„Ich sehe immer wieder, wie greifbar mir alles wird, wenn ich die authentischen Plätze gesehen habe, an denen sich die Handlungen abspielten.“ Peter Weiß, Die Ästhetik des Widerstands
„Und was machen wir, wenn alle Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die hier wohnten und namhaft gemacht werden konnten, mit einem Stolperstein bedacht worden sind?“ Diese Frage haben sich die Stolperstein-Initiativen in den einzelnen Stadtteilen anfangs immer wieder gestellt und im Laufe der Zeit für ihren Bereich zum Teil ganz unterschiedliche Konzepte entwickelt; sie reichen vom Lehrpfad bzw. Rundgang über namentliche Patenschaften bis hin zur Pflege lokalhistorischer Bezüge, die weit über die verlegten Stolpersteine hinausgehen. Mit dem folgenden Spaziergang durch Heslach soll die Aufmerksamkeit vor allem auf jene Opfer gelenkt werden, die von den Nazis ermordet wurden, weil sie sich nicht anpassen wollten, dem Regime die Gefolgschaft verweigerten und aufbegehrten oder organisiert Widerstand leisteten. Von den derzeit über 1.000 Stolpersteinen in Stuttgart erinnern mehr als 80 an Menschen, die gegen das NS-Regime opponierten und deshalb verfolgt wurden.
Am südlichen Rand des Stadtteils, der in den 1920er- und 1930er-Jahren auch „Rotes Heslach“ oder „Roter Wedding Stuttgarts“ genannt wurde, errichtete die Stadt Stuttgart 1926 im Rahmen eines sozialen Notstandsprogramms für und mit Arbeiter und deren Familien eine Reihenhaussiedlung nach dem Vorbild englischer Gartenstädte. In der Idylle des „Eiernests“(1) half man sich gegenseitig und wählte links, dort erfolgte auch die politische Auswertung des „Stuttgarter Kabelattentats“ – der ersten Aktion gegen den totalen Machtanspruch der Nazis nach deren Machtantritt:
Am 15. Februar 1933 sprach Hitler zum Auftakt seines „Wahlfeldzuges“ für die bevorstehende Reichstagswahl vor etwa 10.000 Anhängern in der Stuttgarter Stadthalle. Vom Rundfunk übertragen, war die Rede auch auf dem Marktplatz zu hören, wo sich die SA versammelt hatte. Um 21:17 Uhr – rund eine Stunde nachdem Hitler mit seiner Rede begonnen hatte – wurde das teilweise oberirdisch verlaufende Sendekabel in der Hofeinfahrt Werderstraße 12 mit einer Axt durchgetrennt, was reichsweit Aufsehen erregte und vor allem Goebbels, der gerade die „Gleichschaltung“ der Massenmedien vorantrieb, zum Toben brachte. Geplant und durchgeführt wurde die mutige Aktion von der Stuttgarter KPD. Die Idee stammte von Theodor Decker, in die Tat umgesetzt wurde sie von Wilhelm Breuninger, Alfred Däuble, Hermann Medinger und Eduard Weinzierl mit Unterstützung des TWS-Angestellten Eduard Futterknecht. Während Decker bereits am 11. März 1933 wegen seiner kommunistischen Gewerkschaftstätigkeit in „Schutzhaft“ auf den Heuberg bei Stetten am kalten Markt kam und nach mehreren Konzentrationslagern schließlich am 27. Januar 1940 in Mauthausen ermordet wurde,(2) blieben die anderen zunächst unentdeckt und gerieten erst drei Jahre später in die Hände der Polizei; beim Stuttgarter Oberlandesgericht fanden sie jedoch relativ milde Richter (kein Hochverrat, „nur“ 21 bis 24 Monate Gefängnis!).
Noch in der Nacht des Kabelattentats vom 15. auf den 16. Februar 1933 entstand im Heslacher Eiernest das Flugblatt, aus dem die Stuttgarter schon am Morgen des 16. Februar 1933 erfuhren, dass Antifaschisten Hitler das Wort entzogen hatten. Den Text hatten die Redakteure der „Süddeutschen Arbeiterzeitung“, Willi Bohn und Hans Ruess, entworfen. Emmy Seitz, die damals noch Ramin hieß und Sekretärin der Zeitung war, schrieb ihn zur Vervielfältigung auf eine Wachsmatrize. Sie wurde am 30. November 1944 mit acht weiteren Mitgliedern der Gruppe Schlotterbeck im Konzentrationslager Dachau wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ hingerichtet. Für sie und ihren am 6. Februar 1945 im Zuchthaus Halle wegen „Nichtanzeigen eines Kriegsverrats“ hingerichteten Ehemann Theodor Seitz gibt es seit September 2008 Stolpersteine in der Wartbergstraße 14 im Stuttgarter Norden. Ort der nächtlichen Redaktionssitzung war die Wohnung des Naturfreundemitglieds Karl Maier in der Liebigstraße 35. Maier wurde 1938 aufgrund seines Engagements für den ISK (Internationaler Sozialistischer Kampfbund) wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verhaftet und während der Untersuchungshaft in der Corneliusstraße in München zwischen August 1938 und Mai 1939 schwer misshandelt, aber aufgrund geschickter Aussagen seiner Mitgefangenen freigesprochen.(3) Seine Tochter Edith Frech erinnerte sich an dieses Treffen und andere illegale Zusammenkünfte in der elterlichen Wohnung, die wohl auch deshalb im Eiernest stattfanden, weil die Nazis hier kaum Fuß fassen und die Siedlung nie ganz kontrollieren konnten. Auch nach dem Krieg blieb der durch die traditionelle Arbeiterbewegung geprägte Charakter des Eiernests noch lange Zeit erhalten.
