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Stolpersteine in Stuttgart-Mitte: Der ermordete Schiedsrichter

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Frank Rothfuß 07.07.2024 – 18:00 Uhr 


Julius Baumann. Foto: Stolperstein-Initiativen

Er hätte fliehen können. Doch Julius Baumann blieb. Weil er die jüdischen Kinder nicht alleine lassen wollte.

Es dauerte nicht lange. Kurz nachdem Präsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, brachten sich die Fußballvereine im Süden Deutschlands selbst auf Linie mit den neuen Machthabern.

Was war die Stuttgarter Erklärung?
Im April trafen sich auf Einladung der Stuttgarter Kickers verschiedene Clubs „um zu den wichtigsten Tagesfragen Stellung zu nehmen“. Das „Stuttgarter neue Tagblatt“ versieht am 10. April einen Zweispalter mit der Überschrift „Neuorientierung im Fußballsport“. Die „Neuorientierung“ ist ein Kniefall und wird viele Mitglieder zunächst ausschließen und später das Leben kosten. So wie den Kickers-Schiedsrichter Julius Baumann. Der 1942 von den Nazis ins KZ Welzheim gebracht, kommt ins Konzentrationslager Mauthausen, wo er am 1. Oktober „auf der Flucht erschossen” wurde. So lautet damals die übliche Todesmeldung.


Der Stolperstein für Julius Baumann an der Eberhardstraße 35. Foto: Fanprojekt Kickers

Nach „lebhafter Aussprache“ habe man den Entschluss gefasst: „Freudig und entschieden“ stelle man sich den Bestrebungen der nationalen Regierung zur Verfügung und werde mit allen Kräften mitarbeiten. Die Vereine „sind gewillt, im Sinne dieser Mitarbeit alle Folgerungen, insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus Sportvereinen, zu ziehen.“ Unterzeichnet wurde die „Stuttgarter Erklärung“ von 14 süddeutschen Spitzenvereinen jener Zeit, darunter neben den Stuttgarter Kickers Phönix Karlsruhe, Eintracht Frankfurt, Bayern München, der 1. FC Nürnberg, 1860 München und der 1. FC Kaiserslautern.

Das ging schnell. Sehr schnell. Für Julius Baumann wie für alle anderen Sportler jüdischen Glaubens bedeutete dies den Ausschluss aus ihren Vereinen. Baumann war 1998 geboren, Kaufmann, leidenschaftlicher Leichtathlet und Schiedsrichter für die Fußball-Abteilung der Kickers. Er war kein Einzelfall.

Die Kickers hatten starke jüdische Wurzeln. Von 21 Gründungsmitgliedern im Jahr 1899 waren mindestens zwei jüdischen Glaubens: die Brüder Karl und Eduard Levy. Der Verein pflegte gute Beziehungen zu großen jüdischen Clubs wie Hakoah Wien oder Hakoah Stuttgart. In nationalistischen Kreisen wurden die Kickers als jüdischer Verein wahrgenommen. Die Spielstätte wurde als „Judenwiese“ oder „Hebräerwiese“ verunglimpft, noch lange nach dem Krieg sprach man vom Waldau-Stadion auf den „Golanhöhen“.

Er blieb der Kinder wegen
Julius Baumann musste den Verein verlassen, dem Sport blieb er treu. In der Zeppelinstraße hatte Alice Bloch eine Sportschule für jüdische Kinder, sie musste 1935 schließen. Julius Baumann übernahm den Unterricht. Der diente nicht nur der Leibesertüchtigung, auch der Vorbereitung fürs Auswandern. Baumann selbst hätte aus Deutschland fliehen können. Er hatte eines der höchst seltenen Einreisevisa nach England ergattern können, die Chance sein Leben zu retten. Doch er blieb in Stuttgart. Weil er der israelitischen Gemeinde versprochen hatte, das Ferienlager für die Kinder im Feuerbacher Tal auf dem jüdischen Sportplatz zu organisieren. Eigenhändig schaufelte er ein Planschbecken, füllte es mit einem Eimer.

In der Markthalle festgenommen
Er wollte den Kindern ein bisschen Lebensfreude verschaffen. Wo ihnen doch sonst alles verboten war. Ins Kino oder Theater durften Juden nicht mehr, auch da wurde Baumann aktiv. Er organisierte eine „Bunte Stunde” in der Turnhalle an der Hospitalstraße. Ein Varieté, bei dem die Jugend sich beteiligen konnte. Sozusagen ein Vorläufer des Circus Circuli. Die Zuschauer waren Stuttgarter jüdischen Glaubens – und ein Gestapo-Beamter.

Baumann wurde beobachtet, doch er ließ sich nicht einschüchtern. In der Markthalle organisierte er mit Hilfe seiner Stuttgarter Freunde Obst und Gemüse für hungernde Juden und versteckte das Essen in der Turnhalle. Er wurde verraten. Der Gestapo-Mann, der ihn festnahm, soll zu ihm gesagt haben: „Mensch Julius, warum hast Du Dich in eine so dumme Sache eingelassen; jetzt muss ich dich verhaften!“

Er kam zusammen mit sechs Angehörigen der jüdischen Gemeinde in KZ-Haft, die Männer nach Welzheim, die Frauen nach Rudersberg. Alle kamen zurück, außer Julius Baumann. Er wurde in das Konzentrationslager Mauthausen gebracht und dort am 1. Oktober 1942 ermordet.

Alice Bloch musste 1935 ihre Sportschule schließen. Baumann übernahm den Unterricht. Seit November 1935 bestand in Stuttgart die jüdische Sportschule von Alice Bloch in der Zeppelinstraße. Als die Schule geschlossen wird, übernimmt Baumann den Unterricht, der auch zur Vorbereitung für die Auswanderung dient. Sportlehrer war er noch bis nach 1939. In den Jahren der Verfolgung war er zudem Vorbeter in der jüdischen Gemeinde. Ein früherer Freund erzählte, dass Julius Baumann, da es Juden verboten war, u.a. ins Kino oder ins Theater zu gehen, einmal eine so genannte “Bunte Stunde” organisierte.

Eine Art Varieté, bei dem die Jugend sich beteiligen konnte. Sie fand in der Turnhalle Hospitalstraße 36 statt. Die Zuschauer, außer einem Gestapo-Beamten, waren jüdische Stuttgarter.

Festgenommen und deportiert wurde er aber, weil er verbotenerweise mit Hilfe “arischer” Mitbürger Obst und Gemüse für hungernde Juden aus der Markthalle organisiert hatte und in der Turnhalle versteckte. Er wurde verraten. Der Gestapo-Mann, der ihn festnahm, tat diese Amtshandlung keinesfalls mit Überzeugung: “Mensch Julius, warum hast Du Dich in eine so dumme Sache eingelassen; jetzt muss ich dich verhaften!”