Artikel aus den Stuttgarter Nachrichten
Frank Rothfuß 16.03.2024 – 09:00 Uhr
Elisabeth Guttenberger mit ihrem Vetter Josef Maria Foto: privat
Sie überlebte Auschwitz als einzige ihrer Familie. Elisabeth Guttenberger war Lagerschreiberin und musste die Morde an ihren Eltern und Geschwistern dokumentieren. Als Sinti sind sie von den Nazis verfolgt und ermordet worden.
Das Verschlingen, Porajmos, so nennen die Sinti und Roma das Unfassbare. Der Versuch der Nazis, sie auszulöschen. Elisabeth Guttenberger, geborene Schneck, hat überlebt. Als einzige ihrer Familie. Ihre Eltern Sofie und Josef, ihre Geschwister Elisabeth, Paula, Gisela, Donatus und Josef Maria sowie ihre Nichte Renate starben in Auschwitz.
Mit einem Foto begann die Recherche
Was Elisabeth Guttenberger erlebt hat an Grauenvollem und Grausamen ist kaum in Worte zu fassen. Sie hat es jahrzehntelang versucht, sagte bei den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt aus, sprach vor Schülern und bei Gedenkveranstaltungen. Mittlerweile ist sie 98 Jahre alt und hat keine Worte mehr. Sie möchte und könne nicht mehr reden. Die lässt sie über Gudrun Greth ausrichten. Greth war Rektorin in der Grund- und Hauptschule in Ostheim und in der Stolperstein-Initiative aktiv. Vor 17 Jahren hat sie Elisabeth Guttenberger kennen gelernt, als sie mehr erfahren wollte zu einem Foto einer Schulklasse, das in der Gedenkstätte Auschwitz hängt. Darauf sind Elisabeth und ihr Bruder Donatus zu sehen.
Aufgewachsen am Stöckach
Die Familie Schneck lebte in der Neckarstraße 155c, von 1930 in der Stöckachstraße 28, in einer kleinen, nach der Weltwirtschaftskrise erbauten Siedlung. Vater Josef Schneck, der Vater, war Geigenbauer und Instrumentenhändler. Einer seiner Kunden war der Fuhrunternehmer Paul von Maur, der der Familie zu einem Festtag mal einen Kasten mit Silberbesteck geschenkt hat. Die Kinder gingen in den St.-Nikolaus-Kindergarten und in die Schule Ostheim. Bei einer Gedenkveranstaltung hat Elisabeth Guttenberger von dieser Zeit erzählt: „Mit meinen vier Geschwistern wuchs ich in einem sehr schönen Stadtteil mit vielen Gärten auf. Im Rückblick empfinde ich diese Zeit als die schönste in meinem Leben. Unsere Familie war angesehen, die Menschen waren noch nicht vergiftet vom Rassenwahn.“
„Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen“.
Alle Porträts der Serie»
Die Stolpersteine für die Familie Schneck Foto: Max Kovalenko/Max Kovalenko
Das Verschlingen, es fand nicht im luftleeren Raum statt. Wie die Juden wurden auch die Sinti und Roma jahrhundertelang geschmäht und verfolgt. Vor über 600 Jahren kamen sie in Europa an. Ursprünglich stammen sie aus Indien, von wo sie Richtung Westen wanderten. Schnell bezeichnete man sie abschätzig als „Zigeuner“, wo der Begriff herkommt, darüber streiten die Sprachgelehrten, vermutlich ist er abgeleitet vom griechischen Wort „athinganoi“, Unberührbare. 1424 wird aus Regensburg von „Cigäwnärn“ berichtet, flugs verdächtigte man sie, Spione der Türken zu sein.
Eine lange Geschichte der Verfolgung
Beim Reichstag in Freiburg 1498 wurden die Roma reichsweit für vogelfrei erklärt, also geächtet. Ende des 19. Jahrhunderts galten Sinti und Roma mit deutscher Staatsbürgerschaft rechtlich als gleichgestellt, jene ohne deutschen Pass galten als Ausländer, die Kanzler Otto von Bismarck zur „Zigeunerplage“ erklärte. Man versuchte sie auszuweisen. Und überwachte sie. Bis 1925 legte der „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner“ über 14 000 Personalakten über Sinti und Roma an.