Ähnlich starken Rückhalt wie in Heslach hatten die Arbeiter-, Sport- und Kulturorganisationen in Botnang. Aus dem zwischen Feuerbach, Stuttgart-West und Vaihingen gelegenen und nahezu vollständig von Wald umgebenen Vorort stammten auch Heinrich Rexer und Walter Häbich, die zu den ersten Todesopfern des Nationalsozialismus in Stuttgart gehören:
Rexer nahm am 16. Juli 1933 an einem Familienausflug des aufgelösten Arbeitergesangvereins „Freiheit“ teil. Die vier Omnibusse mit 116 Personen wurden am Kräherwald gestoppt, die Männer wegen „strafbarer Betätigung für eine verbotene Organisation“ ins Konzentrationslager Heuberg verschleppt. Dort zog sich Heinrich Rexer eine Lebensmittelvergiftung zu, an deren Folgen er am 29. August 1933 im Katharinenhospital starb. Rexers Mutter Maria wurde 1937 in die Heilanstalt Schwäbisch Gmünd eingewiesen und am 17. Juni 1941 im Zuge der NS-„Euthanasie“ in Hadamar ermordet.(4)
Häbich war als Kommunist bereits in den 1920er–Jahren und dann wieder 1932 auf dem Hohenasperg inhaftiert gewesen. Am 6. März 1933 ging er in den Untergrund, um seine Tätigkeit als Schriftleiter einer kommunistischen Zeitung fortsetzen zu können. Nachdem am 23. September 1933 die in einem Kloster versteckte Druckerei ausgehoben worden war, kam er ins Konzentrationslager Dachau. Im Verlauf der als „Röhm-Putsch“ bekannten politischen Säuberungswelle der Nationalsozialisten, die sich auch gegen Oppositionelle aus Politik und Kirche richtete, wurde Walter Häbich am 1. Juli 1934 ermordet.(5) Die Trauerfeier zur Beisetzung seiner Urne auf dem Botnanger Friedhof wurde trotz Verbots und anwesender Gestapo, die das Geschehen filmte, zu einer Demonstration gegen den Nationalsozialismus.
Zurück ins Heslacher Eiernest: Die Liebigstraße mündet an ihrem oberen Ende in die nach dem Gewerkschaftsführer und ersten württembergischen SPD-Parlamentarier (1847-1908) benannte Karl-Kloß-Straße, die ursprünglich Zillestraße hieß und in der Nazizeit den Namen des Barons von Richthofen trug, der als Jagdflieger im Ersten Weltkrieg zu zweifelhaften Ruhm gekommen war:
Hier in der Zillestraße 42 wohnte die Familie Abele, deren am 23. Februar 1916 in Cannstatt geborene Tochter Lilly geistig behindert war. Kurz vor ihrem 17. Geburtstag wurde sie am 17. Februar 1933 in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal aufgenommen. „Vergnügt, immer zutraulich. Befinden tadellos.“, so steht es in einem Krankenbericht vom Januar 1939. Am 5. November 1940 wurde Lilly Abele in Grafeneck auf der Alb ermordet.(6)
1934 zogen die Sozialdemokraten Johann und Lina Hatje mit ihren Kindern Gerd und Elsa vom Weißenhof in die Richthofenstraße 40, nachdem Johann – zuvor Bezirksleiter der im Mai 1933 aufgelösten Eisenbahnergewerkschaft – zunächst verhaftet und dann arbeitslos geworden war. Lina, die aus einer jüdischen Familie stammte, hätte den Nationalsozialismus im allerdings zerbrechlichen Schutz einer sogenannten „privilegierten Mischehe“ vielleicht überleben können, aber schon ein kleiner Anlass genügte, um in die Fänge der stets lauernden Gestapo zu geraten. Wegen einer Weihnachtsgans, die einem Nachbarn vom Balkon gestohlen worden war, wurde sie denunziert und am 23. Dezember 1942 in die Gestapo-Zentrale im Hotel Silber in der Dorotheenstraße 10 vorgeladen. Während andere Frauen, die hierzu ebenfalls verhört wurden, wieder nach Hause gehen durften, hatte Lina Hatje-Russ – politisch ohnehin verdächtig und dazu noch Jüdin – keine Chance. Anfang Januar 1943 wurde sie in das „Frauenarbeitserziehungslager“ nach Rudersberg im Schwäbischen Wald verfrachtet. Ihre letzte Nachricht an Mann und Kinder war eine auf den 21. Februar 1943 datierte und in Plauen abgestempelte Postkarte vom Transport nach Auschwitz, wo sie angeblich am 21. März 1943 um 12 Uhr im Häftlingskrankenbau des Konzentrationslagers an Sepsis bei Phlegmone (Blutvergiftung durch Entzündung des Bindegewebes) gestorben sein soll; wahrscheinlicher ist, dass Lina Hatje wie Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder in einer Gaskammer erstickt wurde.(7)
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Jenny Grimminger, geborene Stern, erstes Kind jüdischer Eltern aus Michelbach an der Lücke. 1922 hatte sie Eugen Grimminger geheiratet, der deshalb immer wieder Schikanen ausgesetzt war und 1935 von den Nazis wegen „jüdischer Versippung“ aus dem öffentlichen Dienst gedrängt wurde. Jenny blieb aber trotz ihrer jüdischen Herkunft als Frau eines „Ariers“ vorerst von direkter Verfolgung verschont. Das änderte sich schlagartig, als ihr Mann am 2. März 1943 wegen finanzieller Unterstützung der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ verhaftet wurde. Bereits am 10. April – ihr Mann saß noch in Untersuchungshaft und war noch nicht verurteilt – wurde sie über das Konzentrationslager Ravensbrück nach Auschwitz verschleppt. Dort soll Jenny Grimminger nach einer wenig glaubhaften Mitteilung der Lagerleitung am 2. Dezember 1943 an Auszehrung verstorben, eingeäschert und im Urnenhain des Krematoriums beigesetzt worden sein. Als Eugen Grimminger Anfang Januar 1944 diese Nachricht im Zuchthaus Ludwigsburg erhielt, konnte er davon ausgehen, dass seine Frau ermordet worden war.(8)
Von der Karl-Kloß-Straße führt der Weg talabwärts zur Möhringer Straße, in deren Achse sich seit 1881 die auch als „Dom von Heslach“ bezeichnete Matthäuskirche erhebt:
Hitlers Anhänger unter den Protestanten nannten sich seit 1932 „Deutsche Christen“. Mit ihrer Hilfe sollten die evangelischen Landeskirchen unter staatliche Kontrolle gebracht und in den Gemeinden die nationalsozialistische Ideologie verankert
