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Stolpersteine in Stuttgart-Vaihingen: Ein kurzes Leben im Arbeitslager

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Torsten Schöll – 15.12.2024 – 18:00 Uhr 


Ein von der US-Armee am 29. September 1944 aufgenommenes Luftbild des Zwangsarbeiterlagers Heßbrühl in Vaihingen. Foto: Luftbildausschnitt aus dme Archiv der LBA Luftbildauswertung GmbH

Nina Radionowa, Witscheslau Maschkanow, Anatol Bondorenko: das sind drei von 139 Zwangsarbeiterkindern, die während der NS-Zeit in Stuttgarter Arbeitslagern zu Tode kamen.

Das Schicksal von Kindern sowjetrussischer Zwangsarbeiter macht fassungslos. Karl-Horst Marquart, früher Arzt im Gesundheitsamt und seit langem engagiert für die Stuttgarter Stolperstein-Initiative, hat diesen Schicksalen jahrelang nachgespürt und sie in seinem kürzlich erschienenen Buch „Im Lager geboren und gestorben“ aufgearbeitet. Am Ende seiner Forschungsarbeit standen 139 Zwangsarbeiterkinder, die in den auf die ganze Stadt verteilten Arbeitslagern zu Tode kamen mussten. Weitere 72 Kinder von Zwangsarbeitern starben im Städtischen Kinderkrankenhaus Stuttgart.

Nina, Witscheslau und Anatol kamen allesamt schon im Säuglingsalter ums Leben: Das Mädchen wurde nur 22 Tag alt, die beiden Buben sechs und knapp zwei Monate. Ihre Eltern waren in dem 1942 und 1943 errichteten Vaihinger Arbeitslager Heßbrühl unter widrigsten Bedingungen untergebracht, um für insgesamt elf rund um den Wallgraben ansässige Rüstungsfirmen Sklavenarbeit zu verrichten.


Horst Marquart hat die Geschichte des Zwangsarbeiterlagers Heßbrühl in Vaihingen erforscht. Foto: Torsten Schöll

Wie Marquart herausgefunden hat, war das Lager „Heßbrühl als reichseigenes Barackenlager Vaihingen für ausländische Rüstungsarbeiter“, so die amtliche Beschreibung, nicht von der Stadt Stuttgart verwaltet worden. Hierfür hatten die elf von der Zwangsarbeit profitierenden Firmen eigens eine „Gesellschaft für Ostarbeiter“ gegründet. Durch einen entsprechenden Vertrag war es den Unternehmen so möglich, „nach eigenem Gutdünken mit der Versorgung der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zu verfahren“, betont der pensionierte Arzt.

Zwei Zwangsarbeiter nahmen sich das Leben
Dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Menschen des Lagers Heßbrühl tatsächlich katastrophal gewesen sein mussten, belegen zwei Selbstmorde von Zwangsarbeitern, die im Lager untergebracht waren: Die 27-jährige Katharina Karanowa arbeitete für das Vaihinger Aluminiumschmelzwerk Karl Schmidt KG und nahm sich im August 1944 durch einen Sprung in kochendes Aluminium das Leben. Das Werk stand etwa dort, wo heute das Regierungspräsidium Stuttgart seinen Sitz hat. „Der 19 Jahre alte Zwangsarbeiter Nikolaus Tschermuk erhängte sich am 9. August 1944 am Arbeitsplatz in der Metallwarenfabrik Herberts, einem Zulieferer von Daimler-Benz“, erzählt Marquart.

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Nina Radionowa und Witscheslau Maschkanow starben laut Sterbedokumente an „Lebensschwäche“ sowie „Pneumonie“, also Lungenentzündung. Wie Marquart betont, hätten jedoch „sehr wahrscheinlich Hunger sowie medizinische Unterversorgung zu ihrem Tod geführt“. Die Eltern von Witscheslau hatten im Juli 1943 noch im Lager geheiratet. Die Geburt ihres Kindes ist nicht standesamtlich beurkundet worden.

„Das Kind lebte somit inoffiziell und völlig rechtlos im Lager“, sagt Marquart. Die Eltern, die arbeiten mussten und selbst wenig zu essen hatten, mussten ihren Sohn notdürftig mitversorgen. „Die Überlebenschancen von Kleinkindern waren besonders gering“, so der Arzt.

Inzwischen wurden die alten Bunkeranlagen eingeebnet
Wer heute den Ort aufsuchen will, an dem die Kinder Nina, Witscheslau und Anatol ihr kurzen Leben verbrachten, wird Mühe haben. Auf einem Wiesenareal im Vaihinger Gewerbegebiet, direkt hinter dem Supermarktparkplatz an der Galileistraße 7, standen bis Kriegsende die Baracken des Arbeitslagers Heßbrühl, in denen insgesamt 374 Zwangsarbeiter untergebracht waren. Laut Marquart konnte man dort bis 2022 noch die Bunkeranlagen des Arbeitslagers erkennen. Ein zick-zack-förmiger überdachter Splitterschutzgraben war zum Schutz vor Bombenangriffen angelegt worden. Ein ähnliches Bauwerk findet sich heute noch auf dem Areal der Jugendfarm Möhringen, wo im Krieg das Arbeitslager Haldenwies stand.


Stolpersteine für die im Langer geborenen und ums Leben gekommenen Kinder. Foto: Torsten Schöll

Inzwischen sind die Bunkeranlagen eingeebnet worden, das private Grundstück im Heßbrühl von einem hohen Zaun umgeben, der den Zutritt nicht mehr ermöglicht. Die Stolpersteine für die dort verstorbenen Kinder konnten an dieser unzugänglichen Stelle nicht angebracht werden. Stattdessen entschied man sich, dass die Gedenksteine für die ums Leben gekommenen Kinder Nina Radionowa und Witscheslau Maschkanow 2019, etwas später auch für Anatol Bondorenko, ihren Platz vor dem in der Ruppmannstraße 21 gelegenen Regierungspräsidium Stuttgart erhalten sollten. Das hier einst ansässige Aluminiumschmelzwerk hatte ab 1943 die meisten sowjetischen Zwangsarbeiter aus dem Arbeitslager Heßbrühl zugeteilt bekommen.