Die Nürnberger Gesetze und die Folgen
Mit den Nürnberger Gesetzen erklärten die Nazis 1935 die schätzungsweise 30 000 in Deutschland als „fremdrassig“ und „undeutschen Blutes“. Sie wurden ihrer Rechte beraubt und erbarmungslos verfolgt. Im November 1936 wurde am Reichsgesundheitsamt das „Rassehygieneinstitut“ eingerichtet, das vor allem Daten von Sinti und Roma sammelte. Nach Erlass des SS-Reichsführers Heinrich Himmler 1938, der die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse“ ankündigte, wurden die Sinti und Roma systematisch registriert, „Rassegutachten“ unterzogen und als „ Voll-, Halb-, Viertel- oder Achtelzigeuner“ eingeordnet. Auf dieser Grundlage wurden sie deportiert und getötet.
Elisabeth und Donatus Schneck (eingekreist) mit ihrer Schulklasse in Ostheim. Foto: Memorial Auschwitz
Das sind die Fakten. Doch was dies an Leid bedeutet, beschreibt Elisabeth Guttenberger. 1936 floh die Familie aus Stuttgart, weil ein Kripobeamter sie vor einer drohenden Verhaftung warten. Sie gingen nach München zu verwandten. Dort arbeitete Vater Josef als Hausmeister. Die Kinder erlebten den zunehmenden Hass. Bruder Donatus wurde von Hitlerjungen verprügelt. Er wehrte sich, wurde in ein Heim zwangseingewiesen. Er wurde nach Buchenwald deportiert, wurde zur Arbeit bei der Produktion der V2-Raketen gezwungen und starb im August 1944.
Prügel in der Schule
Seine Schwester Elisabeth erlebte „zum ersten Mal offenen Rassenhass, als eine Schülerin, eine BDM- Führerin, mit der halben Klasse über mich herfiel. Gemeinsam schlugen sie mich blutig.“ Einer Lehrerin, einer couragierten Gegnerin des Hitler- Regimes, habe sie es zu verdanken, dass sie mit der achten Volksschulklasse abschließen konnte. Eine Ausbildung durfte sie nicht machen, ihre Lehrstelle in der Konditorei musste sie nach vierzehn Tagen aufgeben. Sie musste stattdessen in einer Munitionsfabrik arbeiten.
Die Häftlingskarte von Donatus Schneck
Was dann geschah, erzählte sie 2004: „Im März 1943 wurden wir früh morgens um sechs Uhr verhaftet und mit Lastwagen zum Bahnhof gebracht. An diesem Tag wurde all das, was unser Leben bisher ausgemacht hatte, unwiederbringlich zerstört. Wie Tiere hat man uns in die Güterwaggons gepfercht. Zusammen mit meinen Eltern und Geschwistern, meiner dreijährigen Nichte und meiner 80-jährigen Großmutter und vielen anderen Verwandten deportierte man uns nach Auschwitz. Am Morgen nach unserer Ankunft mussten wir nach Auschwitz- Birkenau marschieren, wo die SS im Lagerabschnitt B II e ein so genanntes „Zigeunerlager“ errichtet hatte. Dort hat man uns erst einmal die Häftlingsnummer in den Arm tätowiert und die Haare abgeschnitten. Säuglinge bekamen die Nummer auf den Oberschenkel tätowiert, weil ihre Arme zu klein dafür waren. Wir hörten auf, Menschen zu sein.“
Sie landeten in Arbeitskommandos zusammengestellt, schleppten Steine für den Bau des Lagers. „Die Brutalität der SS-Männer war grenzenlos. Die hygienischen Verhältnisse waren nicht zu beschreiben. Als der Typhus ausbrach, konnten die Kranken nicht behandelt werden, weil es keine Medikamente gab. Am schlimmsten jedoch war der Hunger. Zuerst starben die Kinder.“ Die drei Jahre Renate überlebte nicht einmal einen Monat, „Opapa, ich will Broti, Butti, Zucki“, waren ihre letzten Worte.