werden. Diesem Ziel dienten auch das „Führergesetz für die Leitung der Kirche und der Landeskirchen“ oder das „Gesetz über die Beflaggung der Kirchen und kirchlichen Gebäude“ bei gleichzeitiger Abschaffung der Kirchenfahnen. Gegen die „Eingliederung“ in die staatstreue Reichskirche setzte sich der württembergische Landesbischof Theophil Wurm erfolgreich zur Wehr. Auch die Stadtpfarrer Eugen Müller (1876-1938, Bild oben links) und Gottlob Faber (1878-1956, Bild oben rechts) schreckten nicht vor der Auseinandersetzung mit den Nazis zurück. Am 12. Februar 1936 wurde Müller vom NSDAP-Ortsgruppenleiter Gauger scharf angegangen, weil die Matthäuskirche am Vortag trotz Reichsvorschrift nicht mit einer Hakenkreuzfahne beflaggt gewesen war: „… oder will sich die evangelische Kirche in Heslach grundsätzlich außerhalb der Volksgemeinschaft stellen?“ Faber durfte ab 1937 keinen Religionsunterricht mehr an staatlichen Schulen halten, da er den geforderten Treue- und Gehorsamseid auf den „Führer“ verweigerte.
Als sich das dörfliche Heslach im 19. Jahrhundert zur Arbeitervorstadt entwickelte, entstanden im Tal des Nesenbachs mehrgeschossige Wohnquartiere für die „einfachen“ oder „kleinen“ Leute:
Hier wohnte in der Möhringer Straße 71 – wenige Schritte stadtauswärts von der Matthäuskirche – der Journalist Alfred Broghammer (1911-1943), der nach 1933 durch Rundbriefe Kontakt zu jungen Menschen hielt, die aus bündischen und katholischen Jugendgruppen kamen, beeinflusst durch das „jungenschaftliche“ Milieu der 1929 von Eberhard Koebel gegründeten d.j.1.11 waren und sich nicht vom NS-Regime vereinnahmen lassen wollten. Er stand in Verbindung mit der illegalen Gruppe um den Bonner Studenten Michael Jovy, die im gesamten Reich Freunde und Unterstützer hatte und sich unter dem Einfluss des in Paris lebenden Emigranten Karl Otto Paetel zunehmend politisierte. Als die Jovy-Gruppe Ende 1939 aufflog, wurde auch Broghammer in Stuttgart verhaftet und bis zu seiner Überstellung ins Berliner Reichssicherungshauptamt etwa ein halbes Jahr von der Gestapo festgehalten. Die Verhöre fanden im Hotel Silber statt. Wegen „bündischer Umtriebe“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ wurde er 1941 vom „Volksgerichtshof“ zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuchthaus Ludwigsburg musste er in einem “Zweigwerk” der Firma Bosch Anker für Lichtmaschinen wickeln. Bei der Arbeit im Keller erkrankte er an TBC und starb schließlich am 21. Juli 1943 auf dem Hohenasperg.(9)
Ein anderes Beispiel für jugendbewegten Widerstand ist von Helmut „Helle“ Hirsch (1916-1937) bekannt, der mit 15 Jahren Mitglied der „Deutschen Jungenschaft vom 1.11.1929 (d.j.1.11.)“ geworden war und von deren “jungenschaftlichen“ Idealen geprägt wurde. 1935 ging er nach Prag, um Architektur zu studieren, was ihm aufgrund seiner jüdischen Abstammung in Deutschland nicht mehr möglich war. In Prag bekam Hirsch Kontakt zur „Schwarzen Front“ des oppositionellen Nationalsozialisten Otto Strasser. Dieser setzte ihn unter Druck, einen Anschlag in Deutschland zu verüben und dadurch auch seine „Zuverlässigkeit“ als Jude unter Beweis zu stellen. Doch der für den 24. Dezember 1936 geplante Sprengstoffanschlag auf das Nürnberger Reichsparteitagsgelände fand nie statt, denn die Gestapo wusste längst Bescheid. Hirsch wurde unmittelbar nach seiner Einreise in der Nacht vom 20. auf den 21. Dezember 1936 in Stuttgart verhaftet, am 8. März 1937 vom „Volksgerichtshof“ in Berlin wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens unter erschwerenden Umständen“ verurteilt und – trotz Intervention des amerikanischen Botschafters, Hirsch war US-Bürger! – am 4. Juni 1937 in Plötzensee durch das Fallbeil hingerichtet.(10)
In der Böblinger Straße wohnte im Haus Nummer 158, direkt am Bihlplatz im Herzen des „Roten Heslachs“, der Buchdrucker und Sozialdemokrat Frieder Wurm (1902-1993), der früh in der Arbeiterjugendhilfe aktiv war und 1925 mit gerade mal 23 Jahren Vorsitzender des mitgliederstarken SPD-Bezirks Heslach wurde. Seine Stelle als Berufsberater beim städtischen Arbeitsamt, wo er seit Februar 1926 tätig gewesen war, verlor er bereits im März 1933. Sein Mandat als Gemeinderat, für den er von der SPD noch im selben Monat nominiert worden war, konnte er aufgrund des Parteiverbots vom 22. Juni 1933 praktisch nicht mehr wahrnehmen. Im Sommer 1933 gründete Wurm zusammen mit Karl Hofstetter in der Augustenstraße im Stuttgarter Westen eine eigene Druckerei, die auch den „Roten Kurier“ und andere Schriften der Schoettle-Gruppe (siehe unten) vervielfältigte und verteilte. Nach mehreren Hausdurchsuchungen und Verhaftungen wurde er 1936 in einem Hochverratsprozess zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Am 17. Januar 1938 wurde er aus der Haft heraus ins berüchtigte Konzentrationslager Teufelsmoor (Weser-Emsland) verschleppt. Nach seiner Entlassung im August 1938 blieb er unter Polizeiaufsicht und musste sich täglich zweimal auf dem Polizeirevier in der Böblinger Straße 110 melden. Frieder Wurm, der die NS-Zeit überlebt hat, gehörte von 1946 bis 1971 ohne Unterbrechung dem Gemeinderat an und blieb stets vielfältig sozialpolitisch engagiert! (11)
Auf dem Weg zurück ins Zentrum führt ein Abstecher von der Böblinger Straße zum Heslacher Friedhof, wo am Grab der Sinti-Familie Reinhardt das Relief einer stehenden Trauernden an die 1943 in Auschwitz-Birkenau ermordete Maria Adelheid Reinhardt (1923-1943) erinnert. Der hier ebenfalls begrabene Karl Reinhardt (geboren 1874) starb am 10. März 1943 in einer Stuttgarter Klinik – fünf Tage, bevor die ganze Familie mit Hunderten Sinti aus ganz Württemberg von Stuttgart aus nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Bis Ende 1944 fielen 18 Angehörige aus dem engsten Familienkreis der Reinhardts dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer.
