Artikel aus den Stuttgarter Nachrichten
Michael Weißenborn 22.02.2024 – 14:56 Uhr
Dieses Porträtfoto hängt heute im Waldheim Sillenbuch, dessen Vorsitzender Heinrich Baumann war. Foto: Sillenbuch
Zu den ersten Verfolgten der NS-Diktatur gehörten politische Gegner wie der Stuttgarter KPD-Gemeinderat Heinrich Baumann. Kurz vor Kriegsende fiel er im KZ Dachau dem Naziterror zum Opfer. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine - Die Menschen hinter den Namen“.
Heinrich Baumann hat lange Jahre in der Champigny-Straße 25 im Stuttgarter Osten gelebt. Mit seiner Frau und seinem Sohn wohnte er im vierten Stock eines Mietshauses in dem traditionellen Arbeiterviertel am Stöckach. Im Erdgeschoss gab es einen Lebensmittelladen. Seine Nachbarn waren eine Schlosserwitwe, ein Kaufmann, ein Versicherungsbeamter und ein Kriminaloberwachtmeister.
Heinrich Baumann war Transportarbeiter von Beruf. Er stammte aus dem Hohenlohischen, geboren 1883 in Marktlustenau bei Crailsheim als Sohn eines Landwirts. Doch wie so viele zog es ihn bei der Industrialisierung des Mittleren Neckarraums kurz vor dem Ersten Weltkrieg vom Land nach Stuttgart.
„Ein Namen und ein Gesicht“
Wenn sich die Geschichte heute überhaupt noch an ihn erinnert, dann wegen seines grausamen Schicksals: Als einer von bis zu einer Million politischer Oppositioneller kam Heinz Baumann im Konzentrationslager Dachau ums Leben. Deshalb hat der Stuttgarter Gemeinderat die Champigny-Straße, benannt nach einer siegreichen Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, 1946 in Heinrich-Baumann-Straße umbenennen lassen. Und seit 2006 schimmert eine Messingplakette von der Größe eines Pflastersteins vor der Haustür mit der Nummer 25. Darauf steht: „Hier wohnte Heinrich Baumann, Jahrgang 1883“, bevor sie sein brutales Schicksal festhält.
Es ist ein sogenannter Stolperstein, eine Idee des Kölner Künstlers Gunter Demnig, mit dem an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft erinnert werden soll. „Wir wollen ihnen einen Namen und ein Gesicht geben“, sagt Gudrun Greth von der Stuttgarter Stolperstein-Initiative Ost. Die frühere Schulleiterin der Grund- und Werkrealschule Ostheim hat jahrelang gemeinsam mit anderen die spärlichen Quellen zu Heinrich Baumanns Biografie erforscht.
Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen:
Alle Porträts der Serie»
1929 heiratete er in zweiter Ehe seine Frau Frida, geborene Späth, aus Ehingen. Schon ein Jahr zuvor war ihr Sohn, der ebenfalls Heinrich hieß, auf die Welt gekommen. Vielleicht hatten sich die beiden an einem der Treffpunkte der Arbeiterbewegung kennengelernt, im Waldheim in Sillenbuch etwa, zu dessen Vorsitzenden er im Februar 1933 gewählt wurde. Bei der Wahl zum Stuttgarter Gemeinderat Ende 1928 scheiterte er knapp auf Listenplatz sechs der Kommunisten, wurde dann aber im Sommer 1932 doch noch als Nachrücker von Oberbürgermeister Karl Lautenschlager vereidigt.
Die Nationalsozialisten begannen sofort nach der Machtübernahme mit offenem Terror gegen ihre Gegner. So nahmen Polizei, Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS) im Frühjahr 1933 deutschlandweit rund 35 000 oppositionelle Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter „präventiv“ und ohne Gerichtsurteil in sogenannte Schutzhaft. Die Bevölkerung sollte so eingeschüchtert und abgeschreckt werden.
Auf Verhaftung folgt „Dienstaustritt“
In Stuttgart verhaftete die Polizei in der Nacht zum 11. März 1933 rund 200 Kommunisten und Sozialdemokraten und verschleppte sie nach einer Zwischenstation in einer Ulmer Kaserne ins neue Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am Kalten Markt, unter ihnen auch Heinrich Baumann. Das Mitgliederverzeichnis des Stuttgarter Gemeinderats vermerkt dazu Ende März nur knapp seinen „Dienstaustritt“, einen von rund 30. Nach einer Nachwahl-Farce triumphierte der von den Nazis eingesetzte neue Oberbürgermeister Karl Strölin Ende Dezember 1933: Der Gemeinderat kenne jetzt nur noch eine Fraktion – die NSDAP.
Im linken Haus wohnte Heinrich Baumann. Foto: Stadtarchiv/101-FN250-4190
Vier Monate später wurde Baumann entlassen. Er durfte an der Beerdigung seiner Mutter teilnehmen. „Wiederergreifung ohne besondere Weisung ist zu unterlassen“, verfügte das württembergische Innenministerium. Der politische Verfolgungsdruck blieb aber hoch: Monatelang musste er sich jeden Tag auf der Polizeiwache melden. „Wir waren sodann immer den Schikanen und Haussuchungen der Gestapo ausgesetzt“, schilderte seine Frau nach dem Krieg die Lage.