„Schornsteine rauchten Tag und Nacht. Wir sahen die ankommenden Deportationszüge, wie die Menschen – vor allem Juden – gleich an die Rampe selektiert wurden: die einen zur Arbeit, die anderen für die Gaskammer. Etwa nach einem halben Jahr bin ich in die Schreibstube gekommen. Dort musste ich für unseren Lagerabschnitt Karteikarten nach den Transportlisten anlegen und das Hauptbuch für die Männer führen. Tausende von Sterbemeldungen habe ich eingetragen, die vom Krankenbau zur Schreibstube gebracht wurden. Ich war gerade acht Tage in der Schreibstube, da kam eine Totenmeldung, auf der der Name meines Vaters stand.“
Eines Tages kam ein SS-Mann in die Schreibstube, sagte, dass am nächsten Tag alle vergast werden. „Wir waren wie gelähmt, denn wir sahen keinen Ausweg. Wie soll man sich mit bloßen Händen gegen Maschinenpistolen wehren?“, erinnert sich Guttenberger, „doch unsere Männer haben den Entschluss gefasst, sich bei der Räumung der Blocks bis zum Äußersten zu wehren. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die täglich in Auschwitz eintrafen, wussten wir genau, welches furchtbare Schicksal uns bevorstand. Daher waren unsere Leute, unter denen sich auch ehemalige Soldaten befanden, fest entschlossen, sich nicht ohne Widerstand in die Gaskammer führen zu lassen.“
Sie glaubte nicht, dass dies funktionieren könnte. „Doch dann habe ich erfahren, dass die SS den ersten Versuch zur Liquidierung unseres Lagerabschnitts aufgrund des unerwarteten Widerstands abbrechen musste. Um künftigen Widerstand von vornherein auszuschließen, hat die SS in der Folgezeit die ehemaligen Wehrmachtssoldaten und diejenigen, die noch arbeiten konnten, selektiert und auf Transport in andere Konzentrationslager geschickt. Auch ich kam Anfang August 1944 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, von dort in ein Außenkommando nach Graslitz, in die Rüstungsproduktion. Von dort konnte sie fliehen.
Nie wieder
Sie überlebte das Verschlingen. Und war doch gezeichnet. Ihr Leben widmete sie zunächst dem Erinnern, der Gerechtigkeit unter dem Imperativ: Niemals wieder! Sie sagt: „ Man kann Auschwitz mit nichts vergleichen. Es ist immer noch unbegreiflich, wie es möglich war, an einem einzigen Ort so viele Menschen auf bestialische Weise umzubringen. Über 30 Angehörige habe ich in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern verloren, darunter meine Eltern und meine vier Geschwister. Ich allein habe überlebt. Es ist mein größter Wunsch, dass die heutige und künftige Generation aus unseren schrecklichen Erfahrungen lernt, und dass Auschwitz nie wieder Wirklichkeit werden kann.“
So sagte sie 1963 bei den Auschwitz-Prozessen aus. Und musste erleben, dass die Zeugen, nicht die Täter, angegangen wurden. Sie galten als nicht glaubwürdig. Es gab da etwa einen gewissen Paul Werner: Er hatte als Leiter des sogenannten „Zigeunerreferats“ im Reichssicherheitshauptamt die Deportationen vorbereitet, nach dem Krieg wurde er Regierungsdirektor des frisch gegründeten Landes Baden-Württemberg. Ein Verfahren gegen ihn stellte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft 1963 ein, da es sich um „Maßnahmen gegen die Zigeunerplage“ gehandelt habe.
So ist es auch kein Wunder, dass es bis 2012 gedauert hat, bis in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht wurde. Dafür hatte Elisabeth Guttenberger Zeit ihres Lebens gekämpft.