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Jüdische Kindertransporte

Im Jahr 1938 erreichte die nationalsozialistische Judenverfolgung ihren Höhepunkt, bevor mit dem Weltkrieg die Massenvernichtung begann.
Nachdem Pass und Visum für Erwachsene kaum mehr zu bekommen waren, wollte man wenigstens die Kinder retten.
Ein ursprünglicher Plan der ?Jewish Agency?, die Kinder nach Palästina zu bringen, wurde von den Engländern abgelehnt. Gleichzeitig wurde aber nach den Berichten von den Ausschreitungen nach der ?Kristallnacht? vom englischen Parlament die Einreise für 10 000 Kinder nach England gewährt.
Bedingung war eine Bürgschaft von 50 Pfund pro Kind (entsprach etwa 3 Monatsgehältern), um eine geplante spätere Weiterreise finanzieren zu können. Die Kinder bekamen ein Sammelvisum, die Genehmigungsnummer trugen sie bei der Einreise an einem Kärtchen um den Hals.

Die Eltern mussten Anträge über ihre jüdische Gemeinden stellen, viele konnten nicht berücksichtigt werden. Jedes Kind durfte nur einen Koffer und ein Handgepäckstück mitnehmen, Kleidung hatte Vorrang.
In einer beispiellosen Aktion wurden zwischen Dezember 1938 und September 1939 etwa zehntausend jüdische Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren von Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen nach England gebracht, wo sie in Sicherheit vor den Verfolgern in Nazi-Deutschland waren. Von diesen Kindern sahen höchstens ein Drittel nach dem Kriege ihre Eltern wieder.
Der Beginn des II. Weltkriegs im September 1939 beendete die Aktion.
Die USA nahmen im gleichen Zeitraum 2 000 Kinder auf.

Der erste Transport verließ am 30.11.1938 Berlin. Es waren 196 Kinder eines jüdischen Waisenhauses, das in Brand gesteckt worden war. Am 2.12.1938 erreichte die Fähre die englische Küste bei Harwich. Die Kinder mit ihrem spärlichem Gepäck und von einigen Betreuern begleitet betraten nach einer 30-stündigen Reise ein ihnen bisher unbekanntes Land.
Gertrud Wejsmuller-Meijer, eine holländische Bankiersfrau, hat sich in Wien bei Eichmann, dem Leiter des NS-Judenreferats, persönlich um die Ausreisebewilligung bemüht und um die Organisation der Kindertransporte gekümmert. In England wurde ein Empfangskomitee (später ?Refugee Childrens Movement?-RCM) gebildet, das sich um Unterkunft und Versorgung kümmerte. Gastfamilien mussten Fragebogen ausfüllen (z. B. Angabe von Alter, Familienstand, Religion, Bildung, Sprachkenntnisse, soziale Verhältnisse), die die Kriterien für die Verteilung bildeten. Man versuchte die Kinder möglichst in ähnlichen Milieus anzusiedeln.
Für die Auswahl der zu verschickenden Kinder durch die jüdischen Gemeinden gab es keine festgelegten Kriterien, aber grundsätzlich dachte man an schon ältere Kinder und an solche, deren Eltern von den Nazis verhaftet oder bedroht waren. Das ganze musste oft ganz kurzfristig geschehen, weil die Genehmigungen oft willkürlich gegeben wurden. Körperlich oder geistige Behinderte oder kranke Kinder oder verhaltensauffällige Kinder konnten nicht vermittelt werden.
 