Nicht auf diesem Friedhof im Zentrum Heslachs, sondern auf dem Waldfriedhof befinden sich auch die Gräber prominenter Hitler-Gegner und Widerstandskämpfer wie die von Anton Hummler und Fritz Rau:
Der 1908 in St. Gallen geborene Anton Hummler kam 1927 nach Stuttgart und qualifizierte sich beim Bosch zum Maschineneinsteller. Er war im Arbeitersport aktiv und schloss sich 1930 der KPD an. Aus dieser Zeit kannte er wohl auch den Steindrucker Max Wagner (1899-1944), Mitglied im „Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität“ und seit 1930 ebenfalls in der KPD. Ab 1936 arbeitete Wagner als Ankerwickler beim Bosch. Beide wohnten damals in der Moltkestraße (heute Bebelstraße) im Stuttgarter Westen. Abends trafen sie sich mit anderen, um Karten zu spielen und bei dieser Gelegenheit ausländische Radiosender zu hören. Nachrichten wurden aufgeschrieben und weitergegeben, Ausflüge und Wanderungen am Wochenende dienten dem Informations- und Meinungsaustausch. Ab 1937 intensivierte die Gruppe um Hummler und Wagner den Kontakt zu Herbert Bogdan, Leiter einer Berliner Widerstandsgruppe, den Hummler 1932 bei einer Veranstaltung der Arbeitersportler kennengelernt hatte. Im Juni 1943 wurde vereinbart, dass der jüdischen Zahnarzt Dr. Walter Glaser aus Berlin von Emil Ehrat, einem Mitglied der Stuttgarter Gruppe, über die Schweizer Grenze gebracht werden sollte. Doch Ehrat war ein Gestapo-Spitzel! Der Fluchtversuch schlug fehl und Hummler und Wagner wurden verhaftet und gefoltert. Sie gaben jedoch keine Namen preis. Zudem fand Anton Hummlers Frau Frida in der blutverschmierten Kleidung ihres Mannes, die sie im Gefängnis abgeholt hatte, einen Zettel: „Ehrat ist ein Verräter.“ So konnte sie heimlich ihre Bekannten warnen. Anton Hummler und Max Wagner wurden am 4. August 1944 von der Nazi-Justiz wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung“ zum Tode verurteilt und am 25. September 1944 im Zuchthaus Brandenburg mit dem Fallbeil hingerichtet. Erst die Recherchen für die Stolperstein-Verlegung am 24. September 2007 beförderten den letzten Brief von Anton Hummler zutage, den er unmittelbar vor seiner Hinrichtung geschrieben hatte. Dieser Brief lag über 60 Jahre in staatlichen Archiven – zuletzt im Bundesarchiv – ohne dass die Angehörigen informiert wurden. Das ist bezeichnend für den Umgang mit den Akten des faschistischen Volksgerichtshofes und die „Aufarbeitung“ des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte!(12)
Schräg gegenüber vom ehemaligen Polizeirevier – in der Böblinger Straße 105 – entstand 2010 ein selbstverwaltetes Hausprojekt mit linkem Anspruch, das sich mittlerweile nach Liselotte „Lilo“ Herrmann (1909-1938) nennt. Herrmann studierte zunächst von 1929 bis 1931 in Stuttgart Chemie, dann ab 1931 Biologie in Berlin, wo sie im Juli 1933 der Universität verwiesen wurde, weil sie einen Aufruf zur Verteidigung demokratischer Rechte und Freiheiten unterzeichnet hatte. Am 15. Mai 1934 wurde ihr Sohn Walter geboren, im September kehrte sie nach Stuttgart zurück und arbeitete als Stenotypistin im väterlichen Ingenieurbüro. Diese Tätigkeit nutzte sie, um für den geheimen Apparat der KPD, deren Mitglied sie seit 1931 war, Informationen über die illegale Aufrüstung Nazi-Deutschlands – z. B. bei den Friedrichshafener Dornier-Werken – in die Schweiz zu schmuggeln. Auf ihre Verhaftung im Dezember 1935 in der elterlichen Wohnung und quälende Gestapo-Verhöre im Hotel Silber folgte am 12. Juni 1937 das Todesurteil wegen „Landesverrat, begangen in Tateinheit mit Vorbereitung zum Hochverrat unter erschwerenden Umständen“. Weder internationale Proteste noch Gnadengesuche konnten verhindern, dass Lilo Herrmann am 20. Juni 1938 als erste Frau und Mutter wegen ihres politischen Widerstands gegen die Nazis zusammen mit Stefan Lovasz, Josef Steidle und Artur Göritz in Plötzensee unter dem Fallbeil starb. Bei der Stolperstein-Verlegung am 14. März 2008 in der Hölderlinstraße 22 in Stuttgart-Nord zeigte sich der damals 73-Jährige Walter Herrmann sehr erfreut darüber, dass auf diese Weise an seine Mutter erinnert wird. Ein Stolperstein für seinen Vater – der Stuttgarter Journalist Fritz Rau war schon am 20. Dezember 1933 bei einem Gestapo-Verhör im Gefängnis Berlin-Moabit erschlagen worden – steht ebenso noch aus wie z.B. für Göritz und Steidle.
