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“Man kann Geschichte nicht entsorgen”

Artikel aus den STUTTGARTER NACHRICHTEN vom 09.11.2007:

“Man kann Geschichte nicht entsorgen”
Anstifter und Aktion Stolperstein: Opfern des Naziterrors einen Namen geben
 
Gefoltert, gequält, ermordet: Das war das Schicksal der 2500 ehemaligen Stuttgarter Mitbürger, deren Namen am Donnerstag am Mahnmal für die Opfer des Faschismus vorgelesen wurden. Die Anstifter und die Aktion Stolperstein wollen diese Menschen vor dem Vergessen bewahren.

VON HEIDEMARIE A. HECHTEL

Anlass ist das Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938, in der die Verfolgung der Juden mit klirrenden Schaufenstern jüdischer Geschäfte, brennenden Synagogen, Verhaftungen und Totschlag ihren ersten grausamen Höhepunkt erlebte und die Shoah ihren Anfang nahm. Ein Gedenktag, der keine Gedankenlosigkeit zulässt, wie die Kontroverse um einen gleichzeitig geplanten Ball deutlich gemacht hat. “Man hätte Souveränität bewiesen, wenn man den Ball einfach um einen Tag verschoben hätte”, merkte dazu auch Peter Grohmann von den Anstiftern am Vorabend an.

Sie hießen Adler, Goldschmidt, Levi, Rosenbaum, Sontheimer oder Strauß, sie waren bis 1933 geachtete Stuttgarter Bürger und sie starben in Riga, Auschwitz, Theresienstadt oder Bergen-Belsen. Sie hießen aber auch, wie Ulrich Newerla von Emmaus vorlas, Eugen Hägele oder Franz Schmidtberger, und sie litten und starben mitten in der Stadt: “Im Hotel Silber, dem heutigen Innenministerium, befand sich die Stuttgarter Gestapozentrale”, erinnerte Newerla an diesen Ort des Schreckens, wo im Keller politische Gefangene, Linke und Liberale, Christen und Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, Soldaten und Deserteure inhaftiert und gefoltert wurden. Und im Lichthof des Gerichtsgefängnisses an der Urbanstraße starben Hunderte von Menschen unterm Fallbeil. Derzeit wird im Zuge der Neubauplanungen für das Quartier über Erhalt oder Abriss des ehemaligen Hotels Silber diskutiert. Gebhard Klehr von der Aktion Stolperstein hat dazu eine klare Meinung: “Man kann Geschichte nicht entsorgen.”

5500 Namen von Opfern haben Peter Grohmann und die Anstifter bereits für ihr Buch “Die Namen der Toten” recherchiert und gesammelt. Darunter auch 450 Euthanasieopfer, die in Grafeneck ermordet wurden. Als unwertes Leben. Wie Marie Bofinger: “Sie hatte drei Kinder”, teilte der junge Sebastian den Zuhörern bei der Gedenkfeier für die Euthanasieopfer vor dem Innenministerium an der Dorotheenstraße mit. “Der Ort ist bewusst gewählt”, erklärt Gebhard Klehr. Denn hier saßen damals die Schreibtischtäter, die über Euthanasie-Opfer entschieden.

“Wir sind schockiert, dass so viele Menschen ermordet wurden”, sagte Esra mit lauter Stimme. Wie Sebastian ist sie Schülerin der Klasse 9 b der Hauptschule Luginsland, die mit ihrer Lehrerin Ulrike Holoch-Karpf diese Feier gestalteten. Mit Trommelschlag und Fackelschein, um im Kampf gegen das Vergessen nicht überhört und übersehen zu werden.
 
Aktualisiert: 09.11.2007 06:13 Uhr