Weil die Transporte kurzfristig anberaumt werden mussten, kam auch der Abschied für viele sehr schnell:
Schreiende Kinder, die nicht von ihren Eltern getrennt werden wollten, weinende Familienangehörige, Väter und Mütter, die ahnten, dass es vielleicht ein Abschied für immer sein würde.
Bewacht wurden die Szenen von der Polizei. Weil die Eltern nicht bis zum Bahnsteig mit durften, musste der Abschied in einem speziell abgeriegelten Wartesaal stattfinden. Die Reisegruppen hatten einen Umfang von 30-500 Kinder.
Der Bahntransport wurde von der örtlichen jüdischen Gemeinde organisiert, aber von den Eltern bezahlt, meist wurden von der Reichsbahn zusätzliche Waggons an Linienzüge angehängt.
Wenige Begleiter, die unbedingt wieder nach Deutschland zurück mussten, um die Aktion nicht zu gefährden, brachten die Kinder dann während einer langen Fahrt ins Ausland. Erste Station war ein leerstehendes Feriencamp in Dovercourt, wo die Kinder blieben, bis sie eine Gastfamilie fanden.
Allerdings konnten nicht alle Kinder bei Familien untergebracht werden. Im Speisesaal wurden die Kinder ausgesucht, wer noch jung war und arisch aussah, hatte die größten Chancen. Wer übrig blieb, meist ältere und dunkelhaarige Jungen, wurde auf verschiedene Heime in ganz England verteilt. Rund 4 000 Kinder wurden so in Heimen untergebracht.  Das bekannte Warenhaus Marks & Spencer spendete Kleidung und Nahrungsmittel. Auch die englische Quäkerorganisation half bei der Unterbringung und Verpflegung, ein Spendenaufruf des Premierministers brachte die große Summe von 500 000 Pfund ein.
Für die Kinder war es eine große Umstellung: Fremde Sprache, Essen ungewohnt, Sitten und Umgangsformen fremdartig. Manche Kinder erhielten englische Namen. Die meisten trafen es gut an in ihren Pflegefamilien, manche hatten Schwierigkeiten oder wurden nur als billiges Dienstpersonal benutzt oder vernachlässigt. 
Als der Krieg begann, wurden alle über 16-jährige als ?Deutsche? auf der Isle of Man interniert. Als bald die deutschen Bomber die englischen Städte angriffen, wurden die Kinder aufs Land gebracht.
Wieder mussten sie sich auf eine neue Umgebung einstellen.
Das größte Problem war, dass man keine Briefe und Nachrichten mehr aus der Heimat bekam. Dafür immer mehr schreckliche Berichte und Gerüchte, die Angst und Sorge bereiteten.

Für den Lebensunterhalt der Kinder hatten die Pflegefamilien aufzukommen, für die Bekleidung gab es finanzielle Unterstützung vom RCM. Staatliche Mittel wurden von Anfang an ausgeschlossen.
Schwierig war die Herkunft aus ganz verschiedenen Heimatmilieus der Kinder: orthodoxe und assimilierte nicht religiöse Familien, arme und reiche, Österreicher gegen Berliner, umgekehrt gab es wieder ganz verschiedene soziale Milieus bei den Gastfamilien.

Nach dem Kriege suchten Englandkinder nach ihren überlebenden Angehörigen. Doch die meisten, die ihre Angehörigen verloren haben, kennen nicht das Todesdatum und die näheren Umstände.

Aber selbst die ersehnte Wiedervereinigung mit den Angehörigen schuf weitere Probleme. Man war sich im Laufe der Jahre fremd geworden, hatte keine gemeinsame Sprache mehr. Wenn die Kinder sich in ihren Familien eingelebt hatten, kam es zu Loyalitätskonflikten oder zur neuen Entwurzelung.

Die Kinder hatten später oft große psychische Probleme und Traumatisierungen:
Schuldgefühle, weil sie überleben konnten, Dankbarkeit und Verbitterung, Verlassensängste und Bindungsunfähigkeit, Heimatlosigkeitsgefühl.

Ein großer Teil der Kinder blieb in England, ein Teil wanderte nach Palästina und in die USA aus, meist weil sie dort Angehörige hatten.

Literatur:
?Ich kam allein” ? Die Rettung von zehntausend jüdischen Kindern ? dtv 30439;
Barry Turner ? Kindertransport ? Aufbau-Verlag, Berlin;
Die Kindertransporte 1938/39 ? Rettung und Integration ? Fischer-Taschenbuch 15745;
Rebekka Göpfert ? Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39
Campus-Verlag,  Frankfurt;
Olga Levy Drucker ? – Kindertransport – allein auf der Flucht ? Lamuv-Verlag, Göttingen

Jörg Kurz