Ein liebevoller Vater
Dazu kam die wirtschaftlich äußerst prekäre Situation. Sein Arbeitgeber, die Spedition Gustav von Maur, hatte ihn nach seiner Verhaftung entlassen. Danach war er drei Jahre lang arbeitslos. Frida Baumann beschrieb die Lage 1950 gegenüber dem Amt für Wiedergutmachung: Habe er als Arbeiter bei der Spedition etwa 30 bis 32 Mark in der Woche verdient, musste die Familie zunächst mit 12 oder 13 Mark Arbeitslosengeld auskommen; danach gab es „Krisenunterstützung“, die noch einmal um einige Mark geringer ausfiel. In dieser Zeit wurde er zur Arbeit in der Kocherkanalisation und in der Plattenfabrik in Gaisburg verpflichtet. Erst danach fand Baumann wieder eine reguläre Arbeit bei der Firma Schenker.
Auch sein Sohn erinnerte sich viele Jahre später an diese schwere Zeit: „Wenn es eine Gelegenheit gab, hat die Mutter etwas dazuverdient, zum Beispiel durch Zeitungsaustragen“, erzählte der im Frühjahr 2023 Verstorbene. Seinen Vater behielt er in liebevoll-respektvoller Erinnerung. Er sei ein „sehr korrekter Mann gewesen. Seriös und aufgeschlossen“, so der Sohn in einem Zeitzeugen-Interview. Er sei in der Nachbarschaft geachtet gewesen.
Nach dem Hitler-Attentat am 20. Juli 1944 wurde der damals 61-Jährige am 22. August als Verdächtiger erneut verhaftet und ins KZ Dachau bei München gebracht. Ob er tatsächlich eine Rolle im Widerstand gespielt hatte oder nur wegen seiner früheren politischen Aktivitäten bei der KPD eingesperrt wurde, bleibt unklar. Historiker wissen heute, dass die Nazis in dieser Zeit noch einmal Hunderte Menschen verhaften ließen, um in der zusammenbrechenden Kriegsgesellschaft jeden Widerstandswillen zu brechen. In Dachau wurde unter mörderischen Bedingungen Zwangsarbeit verrichtet. Gleichzeitig stieg die Sterblichkeitsrate stark an, da die Versorgung der Häftlinge unter das zum Leben Notwendige gesunken war.
Opfer des Naziterrors
Unter diesen Bedingungen litt auch der „Schutzhäftling“ Baumann mit der Nummer 93038. Am 22. Februar 1945 – die Sterbeurkunde notiert den 23. Februar – starb er. Die Häftlinge, die im Krankenbau arbeiteten und den Tod an die SS-Lagerverwaltung meldeten, behielten illegalerweise ihre Krankenlisten.
„Sie sollten nach der Befreiung als Beweismittel dienen“, erklärt der Historiker Albert Knoll von der KZ-Gedenkstätte Dachau. Angebliche Todesursache: Rippenfellentzündung. Doch das bezweifelte die Witwe. Die SS stellte viele falsche Totenscheine aus. Die genaueren Todesumstände konnten Baumanns Angehörige nie erfahren.
Das Hauptversorgungsamt Württemberg-Baden konstatierte 1946 ohne Umschweife, wenn auch etwas formaljuristisch: Es gelte „die Rechtsvermutung“, dass der Tod eines politischen Häftlings „durch den Konzentrationslageraufenthalt und die damit verbundenen Terrormaßnahmen verursacht oder doch wesentlich mitverursacht, wenn nicht gar gewaltsam herbeigeführt worden“ sei. Frida Baumann wurde als „Opfer des Naziterrors“ eine Rente zugesprochen.
Erinnerung hoch aktuell
„Mein Vater hat diese Zeit immer ausgespart, und ich habe auch nicht nachgefragt“, erzählt Baumanns Enkel Sigfried heute. Der Vater wurde als 17-Jähriger zwei Tage vor der Ermordung seines Vaters als Hitlers letztes Aufgebot zur Wehrmacht eingezogen. Von der Politik des Vaters habe er nichts wissen wollen. Auch seine Großmutter habe wie so viele andere, vielleicht tief traumatisiert, lieber geschwiegen, sagt der 70-jährige Ex-Geschäftsführer der „Cannstatter Zeitung“. Er hat erst durch die Stolperstein-Initiative mehr über das Schicksal seines Großvaters erfahren. Gerade vor dem Hintergrund des Aufstiegs von AfD und extremistischer Rhetorik findet er es gut, dass mit Straßenname, Stolperstein und Heinrich-Baumann-Saal im Waldheim Sillenbuch die Erinnerung an seinen Großvater wachgehalten wird. Als Mahnung. „Sein Name wird in Stuttgart nie mehr vergessen.“
Zumindest beim Straßenname hätte es auch anders kommen können. Denn als im Kalten Krieg in den 50er Jahren hitzig über Wiederbewaffnung und KPD-Verbot debattiert wurde, gab es im Gemeinderat und seitens mancher Unternehmen das Bestreben, die Heinrich-Baumann-Straße wieder in Champigny-Straße umzubenennen, weil, wie es Harald Stingele von der Stolperstein-Initiative formuliert, „Militärisches wieder gefragt gewesen sei und die Opfer des Nationalsozialismus in gute und weniger gute eingeteilt worden seien“. Der Vorstoß wurde jedoch abgelehnt, der Gemeinderat wollte die Verständigung mit Frankreich nicht aufs Spiel setzen.