Stuttgart und das Kriegsende – Ein Friedensappell, der durch Mark und Bein geht
Jan Sellner in der Stuttgarter Zeitung vom 09.05.2025
Wie intakt die Stadt doch wirkt an diesem 8. Mai 2025! Trotz ihrer vieler Baustellen. Blickt man durch die Brille der Geschichte zurück auf den 8. Mai 1945, dann bietet sich ein ganz anderes Bild. Ein Bild der Zerstörung: die Innenstadt in Trümmern, die Stiftskirche zerbombt, wie auch das Rathaus und das Alte Schloss.
80 Jahre später läuten um Punkt 12 Uhr die Kirchenglocken zum Gedenken – auch die im Krieg abgenommenen Glocken der Stiftskirche, die eingeschmolzen werden sollten. Treffen sich Geschichtsinteressierte vor der Stauffenberg-Gedenkstätte hinter dem ebenfalls längst wieder aufgebauten Alten Schloss. Versammeln sich einige Hundert Menschen auf Einladung eines Bündnisses aus Stolperstein-Initiativen, der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber, des Stadtjugendrings, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der Gewerkschaften und anderer Organisationen, auf dem Karlsplatz um an die „Befreiung von Faschismus und Krieg“ zu erinnern.
Olschowski ist für ein AfD-Verbotsverfahren
Dort hört man an diesem 8. Mai Kunst- und Wissenschaftsministerin Petra Olschowski in einer flammenden Rede sagen, die „Gegenwartskulisse“ dieses 80. Jahrestags mache lebendiges Erinnern dringender denn je. Es ist klar, wer gemeint ist: die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD. Olschowski spricht sich für ein Verbotsverfahren aus und bekommt dafür Applaus.
Die Zuhörer, viele selbst in der Erinnerungsarbeit aktiv, hören, wie die Grünen-Politikerin warnt, Erinnerungsarbeit erreiche leider „zu viele Menschen nicht“, so engagiert diese in Stuttgart auch betrieben werde. „Wir können es uns nicht leisten, Junge an Hetzer und Leugner zu verlieren“, sagt sie. Immerhin, der Stadtjugendring ist vertreten. Olschowskis Appell richtet sich an alle: „Geschichte wird von Menschen gemacht. Jede und jeder von uns ist gefordert.“
Im Schatten des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, das den Sieg des Kaiserreichs über Frankreich feiert, tritt an diesem 8. Mai auch der französische Generalkonsul Gaël de Maisonneuve ans Mikrofon. Er hebt die deutsch-französische Freundschaft hervor, die sich nach dem Krieg zwischen den einstigen Feinden entwickelt habe und sich in vielen Städtepartnerschaften zeige. Er erinnert auch an den Europatag, der sich am 9. Mai zum 75. Mal jährt und auf der berühmten Erklärung des französischen Ministerpräsidenten Robert Schuman vom 9. Mai 1950 fußt, einem der Gründungsdokumente Europas.
Ein anderes, nämlich „sozial gerechteres Europa“ wünscht sich Ulrich Schneider, Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer. Außerdem solle der 8. Mai endlich Feiertag werden! Dem stimmen viele zu. Auch Musik erklingt 80 Jahre nach Kriegsende auf dem Karlsplatz. Der Chor Musica Lesbiana singt, und die Stuttgarter Guttenberger Brothers spielen Gypsy Jazz. In Kurzbiografien werden Verfolgte des Naziregimes vorgestellt. Die Erinnerung lebt. Zumindest hier.
Der 8. Mai – er ist auch anderswo in der Stadt präsent. Auf die Treppen am Schlossplatz hat jemand mit Kreide „8. Mai 1945 -Ende des Kriegs“ geschrieben, neben das stadtbekannte „Oben bleiben!“ In der „Activity Area“ des Trickfilmfestivals auf dem Schlossplatz zeigt der Verband Region Stuttgart eine Ausstellung „Stimmen für Demokratie und Vielfalt“ mit Zitaten bekannter Nazi-Gegner wie Willi Bleicher, Eugen Bolz oder Fritz Bauer. Dazu Menschen aus der Region, die sich heute für Frieden, Freiheit und Demokratie einsetzen. Darunter Alexander Wehrle, Vorstandsvorsitzender VfB-Stuttgart. Unter seinem Foto steht der Satz: „In einer Zeit, in der politische und gesellschaftliche Kräfte versuchen, Akzeptanz und Gleichberechtigung zurückzudrängen, ist es wichtiger denn je, laut und sichtbar zu bleiben.“
Laut und sichtbar sind an diesem Tag auch die Antifaschisten, die Kränze an dem 1970 eingeweihten Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus niederlegen und bei der Gelegenheit Widerstand gegen den Kurswechsel in der Migrationspolitik ankündigen, während das Haus der Geschichte Themenführungen zum 8. Mai anbietet, und in der Domkirche St. Eberhard der katholische und der evangelische Stadtdekan, Christian Hermes und Søren Schwesig, gemeinsam an das Kriegsende erinnern.
Das Friedenskonzert – ein bewegendes Ereignis
Besonders eindringlich – und laut – zeigt sich dieser 8. Mai am Abend in der vollbesetzten Stiftskirche. Kammerorchester, Kantorei, Philharmoniker, dazu zwei Chöre aus Straßburg und Warschau führen unter der Leitung des amerikanisch-israelischen Dirigenten Steven Sloane die Symphonie Nr. 2 von Gustav Mahler auf, genannt die Auferstehungssinfonie. Mahlers Musik, so beschreibt es Christian Lorenz, der Intendant der Philharmoniker, „führt aus dem Dunkel von Tod und Zerstörung hin zu einer strahlenden Vision von Trost, Erneuerung und menschlicher Würde“. Man wolle damit „ein musikalisches Zeichen der Erinnerung und der Hoffnung“ setzen.
