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Stolpersteine im Osten: In den Tod getrieben

Artikel aus den Stuttgarter Nachrichten
Frank Rothfuss 04.02.2024 – 17:00 Uhr

Die Familie Holzinger: Hermine, Rudolf und Werner mit ihren Eltern Selma und Dr. Jakob Holzinger. Foto: „Unerwünscht! Die Vertreibung der deutschen Exiljuden aus Ibiza und Mallorca 1939 – 1945.“ von José Miguel Lopez Romero

Sie waren die ersten. Am 10. Oktober 2003 verlegte der Künstler Gunter Demnig die ersten Stolpersteine in Stuttgart. Sie erinnern an den Arzt Jakob Holzinger und seine Gattin Selma. Ihnen drohte das KZ, das Ehepaar wählte den Freitod. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen“.
Es ist ein Lehrstück über Hass. Und Identitäten. Und eines, dass wieder ganz aktuell ist. Jakob Holzinger war Vater, Ehemann, Arzt, Soldat, Intellektueller, Menschenfreund, Deutscher, Patriot. Aber all das war nach 1933 nicht mehr wichtig.

Im Weltkrieg gedient
Da war er qua Gesetz nur noch Jude. Jener Teil seines Daseins, den er geerbt hatte, der ihm nicht wichtig war, bestimmte nun sein Leben, wie ihn andere wahrnahmen. Die Nazis, die Nachbarn, die ehemaligen Freunde, für sie war er nicht mehr der Arzt, der im Stuttgarter Osten unentgeltlich Arbeitslose behandelt hatte; für sie war er nicht mehr der Offizier, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, im Dreck der Schützengräben gelegen, sein Leben riskiert hatte – er war Jude. Gehörte nicht mehr dazu. Als Jakob und Selma Holzinger 1940 bestattet wurden, hatten noch fünf Menschen den Mut, am Grab Abschied zu nehmen.

Praxis im Stuttgarter Osten
Jakob Holzinger war ein Franke, geboren in der Nähe von Bayreuth. Selma Holzinger kam aus dem Oberschwäbischen, aus Riedlingen. Warum sie nach Stuttgart kamen, haben auch Harald Stingele und Guillermo Aparacio von den Stolperstein-Initiativen bei ihrer Recherche über die Familie Holzinger nicht herausgefunden. Vermutlich war es einfach eine gute Gelegenheit, einer Verwandten aus der Schweiz gehörte das Haus an der Landhausstraße 181, am Ostendplatz. Eine Wohnung war frei, die Holzingers zogen 1906 ein. Im Haus hatte Holzinger auch seine Arztpraxis. Er war Hausarzt, Chirurg und Geburtshelfer. Tochter Hermine wurde 1911 geboren, Rudolf um 1914 und 1917 Werner.

Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen
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Das Haus Landhausstraße 181 am Ostendplatz. Ansicht einer Postkarte.

Hermine Holzinger heiratete Rudolf Eberle, Buchdrucker und Bruder von Eugen Eberle. Eberle war Kommunist, Betriebsrat bei Bosch, Regimegegner, einige Zeit in „Schutzhaft“ im KZ Heuberg, später von 1948 bis 194 Stadtrat in Stuttgart – und ein Freund von Jakob Holzinger. Doch dazu später mehr. Hermine ging im Katzenstift, dem Katharinenstift, zur Schule. In der Landesfrauenklinik in Berg machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. 1933 wurde sie entlassen. Ihre Brüder gingen aufs Reformgymnasium und das Zeppelin-Gymnasium. Beide wollten Medizin studieren, beiden wurde dies „der Rasse“ wegen versagt. Jakob Holzinger behielt nach 1933 zunächst seine Kassenzulassung, wegen seiner Verdienste als Offizier. Doch er und seine Frau wussten, was auf sie zukam. Sie wollten ihre Heimat nicht verlassen. Aber sie halfen ihren Kindern bei der Flucht. Sie schafften Geld ins Ausland, kauften eine Finca auf Ibiza. Über Umwege gelangten die drei Kinder dorthin.

Flucht nach Ibiza
Zunächst waren sie dort sicher. Doch als Franco nach dem Bürgerkrieg seine Macht sicherte, wurde die Lage schwierig. Es gab ein deutsch-spanisches Abkommen vom 31.7.1938, dass die Auslieferung von jüdischen Exilanten an das Deutsche Reich regelte. José Miguel López Romero, Redakteur des Diario de Ibiza, hat über die Schicksale dieser deutschen Juden geforscht. Laut ihm verschwanden die jüdischen Flüchtlinge durch den Druck der spanischen Polizei auf Ibiza sehr schnell. Nur Hermine, ihr Sohn Didier, Rudolf Eberle und ihre Brüder waren noch da. Vorausschauend waren sie zum katholischen Glauben konvertiert. Und ein Schreiben des päpstlichen Nuntius in Madrid verhinderte im allerletzten Moment ihre Abschiebung nach Deutschland. Später wanderten sie nach Kolumbien aus. Sie überlebten den Nazi-Terror.