Im Haus daneben – in der Böblinger Straße 103 – befand sich die Schuhmacherei Schlegel, in der bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht am 20. Januar 1942 Gustav Stange aus Stammheim gearbeitet hatte. Als Zeuge Jehovas lehnte er den Hitlergruß ab, wollte keinen Eid auf Hitler leisten und auch keine Waffe in die Hand nehmen. Wegen „Wehrkraftzersetzung“ wurde der 39-Jährige am 20. Februar 1942 von einem Stuttgarter Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Bei der Gerichtsverhandlung einen Monat zuvor soll er gefragt worden sein, was denn wäre, wenn sich alle so verhielten. „Dann wäre der Krieg gleich zu Ende“, habe Stange zur Antwort gegeben, wie bei der Stolperstein-Verlegung vor seinem Wohnhaus am 8. Mai 2007 in der Münchinger Straße 5 in Stuttgart-Stammheim – der ersten in Stuttgart für einen Zeugen Jehovas – berichtet wurde. Mit der Unterschrift unter eine Erklärung, wie sie nur den Zeugen Jehovas vorgelegt wurde, hätte er freikommen können, doch der Glaube war ihm wichtiger als sein eigenes Leben. Gustav Stange starb am 20. Februar 1942 auf der Schießbahn Dornhalde.
Weiter stadteinwärts liegt – auf Höhe der Matthäuskirche – der nach dem gelernten Schriftsetzer und sozialdemokratischen Politiker Erwin-Schoettle (1899-1976) benannte Platz. Schoettle hatte sich in den 1920er-Jahren vor allem um den Parteinachwuchs gekümmert und war ab 1931 Stuttgarter Parteisekretär. Nach der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 ging er zunächst in den Untergrund, bevor er am 17. Mai 1933 in die Schweiz emigrierte, von wo er als „Grenzsekretär“ den sozialdemokratischen Widerstand organisierte, obwohl er verstärkt auf Distanz zum Prager Exilvorstand der SOPADE ging („alte Firma“ zu lasch und mitschuldig an der gescheiterten Politik) und sich immer mehr der Gruppe „Neu Beginnen“ um Walter Löwenthal annäherte (Sturz des Faschismus nur durch planmäßig vorbereitete Aktion einer revolutionären Partei). Zu Aufklärungs- und Schulungszwecken (für die verlässlichen Kader aus SAJ und Partei) verfasste er in der Schweiz den „Roten Kurier“ und Flugblätter, die fotografiert und dann als Negative von Kurieren – u.a. von seiner Frau Helene Schoettle – nach Ravensburg und zu Frieder Wurm, dem Leiter der Stuttgarter Gruppe (siehe oben), gebracht wurden. Im März 1935 zerschlug die Gestapo eine andere sozialdemokratische Gruppe um den Feuerbacher Modelltischler und Arbeitersportler Wilhelm Braun, die Zeitschriften und Material der Exil-SPD verbreitet hatte.(13) Als Wurm und weitere Verbindungsleute im Herbst 1936 trotz aller Vorsichtsmaßnahmen festgenommen wurden, kam die organisierte Widerstandsarbeit in der Region weitgehend zum Erliegen. 1939 ging Schoettle mit Frau und Tochter nach England, wo er sich mit Erfolg für die Vereinigung der dorthin emigrierten deutschen Sozialdemokraten und Sozialisten einsetzte. Nach seiner Rückkehr 1946 wurde er Mitherausgeber der „Stuttgarter Nachrichten“, war bis 1972 Parlamentarier auf Landes- und Bundesebene, führte von 1947 bis 1962 die SPD im Land und gehörte von 1948-1972 dem SPD-Bundesvorstand an.
