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Tage des Erinnerns an die Opfer der Nazizeit

Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 15.03.2008:

Tage des Erinnerns an die Opfer der Nazizeit
Hunderte begleiten die Verlegung der “Stolpersteine”
 
Der Künstler Gunter Demnig ist erneut in Stuttgart, um mit seiner Aktion “Stolpersteine” an die Opfer des Naziterrors zu erinnern. Heute findet am Nordbahnhof zum ersten Mal eine Gedenkstunde für die vor 65 Jahren ins KZ deportierten Sinti statt.

Von Thomas Borgmann

Mitte der neunziger Jahre hat der Kölner Gunter Demnig die “Stolpersteine” erdacht. Gestern sagte er: “Zunächst ging es mir um eine Kunstaktion, die den Ermordeten ihre Namen zurückgeben sollte. Damals hatte ich geplant, vielleicht einige Hundert in die Gehwege vor den Häusern einzubringen, in denen die Verfolgten vor ihrer Verhaftung und Deportation gewohnt hatten.” Mittlerweile seien daraus mehr als 14 000 Stolpersteine in vielen Städten geworden, und aus der Kunstaktion seien Geschichtsstunden entstanden. Vielerorts, wie auch in Stuttgart, hätten sich lokale Initiativen gegründet, die die Lebensläufe der Opfer erkunden und Spendengelder für die Aktion sammeln. Bereits Ende September werde er wieder in Stuttgart sein.

Gestern früh begann Gunter Demnig seine Aktion vor dem Haus Hölderlinstraße 22 im Norden mit einem Stolperstein für die 1938 in Berlin-Plötzensee hingerichtete kommunistische Widerstandskämpferin Lilo Herrmann. Sie war im Dezember 1935 in der elterlichen Wohnung verhaftet und später wegen Landesverrats zum Tode verurteilt worden. Lilo Herrmann gilt als erstes weibliches Opfer des Widerstands gegen Hitler.

Zum Gedenken an seine ermordete Mutter kam gestern Walter Herrmann aus Berlin in die Hölderlinstraße. Bei der Gedenkfeier in der nahen Gedächtniskirche, an der auch Schüler des Hölderlingymnasiums und des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums teilnahmen, sagte der 72-Jährige: “Ich freue mich sehr darüber, dass auf diese Weise an meine Mutter erinnert wird.” Auch sein Vater, der Stuttgarter Journalist Fritz Rau, sei ein Opfer des NS-Regimes – gestorben im Dezember 1934 während der Verhöre durch die Gestapo im Gefängnis. Zu dieser Zeit war Walter Herrmann noch nicht geboren. Später lebte er in Westberlin, während die DDR-Regierung Lilo Herrmann als Widerstandskämpferin für sich vereinnahmte. Er selbst habe sich “jedoch nie politisch betätigt – das war meine persönliche Konsequenz aus dem Schicksal meiner Eltern”.

Vor dem Haus Augustenstraße 39 B liegen seit gestern zwei Stolpersteine zur Erinnerung an das jüdische Ehepaar Emma und Paul Pick, die in Stuttgart ein Bekleidungsgeschäft führten. Als ihr Sohn Lutz wegen seiner jüdischen Herkunft das Karlsgymnasium und später auch die Schickhardt-Realschule verlassen musste, emigrierte die Familie ins Sudetenland, da sie glaubten, dort vor der Verfolgung sicher zu sein.

Doch Emma und Paul Pick wurden 1941 deportiert, zunächst in das KZ Theresienstadt, später in das Ghetto von Riga. 1944 wurden beide ermordet: Paul Pick in der Nähe von Riga, Emma Pick im KZ Stutthof. Ihre Mutter Lina Baum ist 1944 in Auschwitz umgekommen; für sie wurde gestern vor dem Gebäude Marktplatz 19 ebenfalls ein Stolperstein eingebracht. Paul Picks Mutter Anna war bereits 1942 in Auschwitz ermordet worden. Richard und Lutz, die Söhne des Ehepaars Paul und Emma Pick, trafen sich als Soldaten der US-Armee kurz vor Kriegsende zufällig wieder; Richard Pick lebt heute hochbetagt in Mexico City.

Reinhard Möhrle, der Bezirksvorsteher von Stuttgart-West, sagte gestern in der Augustenstraße: “Durch Einzelschicksale wie diese wird die Geschichte wieder lebendig. Die Auseinandersetzung damit ist keine Nostalgie, sondern eine Ermahnung, sich einzusetzen für ein tolerantes Miteinander.”

Heute setzt Gunter Demnig seine Aktion “Stolpersteine” fort, der genaue Zeitplan steht im Internet unter www.stolpersteine-stuttgart.de. An der Gedenkstätte “Zeichen der Erinnerung” beim Nordbahnhof wird heute um 18 Uhr der vor genau 65 Jahren deportierten 234 Sinti aus Württemberg gedacht.
 
Aktualisiert: 15.03.2008 06:18 Uhr