Freundschaft mit Eugen Eberle
Anders als ihre Eltern. Zurück zu Eugen Eberle. Der traf sich immer noch regelmäßig von Holzinger in der Gaststätte Villa Berg. In seinen Erinnerungen berichtet Eberle von ihren Gesprächen. Einmal habe Holzinger sich bitter über die Zivilcourage der „neudeutschen Akademiker und Wissenschaftler“ beklagt. Bei einem Kongress in Nürnberg hatte Julius Streicher, Herausgeber des „Stürmer“ und die Personifizierung des Antisemiten, behauptet die Juden hätten als andere Rasse auch anderes Blut als die „nordisch-arischen Menschen“. Holzinger sei entsetzt gewesen, dass nicht einer von tausend Wissenschaftlern aufgestanden sei und diesen Unsinn zurückgewiesen habe.

Die Jakob-Holzinger-Gasse, sie erinnert seit 1984 an den Arzt. /Foto: Michael Steinert

Er machte sich keine Illusionen. Seine Praxis war boykottiert worden, immer weniger Patienten kamen. 1938 verlor er seine Zulassung, die Behörden untersagten ihm den Betrieb einer Privatpraxis. Nach der Reichskristallnacht wurde er verhaftet und ins KZ Dachau gebracht. Eberle schreibt: „Er hatte jedoch noch Glück, als Offizier und Landwehrhauptmann des Ersten Weltkrieges wurde er nach kurzer Zeit entlassen. Nach seinen grausamen Erlebnissen war ihm klar: Kein zweites Mal ins KZ! Er hatte mit ansehen müssen, wie verzweifelte Häftlinge in den elektrisch geladenen Zäunen Selbstmord verübten.“ Ausreisen konnten sie nicht mehr, ihr Geld hatten sie für die Flucht der Kinder ausgegeben. Die Nazis ließen nur noch raus, wer sich durch ein Vermögen freikaufen konnte. Vor dem zweiten Jahrestag der Pogromnacht am 9. November entschieden sich die Holzingers für den Freitod. Als Eugen Eberle die Holzingers das letzte Mal sah, sagte er zu Selma: „Auf Wiedersehen!“ Da habe sie geantwortet: „Ausgerechnet der Eugen, der Atheist, sagt: Auf Wiedersehen.“

Nur fünf Aufrechte nahmen Abschied
Der erste Versuch scheiterte. Frau Wagner, ihre Zugehfrau, sollte um 5.30 Uhr den Gashahn abdrehen, um die Hausbewohner nicht durch das ausströmende Gas zu gefährden. Als sie kam, las sie auf einer kleinen Schiefertafel an der Haustüre: „Das Sterben ist schwer.“ Jakob Holziger öffnete, „es ist gescheitert“. Die Badtür war undicht. Holzinger ging in die Praxis, holte eine Ampulle, er und Selma nahmen Zyankali. Im Krematorium auf dem Pragfriedhof fand die Trauerfeier statt. Eugen Eberle, seine Frau, seine Mutter und das Ehepaar Wagner waren da. Eberle schreibt: „Von den vielen Ostheimern, bei denen der Arzt so beliebt war, und von den vielen vielen Freunden war niemand gekommen, den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Die Angst der Arier vor dem Terror der Gestapo war zu groß.“

Die Stolpersteine für das Ehepaar Holzinger /Klaus Skubski

Ein Jahr später, Ende November 1941, wurden alle in Württemberg lebenden Juden nach Riga deportiert und dort ermordet. Die Holzingers wussten, was sie erwartet hätte.

2003 legten die Stolperstein-Initiativen und der Künstler Gunter Demnig den ersten von mittlerweile 1000 Steinen für die Opfer der Nazis. Es waren die Steine für Selma und Jakob Holzinger. Ermordet, weil man sie nicht als Menschen im Ganzen betrachtete, sondern einen Bruchteil ihrer Identität herauspickte. Man erklärte sie zu Juden, um sie außerhalb einer eingebildeten Gemeinschaft stellen zu können, um sie hassen zu können. Dabei waren sie so viel mehr. Patrioten, Deutsche, Intellektuelle, Freunde, Eltern, Liebende.