Im Umkreis der Adlerstraße erinnern zahlreiche Stolpersteine an jüdische Opfer des Nazi-Terrors – so in der Böblinger Straße 45 an Jakob und Hilde Lederer, in der Böblinger Straße 38 an Norbert und Emma Weissberg sowie in der Böblinger Straße 27 B an Isaak und Martha Fortgang und deren Sohn Hermann,(14) die alle am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert wurden und in der Shoah den Tod fanden. Überhaupt spiegelt die Adlerstraße die Ereignisse der damaligen Zeit wie in einem Brennglas wider:
Vor dem Haus in der Adlerstraße 24 wurde am 16. März 2005 einer der ersten Stolpersteine in Stuttgart für ein politisches Opfer des NS-Regimes verlegt. Hier hatte seit 1911 mit Unterbrechungen die Kontoristin Else Himmelheber (1905-1944) gewohnt. 1931 war sie nach Berlin gezogen, um für die Reichsleitung der KPD zu arbeiten, 1933 wurde sie verhaftet und bis 1938 im niedersächsischen Konzentrationslager Moringen festgehalten. Aus der für Juni 1944 geplanten Hochzeit mit Friedrich Schlotterbeck, den sie noch aus dem kommunistischen Jugendverband kannte und der erst im August 1943 nach fast zehn Jahren in Haft (zuletzt im Konzentrationslager Welzheim) freigekommen war, wurde nichts. Eugen Nesper, früher ebenfalls Jungkommunist und Untermieter der Schlotterbecks in Luginsland, hatte der Gestapo als Lockvogel gedient und die ganze Familie sowie mehrere ihrer Bekannten verraten. Friedrich und sein Bruder Hermann, dessen Freund Karl Stäbler und Else Himmelheber versuchten auf getrennten Wegen in die Schweiz zu fliehen, doch nur Friedrich gelang die Flucht (Stäbler konnte sich bis Kriegsende verstecken, Hermann wurde kurz vor Kriegsende in der Nähe von Riedlingen in Oberschwaben ermordet). Else Himmelheber wurde am 30. November 1944 in Dachau zusammen mit Friedrichs Eltern Gotthilf und Maria Schlotterbeck, deren Tochter Gertrud Lutz, Erich Heinser, Emil Gärttner, Sofie Klenk(15) sowie Emmy Seitz [siehe oben] und deren Schwager Hermann Seitz(16) ohne Gerichtsverhandlung erschossen. Eine Familie, die ihren humanistischen Idealen treu geblieben war und gegen Hitlers Krieg gekämpft hatte, war mitsamt Freunden, die an ihrer illegalen Arbeit(17) gar nicht beteiligt waren, ausgerottet worden. Letztlich dürfte die Weigerung Friedrich Schlotterbecks, sich nach seiner Entlassung aus dem KZ-Lager Welzheim als Spitzel einspannen zu lassen, ausschlaggebend für den blutigen Rachefeldzug der Gestapo gegen die Schlotterbeck-Familie und ihren Freundeskreis gewesen sein! Nach dem Krieg nahm Friedrich Schlotterbeck Wilfriede Lutz – die Tochter seiner Schwester Gertrud – bei sich auf. Sie war nach der Verhaftung ihrer Mutter in ein NS-Kinderheim gekommen. Ironie der Geschichte: 1948 ging Friedrich Schlotterbeck in die damalige sowjetische Besatzungszone, geriet aber mit seiner undogmatischen Art bald in Konflikt zu den Mächtigen der DDR und musste 1953 aufgrund absurder Anschuldigungen erneut drei Jahre ins Gefängnis. Wilfriede kam nun in ein DDR-Kinderheim. Friedrich Schlotterbeck wurde später rehabilitiert und starb im April 1979 in Berlin, die Grabrede hielt die Schriftstellerin Christa Wolf.
In der Adlerstraße 27 unterhielt der Schuhmacher Friedrich Blumhardt zeitweise ein getarntes KPD-Büro. Im April 1934 wurde ihm bei einer Verhandlung gegen sechs Kommunisten vor dem Sondergericht in Stuttgart vorgeworfen, von April 1933 bis März 1934 “für die KPD und deren Hilfsorganisationen, insbesondere den Roten Frontkämpferbund, die Internationale Arbeiterhilfe und die Rote Hilfe Zusammenkünfte zwischen auswärtigen Kurieren und Stuttgarter Funktionären dieser Organisationen vermittelt zu haben.” Der Schlosser Emil Joas (1908-1943), Leiter der Heslacher Gruppe des im Untergrund arbeitenden Rot-Front-Kämpferbundes, wurde beschuldigt, im August 1933 in Blumhardts Wohnung mit einem Kurier zu einer Besprechung zusammengetroffen zu sein. Joas kam 1940 ins Konzentrationslager Dachau, wo er am 26. Februar 1943 ermordet wurde.(18)
Neben Handwerk und Kleingewerbe gab es in der Gegend um die Adlerstraße zahlreiche – zum Teil jüdische – Großbetriebe, die für Heslach als Industrievorstadt prägend waren. So gründeten die Gebrüder Engländer 1905 in der Adlerstraße 43 eine Gardinenfabrik. Im Haus Nummer 41 siedelte sich 1906 die Schürzen- und Wäschefabrik von Hayum & Schwarz an, aus der nach dem Einstieg der ebenfalls jüdischen Familie Harburger die Vereinigten Bekleidungswerke Stuttgart wurden. Hier war auch Robert Harburger als Zuschneider tätig, der am 1. März 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde.(19) Der elterliche Betrieb wurde in den 1930er-Jahren liquidiert bzw. „arisiert“ – ebenso wie die nur wenige hundert Meter entfernt, direkt hinter dem Schwabtunnel gelegene große Stuttgarter Trikotagenfabrik der Gebrüder Loeb in der Reinsburgstraße 96 im Stuttgarter Westen. An Martin Loeb und seine Frau “Lolo” erinnern seit dem 8. Mai 2007 Stolpersteine in der Hohenzollernstraße 12.
Die über dem Schwabtunnel verlaufende Hasenbergsteige bildet die Grenze zwischen dem südlichen Stadtteil Heslach und dem Stadtbezirk Stuttgart-West.
