. Der Organisator schreibt von „Erinnerungen an die Tage der siegreichen Jagd nach Punkten in Berlin 1935. (..) War das doch eine glorreiche und schöne Zeit!“

Dass seine Frau Anni diese Zeit überlebt, gelingt schließlich durch die Tatkraft und das Geschick ihres Ehemanns. 1943 – 45 organisiert Erwin für Anni und die beiden Jungs Werner und Gerhard ein Quartier in Hülben, einem Dorf auf der Schwäbischen Alb. Niemand dort weiß von der Abstammung der Stuttgarter, ausgebombte Städter sind nicht besonders verdächtig. Erwin tritt als Klavierfabrikant auf, schenkt dem Bäcker und dem Metzger je ein Instrument und handelt im Gegenzug ausreichend Lebensmittel für Frau und Kinder aus. Der Deal geht auf, die drei Flüchtlinge überstehen den Krieg im ländlichen Abseits. Allerdings kommt Anni nicht unbeschadet aus der latent lebensgefährlichen Lage. Ihre Mutter ist in Polen verschollen, ihre Schwester wird trotz Ehe mit einem nicht-jüdischen Mann im Februar 1945 ins KZ verschleppt. Auch die Schecks müssen sich offenbar in der Endphase des Krieges gegen Versuche wehren, Anni zu deportieren. So steht es in einem ärztlichen Attest vom Sommer 1949, das auflistet: Totgeburt 1945, Brustkrebs und Amputation einer Brust 1946, Herzleiden. „Es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, dass ihr Herzleiden und die Entstehung der carzinomatösen Brusterkrankung mit der schlimmen seelischen Belastung der Patientin in Zusammenhang steht. Sie besitzt eine kräftige, widerstandsfähige Konstitution und ist vorher nie ernstlich krank gewesen.“

1950 bekommen Anni und Erwin Scheck noch einen dritten Sohn, Michael. Vier Jahre später stirbt Anni Scheck im Alter von 47 Jahren im schweizerischen Arlesheim.

Quellen:
Familienarchiv Michael Scheck
Recherchen durch Klaus Maier-Rubner, Göppingen; Jennifer Lauxmann, Andreas Langen
Ulrich Seemüller: Das Jüdische Altersheim Herrlingen, Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm, 2009
Staatliches Museum Auschwitz

Text: Andreas Langen