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Tagebücher der jüdisch-schwäbischen Familie Kahn entdeckt

Artikel aus den STUTTGARTER NACHRICHTEN vom 08.11.2007:

Historischer Fund aus dem Internet
Tagebücher der jüdisch-schwäbischen Familie Kahn entdeckt – Bei Lesung in Bad Cannstatt vorgestellt
 
Zufällig stieß der Historiker Olaf Schulze auf die 2361 Seiten starken Tagebücher und Hunderte Briefkopien der jüdisch-schwäbischen Familie Kahn. Der Fund aus dem frühen 20. Jahrhundert wurde am Mittwoch bei einer Lesung in der Stadtteilbücherei Bad Cannstatt erstmals vorgestellt.

VON MARKO BELSER

Neben gebrauchten Turnschuhen und neuester Elektronik kann man im Internet-Portal Ebay auch auf historische Funde stoßen. Diese Erfahrung machte Olaf Schulze. Regelmäßig durchsucht der Historiker das Internet nach geschichtsträchtigem Material über seinen Wohnort Bad Cannstatt. Im vergangenen Juni entdeckte er bei Ebay das Angebot eines israelischen Antiquars. Dieser bot die Tagebücher eines gewissen Siegfried Kahn, vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutendes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft Bad Cannstatts, zum Verkauf an. “Ich wollte die Tagebücher nach Cannstatt zurückholen”, sagt Schulze.

Nach dem Fund ging alles ganz schnell. Schulze verständigte das Ehepaar Anke und Rainer Redies, die wie er selbst in der Cannstatter Stolperstein-Initiative aktiv sind. Kurz entschlossen übernahmen die Redies die Kosten von 1500 Euro für die historischen Schriftstücke.

Kaum waren die historischen Bücher eingetroffen, machte sich im Hause Redies allerdings Enttäuschung breit. Nach der Lektüre von nur wenigen Seiten stellte sich heraus: Die Niederschrift stammte nicht aus der Feder des Cannstatters Siegfried Kahn, sondern behandelte das Familienleben der Brüder Seligmann und Sigfried Kahn, die in Stuttgart eine Textilagentur betrieben. Geschrieben wurden die Tagebücher von Seligmann Kahns Ehefrau Gretchen.

Zunächst wären sie schon etwas enttäuscht gewesen, gesteht Rainer Redies. Doch ziemlich schnell wandelte sich ihre Enttäuschung in Faszination. “Man lernt ein Stück Vergangenheit kennen, vom friedlichen Zusammenleben einer blühenden jüdischen Gemeinde mit dem Stuttgarter Bürgertum”, sagt Redies. Das Rentnerehepaar stürzte sich in die Lektüre.

Inzwischen haben sie etwa ein Zehntel der Dokumente ausgewertet. Dabei nahm die Transkription der in Sütterlin geschriebenen Texte weit weniger Zeit in Anspruch als die historische Recherche. Die Redies überprüften beispielsweise die Angaben zum 75. Geburtstag von Ferdinand Graf Zeppelin. Und tatsächlich: “Es stimmt ganz genau, es hat geregnet, und 20 000 Sänger haben gesungen”, sagt Anke Redies. Neben Tagebüchern aus den Jahren 1905 bis 1925 umfassen die Schriftstücke auch ein Kopier-Buch mit geschäftlicher Korrespondenz sowie ein Haushaltsbuch der Familie Kahn. Außer geschichtlichen Erlebnissen spiegeln die Dokumente den religiösen, privaten und geschäftlichen Alltag einer deutsch-jüdischen Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wider. Wenn es seine Auswertung abgeschlossen hat, will das Ehepaar Redies die historischen Bücher dem Stadtarchiv überlassen. Doch bis dahin gibt es noch viel zu lesen – mehr als 2000 Seiten.

Aktualisiert: 08.11.2007 06:14 Uhr