Im großbürgerlichen Ambiente der Hasenbergsteige 79 war der wohl aus einer vermögenden Familie stammende Kunsthistoriker Dr. Gottfried Hermann Wurz (1879-1945) zu Hause. Hier im „Haus Hohenburg“ trafen sich Oppositionelle und Kriegsgegner aus dem gesamten Stadtgebiet und aus allen sozialen Schichten. Zusammen mit dem Uhrmacher Adolf Klumpp (1881-1945) leitete Wurz seit Herbst 1943 die Stuttgarter Sektion des Nationalkomitees „Freies Deutschland“, das nach der Schlacht von Stalingrad am 12./13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau von kommunistischen Exilanten und deutschen Kriegsgefangenen gegründet worden war und sich für eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges einsetzte. Am 21. Juni 1944 wurden insgesamt 26 Personen, darunter Wurz und Klumpp, wegen ihrer Tätigkeit in der „seit längerer Zeit beobachteten marxistisch-kommunistischen Gegner-Gruppe“ von der Gestapo verhaftet. Dr. Gottfried Hermann Wurz kam auf den Hohenasperg und im März 1945 ins Konzentrationslager Flossenbürg (Oberpfalz). Dort traf er Adolf Klumpp wieder, aber beide erlebten die Befreiung durch die US-Armee nicht mehr. Die Wachmannschaften verließen Flossenbürg mit den letzten Todesmärschen am 20. April 1945, Wurz war so geschwächt, dass er einfach erschossen wurde, wie Klumpp starb, ist nicht bekannt.(20)
Die Reihe der Einzelschicksale von Regimegegnern ließe sich noch um weitere Beispiele aus anderen Stadtteilen ergänzen: Menschen, die mit oder ohne Urteil hingerichtet wurden, in einem Lager oder in der Haft ihr Leben verloren oder an den Folgen des Nazi-Terrors starben. Sie kamen zumeist aus der organisierten Arbeiterschaft (insbesondere KPD, KPO, SPD und Naturfreunde), manche wurden schon deshalb als „notorische Hetzer“ oder „üble Querulanten“ verfolgt, weil sie durch „abträgliche Äußerungen“ über Partei und Staat oder „defätistische Reden“ am Arbeitsplatz aufgefallen waren (wie Gottlob Häberle aus Vaihingen und Christian Elsässer aus Rohr). In Degerloch, Stuttgart-Ost, Wangen und Stammheim erinnern Stolpersteine an Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und “Wehrkraftzersetzer“, wobei die Erschießung des Stammheimers Karl Bauch durch einen Wehrmachtsleutnant kurz vor Kriegsende in Möglingen besonders absurd ist. Er hatte dort in Stellung liegenden Soldaten gesagt, sie könnten heimgehen, die Franzosen seien schon in Schwieberdingen, er habe im „Lamm“ ein Bier mit ihnen getrunken!
Otto Hirsch und Julius Baumann waren Juden, die trotz aller Gefahr für das eigene Leben selbst nicht emigrierten, um ihren jüdischen Schicksalsgenossen zu helfen. Hirsch ermöglichte als geschäftsführender Vorsitzender der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ (1939 umgewandelt in die Zwangsorganisation „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“) bis zu seiner Verhaftung im Februar 1941 vielen Juden die Auswanderung.(21) Baumann – Leichtathlet, Sportlehrer und Fußballschiedsrichter – organisierte Kindeferienlager, Sportunterricht und Kulturabende für die israelitischen Gemeinde, sein Visum für England wurde nach Kriegsbeginn ungültig; beim Versuch, in der Markthalle heimlich Lebensmittel für hungernde Juden zu kaufen (seit April 1941 war Juden das nur noch im „Judenladen“ in der Seestraße 41 gestattet!), wurde er verhaftet, über das Konzentrationslager Welzheim nach Mauthausen verschleppt und dort im Oktober 1942 „auf der Flucht“ erschossen.(22)
Auch wenn die Geschichte des Widerstands nicht allein am Beispiel der Opfer erzählt werden kann, so zeigen die Einzelschicksale in ihrer Gesamtheit doch
– dass es schon vor der „Machtübernahme“ 1933 und bis zum Kriegsende 1945 Widerstand gegen die Nationalsozialisten gab,
– dass dieser Widerstand nicht immer gleich war, sondern wellenförmig verlief und je nach politischer und militärischer Situation verschiedene Formen annahm,
– dass antifaschistischer Widerstand aus allen sozialen Schichten mit unterschiedlichen individuellen Motiven und weltanschaulichen Überzeugungen geleistet wurde,
– dass es stets nur wenige waren, die sich unter hohem persönlichen Risiko bei geringen Erfolgsaussichten dem Nationalsozialismus verweigerten oder gar widersetzten.
Obwohl die ansonsten tief zerstrittene Arbeiterbewegung schon frühzeitig gewarnt hatte, Hitler bedeute Krieg, war doch die Hoffnung weit verbreitet, alles würde nicht so schlimm und die Nazis hätten bald abgewirtschaftet. Die erste Terrorwelle zwischen Februar und September 1933 machte solche Illusionen zunichte. Sie traf Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter relativ unvorbereitet und wirkte extrem einschüchternd. In den folgenden Jahren konnte die Gestapo mit Hilfe von Spitzeln und Denunzianten die meisten aktiven Widerstandsgruppen zerschlagen. Statt massenhaft Zeitungen und Flugblätter zu verteilen ging es spätestens ab 1936/1937 hauptsächlich darum, im Familien- und Freundeskreis den Zusammenhalt und die eigenen Traditionen zu pflegen. Erst mit der zunehmenden Judenverfolgung, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und insbesondere nach der Schlacht von Stalingrad begann eine neue Phase des Widerstands. Die Hilfe und Unterstützung für Juden, andere Verfolgte und Kriegsgefangene, der kirchliche Protest gegen die „Euthanasie“-Aktion, die Sabotage der Rüstungsproduktion und die Verweigerung des Kriegsdienstes, die Flugblätter der „Weißen Rose“ sowie die Attentate auf Hitler und die damit verbundenen Umsturzversuche wären nicht möglich gewesen, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die ihre geistige Eigenständigkeit und ihre humanistischen Ideale gegen den totalen Machtanspruch der Nazis bewahrt hatten. Die Nazis nahmen das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 zum Anlass, Tausende Regimegegner auszuschalten. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie an dem Umsturzversuch auch tatsächlich beteiligt waren. Wer in der Vergangenheit Haltung gezeigt hatte, war schon verdächtig und wurde Opfer dieser Menschenjagd. War auch der deutsche Widerstand nicht in der Lage, aus eigener Kraft das Nazi-Regime zu beseitigen und den von ihm angezettelten Weltkrieg zu beenden, so kämpften doch deutsche Antifaschistinnen und Antifaschisten unter Einsatz ihres Lebens bis zur letzten Stunde für ein freies und menschenwürdiges Leben.(23)
Werner Schmidt
(27.11.2023 – überarbeitete, teilweise korrigierte und ergänzte Fassung des gleichnamigen Beitrags aus dem zweiten Stolpersteinbuch)
Fußnoten
1 Die Siedlung Eiernest, ursprünglich Aiernest oder Aarnest, heißt nach dem gleichnamigen Gewann am Rand von Heslach. Zwischen Lerchenrain und Hahnwald im Westen, Scharrenberg und Haigst im Osten gelegen, ähnelt die Buchtlage des Gewanns dem Nest eines großen Vogels (Aar).
