Menü Schließen

Stuttgarter folgen den Spuren jüdischer Bürger aus Württemberg

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung vom 29.01.2007:

“Wir sind es den Seelen schuldig, dass wir an sie denken”
Stuttgarter folgen den Spuren jüdischer Bürger aus Württemberg – Vom Nordbahnhof aus in Lager deportiert und umgebracht

Der Verein Zeichen der Erinnerung hat gestern eine Führung vom Killesberg zum Nordbahnhof angeboten. Anlass war der bundesweite Holocaust-Gedenktag: Von Stuttgart aus sind mehr als 2300 jüdische Bürger in Lager deportiert worden.

Von Annik Aicher

Der Wind pfeift eisig vor dem Haus Am Kochenhof 1. Rund 40 Stuttgarter hüllen sich fester in die Winterjacken. Die überwiegend älteren Teilnehmer folgen den Spuren jüdischer Bürger der Stadt, die im November 1941 vom Killesberg aus deportiert wurden. “Wir wollen heute an das grausige Geschehen erinnern und fordern Sie auf, alles zu tun, dass so etwas nicht nochmal passiert”, sagt Roland Ostertag. Er ist Vorsitzender des Vereins Zeichen der Erinnerung, der zum Holocaust-Gedenktag zu einem Gang vom Killesberg zum Nordbahnhof eingeladen hat.

Im Haus Am Kochenhof 1 hat Selma Dinkelmann, geborene Löwenberg, gewohnt. Um auf die Stuttgarterin jüdischer Herkunft aufmerksam zu machen, hat der Initiativkreis Stolperstein einen goldenen Stein ins Trottoir eingelassen. Still wird es, als Mitveranstalter Josef Klegraf vom Schicksal der 57-Jährigen erzählt. Und das Rauschen der Autos verwandelt sich in das Stapfen hunderter von Füßen, die auf dem Weg zur Halle 7 auf dem Killesberg sind. Wie Selma Dinkelmann haben die Nazis rund 1000 jüdische Bürger aus ganz Württemberg einbestellt. Mehrere Tage lang sind in der ehemaligen Blumenhalle Kinder, Greise, Frauen, Männer eingepfercht. Sie werden schikaniert, gedemütigt. Am 1. Dezember müssen alle ihre Habseligkeiten packen und den Eckartshaldenweg hinunter zum Nordbahnhof marschieren.

“Wir gehen jetzt weiter”, sagt Ostertag, und die Gruppe schlittert durch den Schneematsch dem Pragfriedhof entgegen. Ostertag deutet auf die Häuser am Eckartshaldenweg. “Die standen damals schon – da können doch nicht tausend Menschen unbemerkt vorbeigegangen sein.” Wegschauen, verdrängen, totschweigen – genau dem möchte Ostertag entgegenwirken, denn er findet die Tendenzen in der Bundesrepublik beunruhigend: “Eine Studie hat ergeben, dass Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus zunehmen”, sagt er. Gegen das Vergessen angehen, das möchte auch eine ältere Teilnehmerin, die Hitlers Besuch in Stuttgart als kleines Kind miterlebt hat. “Das war eine Massenhysterie, die mir große Angst gemacht hat”, sagt sie. Trotz Kälte ist sie beim rund zweistündigen Gang dabei. “Wir sind es den Seelen schuldig, dass wir an sie denken”, findet sie.

Eine “persönliche, ganz furchtbare Erinnerung an Auschwitz” hat eine 72-Jährige hergeführt. Vergangenes Jahr hatte die ehemalige Ärztin in einem Buch gelesen, dass eine frühere Kollegin die Frau eines Lagerarztes in Auschwitz gewesen war. “In dem Moment war es, als ob das ganze Unheil des Dritten Reichs in mein Wohnzimmer fällt.” Mittlerweile ist die Gruppe am Nordbahnhof angekommen, wo der Verein Zeichen der Erinnerung vor gut einem halben Jahr eine Gedenkstätte eingerichtet hat. Auf einer Betonrampe geht der Blick über Gleise und Prellböcke. Dort haben Selma Dinkelmann und ihre Leidensgefährten gestanden, dicht gedrängt. Die Fahrkarte zu 57,65 Reichsmark nach Riga haben sie auf eigene Kosten lösen müssen.

Kuhn, Kurz, Levison – Johannes von Bradke liest die Namen, die sich auf einer langen Wand in die Ferne ziehen. Der 16-Jährige ist der einzige Jugendliche in der Gruppe. “Die langen Namensketten sind wirklich erschreckend”, sagt er. Er findet es wichtig, sich an die Opfer zu erinnern. Die mehr als 2300 Namen der Menschen, die vom Stuttgarter Nordbahnhof aus deportiert und in Auschwitz, Theresienstadt und Riga umgebracht wurden, hat Beate Müller recherchiert. “Das war sehr belastend, und wir sind immer noch nicht fertig.” Mit dem Jugendhausverein bietet sie für Förder- und Hauptschüler Führungen zur Gedenkstätte an. Etwas, das Klegraf gerne ausbauen möchte: “Wir wollen jetzt ein Programm für weitere Veranstaltungen entwickeln.”

Johannes von Bradke liest derweil noch immer. Selma Dinkelmann – auch ihr Name steht an der Wand. Sie wurde, wie viele ihrer Mitreisenden erschossen, im März 1942, irgendwo in einem Wäldchen in Riga.

Aktualisiert: 29.01.2007, 06:13 Uhr