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85 Jahre Kindertransporte – Ein Stein, der Erinnerungskreise zieht

Artikel aus den Stuttgarter Nachrichten
Jan Sellner 10.02.2024 – 7:00 Uhr


Kurznachricht eines Vaters an seine Tochter in England, in der er sie verklausuliert über die Deportation ihrer Mutter informiert. Längere Nachrichten waren nach Kriegsausbruch nicht erlaubt. Das Dokument ist Teil der Ausstellung „I said ,Auf Wiedersehen‘“ zu 85 Jahre Kindertransporte in Berlin. Foto: jse

Eine 97-jährige Leserin hat bei der Zeitungslektüre den Namen einer Schulfreundin entdeckt, die 1939 in einem Kindertransport vor den Nazis nach England geflohen ist, und erinnert sich. Ein Beispiel dafür, wie bereichernd das Leserecho häufig ist, meint Redakteur Jan Sellner.
Die Zeitung ist eine Quelle der Information und ein Ort des Meinungsaustausches. Sie ist auch ein Marktplatz der Erinnerungen. Das zeigt sich immer dann, wenn es um Geschichte geht. Um die Geschichte der Stadt und die Geschichten der Menschen, die hier gelebt, gewirkt und auf die eine oder andere Weise Spuren hinterlassen haben. Das gilt beispielsweise für das Thema Stolpersteine, dem wir in Zusammenarbeit mit den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen in diesem Jahr erhöhte Aufmerksamkeit widmen, und damit speziell den Stuttgartern, deren Namen auf den Steinen verewigt sind.

Man darf zuversichtlich sein, dass die Ausstellung nach Stuttgart kommt
Wenn man sich mit den Biografien dieser in der NS-Zeit entrechteten, verfolgten und ermordeten Menschen beschäftigt, bleibt man nicht lange alleine – das bringt die Veröffentlichung in der gedruckten und der digitalen Zeitung erfreulicherweise mit sich. Oft gibt es ein Echo aus der Leserschaft. Es ist wie der sprichwörtliche kleine Stein, den man ins Wasser wirft, und der dann Kreise zieht. Erinnerungskreise.
Ein besonders schönes Beispiel stammt aus dieser Woche. Der kleine Stein war in diesem Fall die Berichterstattung über die Kindertransporte vor 85 Jahren, mit denen rund 10 000 jüdische Kinder aus vielen Teilen des damaligen Deutschen Reiches nach England kamen und damit dem Holocaust entgingen. Eine Ausstellung im Deutschen Bundestag erinnert aktuell an diese wenig bekannte Rettungsaktion, die engagierten Menschen und Wohltätigkeitsorganisationen zu verdanken ist. Man darf hoffnungsfroh sein, dass sie in absehbarer Zeit auch in Stuttgart zu sehen sein wird. Denn auch von hier verließen jüdische Kinder damals ihr Elternhaus. Oft für immer.

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Nach Erscheinen des Textes erreichte uns ein Anruf einer Dame aus Schorndorf, Irene Epple, Jahrgang 1928. Sie hatte in dem Bericht den Namen einer ehemaligen Schulfreundin entdeckt: Doris Bloch. Zitiert war der Vermerk: „Doris Bloch, geb. 26.11.1926 in Stuttgart, Besuch des Hölderlin-Gymnasiums. Jan. 1939 allein nach England, Eltern folgten im März 1939. März 1940 nach USA.“ Er stammt aus einer Akte der Stuttgarter Dokumentationsstelle zur Erforschung der Schicksale der jüdischen Bürger im Südwesten. Für Irene Epple, die in Schorndorf eine Schule für geistig behinderte Kinder aufgebaut und viele Jahre lang geleitet hat, reichten diese dürren Angaben aus, um sicher zu sein: „Das ist die Doris, mit der ich in die Falkertschule im Stuttgarter Westen gegangen bin.“ Die Daten stimmten überein.

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Der Anblick der zerstörten Synagoge ist ihr unvergesslich
Sie erinnerte sich auch an ein Klassenfoto ihrer damaligen Mädchenklasse, das die Freundinnen in derselben Reihe zeigt. Und sie findet darauf bestätigt: „Doris war das schönste Mädchen in der Klasse.“ Als fein und sensibel hat sie sie in Erinnerung. Epple war oft bei ihr zu Hause. Später trennten sich die Wege. Doris Bloch ging aufs Hölderlingymnasium, Irene Epple erst in die Mittelschule und dann aufs Königin-Olga-Stift.
Woran die 97-Jährige sich ebenfalls gut erinnert, wenn auch schweren Herzens, ist der Anblick der in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 zerstörten Synagoge in der Hospitalstraße. Nach der Schule sei sie dorthin gelaufen und habe erkannt, dass etwas Schlimmes geschehen sei. Etwas sehr Schlimmes. Die Reichspogromnacht war auch Auslöser für die Rettungsaktion jener 10 000 jüdischen Kinder. 1,5 Millionen andere Kinder hatten diese Gelegenheit zur Ausreise nicht – so viele wurden in den folgenden Jahren von den Nazis ermordet.
Dass Doris Bloch als Zwölfjährige einen der Kindertransporte nach England bestieg, hat Irene Epple erst jetzt durch die Zeitung erfahren. Es würde sie interessieren, wie das Leben ihrer Schulfreundin verlaufen ist. Vielleicht zieht der Stein ja weitere Kreise . . .