2 An das Schicksal von Theodor Decker erinnert seit Mai 2009 ein Stolperstein in der Schönbühlstraße 78 im Stuttgarter Osten.
3 Das Schicksal von Karl Maier hat dessen Urenkel Andreas Frech detailliert recherchiert und so die Verlegung des Stolpersteins für seinen Urgroßvater am 15. März 2023 in der Liebigstraße 35 erst möglich gemacht. Damit wurde nicht nur an das „Stuttgarter Kabelattentat“ erinnert, sondern auch ein Herzenswunsch der 2008 verstorbenen Tochter Edith Frech, geb. Maier erfüllt.
4 Stolpersteine für Heinrich und Maria Rexer in der Furtwänglerstaße 18 am 9. Oktober 2010
5 Stolperstein für Walter Häbich in der Beethovenstraße 48 am 8. Mai 2007
6 Stolperstein für Lilly Abele am 30. April 2010
7 Stolperstein für Lina Hatje am 24. September 2007
8 Seit dem 28. April 2006 erinnert in der Altenbergstraße 42 ein Stolperstein an Jenny Grimminger – das vergessene Opfer des Widerstands der „Weißen Rose“. Der Gedenkstein wurde am 26. Oktober 2022 erneuert. Gleichzeitig erhielt auf Anregung von Holger Martens (Hamburger Historiker-Genossenschaft) auch Eugen Grimminger einen Stein.
9 Stolperstein für Alfred Broghammer am 17. September 2012
10 Stolperstein für Helle Hirsch in der Seestraße 89 am 8. Mai 2007 in Stuttgart-Nord
11 Stolperstein für Frieder Wurm am 15. März 2023 in der Böblinger Straße 158 am Bihlplatz
12 Stolpersteine in der Bebelstraße 29/2 für Max Wagner und in der Bebelstraße 43/1 für Anton Hummler
13 Wilhelm Brauns Ehefrau Maria, die bis 1936 im Frauengefängnis Aichach saß, verabredete mit ihrer Zellengenossin Luise Kohler die Ehe ihrer Kinder. So wurde Luise die Schwiegermutter von Brauns Tochter Lydia Kohler. Die Feuerbacher Familien Braun und Kohler kannten sich über die Tätigkeit im Widerstand. Luise Kohler, die am 4. November 1941 an den Folgen der Haft starb, erhielt am 20. Mai 2009 in der Klagenfurter Straße 11 in Feuerbach einen Stolperstein.
14 Stolpersteine für Jakob und Hilde Lederer am 5. Oktober 2009, Stolpersteine für Norbert und Emma Weissberg am 15. März 2008 sowie Stolpersteine für Isaak und Martha Fortgang und deren Sohn Hermann am 8. Mai 2007
15 Stolperstein für Gertrud Lutz am 5. Oktober 2009 auf dem Haigst in Degerloch (ihr Mann Walter Lutz war im Oktober 1942 – zwei Monate nach der Geburt der Tochter Wilfriede – an der Ostfront gefallen), Stolperstein für Emil Gärttner am 19. Mai 2009 in der Augsburger Straße 601 in Obertürkheim, Stolperstein für Sofie Klenk am 8. Mai 2007 in der Manfredstraße 17 in Luginsland
16 Stolperstein für Hermann Seitz am 6. November 2023 in der Haußmannstraße 174 in Stuttgart-Ost
17 Die illegale Arbeit der Gruppe Schlotterbeck bestand z. B. in der Weitergabe von Informationen über den Stand der deutschen Rüstungsindustrie an die Alliierten.
18 Stolperstein für Emil Joas am 28. April 2006 in der Adlerstraße 48
19 Stolperstein für Robert Harburger am 15. März 2008 in der Entringer Strasse 39 in Degerloch
20 Stolperstein für Dr. Gottfried Hermann Wurz am 10. November 2006 in der Hasenbergsteige 79; Stolperstein für Adolf Klumpp am 11. April 2011 in der Hohenheimer Straße 50 A
21 Stolperstein für den im Juni 1941 in Mauthausen ermordeten Otto Hirsch am 6. Oktober 2009 am Gähkopf 33
22 Stolperstein für Julius Baumann am 30. September 2008 in der Eberhardstraße 35
23 Mein Dank für Unterstützung, Hinweise und Anregungen geht an Siegfried Bassler, Ellen Breitling, Jörg Gaiß, Irma Glaub, Heinz und Heidi Hummler, Wolfgang Kress, Doris Kunkel, Jörg Kurz, Elke Martin, Jörg Munder, Doris Neu, Franz Schönleber und Heinz Wienand. Zur Schilderung der Einzelschicksale wurden insbesondere verwendet: die einschlägigen (im Buchhandel aber nur noch zum Teil erhältlichen) Veröffentlichungen von Siegfried Bassler, Willi Bohn, Roland Müller, Julius Schätzle und Friedrich Schlotterbeck, die Ausstellungskataloge des Hauses der Geschichte und des Projekts Zeitgeschichte im Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart sowie die Internetseiten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, des Linken Zentrums Lilo Herrmann, der SPD Baden-Württemberg, der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und des Deutschen Historischen Museums.