Stuttgarts OB Frank Nopper greift den Gedanken auf: „Das Kriegsende machte die Auferstehung Deutschlands möglich“, sagt er. Er spricht von „mentalen Aufräumarbeiten“ nach dem Krieg und meint Stuttgarter Schuldbekenntnis der Protestanten und die Charta der Heimatvertriebenen. Kunststaatssekretär Arne Braun sieht im 80. Jahrestag den Auftrag, „gemeinsam für Frieden, Freiheit und Demokratie einzutreten“ und beschwört, wie Ernst-Wilhelm Gohl, der evangelische Landesbischof, die verbindende Kraft der Musik. Gohl nennt die Aufführung ein „Friedenskonzert ehemaliger Feinde“. Es sei wichtig, europäisch zu denken und nicht nationalistisch.
Die Aufführung selbst wird zu einem Ereignis, das in positivem Sinne durch Mark und Bein geht. Die vereinigten Orchester und Chöre verleihen Mahlers Sinfonie eine Kraft, von der man sich wünscht, sie möge friedensstiftend sein. An diesem Freitag, dem Europatag, gibt es eine Wiederholung. Man könnte auch sagen: eine Bekräftigung.
Stuttgart und der 8. Mai – Gegen den Schlussstrich
Jan Sellner auf StN-Online am 03.05.2025
80 Jahre nach Kriegsende gilt es, den Tendenzen zur Geschichtsvergessenheit entgegenzuwirken. Neben zeitlosen Formaten wie den Stolpersteinen braucht es neue Formen des Erinnerns. Ein Kommentar von Jan Sellner
Vor uns liegt eine Woche des Erinnerns und Gedenkens mit dem 8. Mai als zentralem Datum. Es ist der Tag, an dem sich das Ende des von Nazideutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährt – der zerstörerischte und verlustreichste Krieg in der Geschichte der Menschheit mit mehr als 60 Millionen Toten.
In Stuttgart endete der Krieg 16 Tage früher. Am 21. April marschierten französische Truppen ein, tags darauf übergab Oberbürgermeister Karl Strölin im Gasthof Ritter in Degerloch die Stadt an den französischen General Jacques Schwartz. Strölin war glühender Nationalsozialist, hatte jedoch erkannt, dass der Kampf verloren war. Die Zerstörungen waren so schon immens, wovon der Monte Scherbelino, der Trümmerberg, bis heute zeugt. Der 80. Jahrestag der Kapitulation könnte Anlass sein, an dem markanten Fachwerkbau am Degerlocher Albplatz mit einer Tafel an das Kriegsende zu erinnern. Noch immer begegnet einem im Stadtbild zu wenig Geschichte.
Doch sollte sie einem überhaupt begegnen? Und ist zu diesem Kapitel deutscher Geschichte nicht alles gesagt und aufgearbeitet? Dieser Meinung scheinen immer mehr Bürgerinnen und Bürger zu sein. Nach einer aktuellen, repräsentativen Befragung der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft, die regelmäßig die Einstellungen der Bundesbürger zur Erinnerung an die NS-Zeit untersucht, wünscht sich erstmals eine relative Mehrheit – 38,1 Prozent der Befragten – einen „Schlussstrich“. Nur 37,2 Prozent lehnten dies ab.
Geschichte nicht als „ vergangen“ abheften
Dieses Ergebnis muss zu denken geben, denn es ist Ausdruck eines Rückzugs aus der Verantwortung, die im Kern darin besteht, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten und damit auch an die Ursachen und Bedingungen seiner Entstehung. Wer Geschichte gedanklich als „vergangen“ abheftet, verkennt, dass sich zivilisatorischer Fortschritt nicht automatisch einstellt, sondern es steter Wachsamkeit bedarf, um die Gefahren zu erkennen, die Gesellschaften in ideologische Abgründe führen können. So stark und entschlossen das „Nie wieder!“ nach dem Zweiten Weltkrieg erklang, so sehr weist diese Haltung inzwischen Risse auf. Nur das Wissen um die Geschichte und die Beschäftigung mit ihr kann sie kitten. Der Holocaustüberlebende Primo Levi sieht darin einen bleibenden Auftrag: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“
Wie aber kommt man dieser Aufgabe am besten nach? Mag sein, dass Gedenktafeln nicht mehr zeitgemäß sind und auch Erinnerungskultur stärker in Social-Media-Formaten gedacht werden muss. Unsere mit dem Stadtarchiv entwickelte Videoserie „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“ setzt auf das Bewegtbild. Wichtig ist die Sichtbarkeit von Geschichte und die persönliche Ansprache – auch dann, wenn es keine Zeitzeugen mehr geben wird. Dazu braucht es neue Ideen gerade angesichts der Tendenz zur Geschichtsvergessenheit. Ein lohnendes Thema für die Gedenkveranstaltungen, die es zum 8. Mai auch in Stuttgart geben wird.
1053 Stolpersteine gibt es in Stuttgart – weitere folgen
Eine zeitlose Form des Gedenkens sind die Stolpersteine am letzten selbst gewählten Wohnort von NS-Opfern. Den ehrenamtlich tätigen und gedenkenden Frauen und Männern der 16 Stuttgarter Stolpersteininitiativen ist es zu verdanken, dass in Stuttgart 1053 dieser Steine verlegt und die Schicksale der verfolgten Menschen nachgezeichnet worden sind. Weitere Gedenksteine werden folgen, denn etliche Opferbiografien sind noch immer unerforscht. Von Schlussstrich kann auch hier keine Rede sein.