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Stolperstein in Stuttgart-Zuffenhausen: Zerbrochen an der ersten Liebe

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Akiko Lachenmann 26.03.2024 – 09:04 Uhr


Berta Göpfert wurde in Grafeneck ermordet. Foto: Bundesarchiv Berlin

Liebeskummer wird ihr zum Verhängnis: Berta Göpfert kommt mit schweren Depressionen in die Heilanstalt Weinsberg. Da sie als „nutzlose Esserin“ gilt, stirbt sie wie Tausende andere Patienten in der Gaskammer von Schloss Grafeneck. 

Sie war intelligent, scheu, zart besaitet. Sie las alles, was sie in die Finger bekam, oft die ganze Nacht hindurch. Sie ging kaum aus, half lieber der Mutter im Haushalt, und das sehr gewissenhaft. Und sie nahm, so steht’s in der Krankenakte, alles „etwas schwer“. Besonders schwer nahm sie eine gescheiterte Liebesbeziehung, die einzige in ihrem Leben. Sie raubte ihr den Verstand. Zu einer anderen Zeit hätte Berta Göpfert mit etwas Hilfe einen ihrem Wesen entsprechenden Platz in der Gesellschaft finden können. Vielleicht als Schriftstellerin oder Wissenschaftlerin. Aber während des NS-Regimes galten sensible Menschen, die Schicksalsschläge aus der Bahn warfen, als „unwertes Leben“, als „nutzlose Esser“.

Die ersten „systematisch-industriellen Ermordungen“
Berta Göpfert ist eine von 10 654 Menschen, die auf dem abgelegenen Schlossgelände von Grafeneck auf der Schwäbischen Alb zwischen dem 18.  Januar und dem 13. Dezember 1940 in der Gaskammer ermordet wurden. Die Nazis bezeichneten die Massenermordungen „Aktion Gnadentod“. Nach dem Krieg ging man über zur Bezeichnung Aktion T4, weil die mit der Durchführung Ermächtigten in einer Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin untergebracht waren.


Der Stolperstein von Berta Göpfert Foto: Max Kovalenk/o

Historiker sprechen von den ersten „systematisch-industriellen Ermordungen“ der Nazis, verübt an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Sie waren gut zu organisieren und zu vertuschen, da die Opfer bereits in Anstalten lebten, losgelöst von ihren Familien. Sowohl die Vollstrecker als auch die Tötungstechnologie von Grafeneck wurde später in weiteren Vernichtungslagern im Osten für die Ermordung von Juden übernommen.
Der Ansicht der Nationalsozialisten, sie müssten „unwertes Leben“ vernichten, ging ein gesellschaftlicher Diskurs voraus, der Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm. Beeinflusst von Darwins Schriften sahen Philosophen und Soziologen die Politik zunehmend in der Verantwortung, gute Erbanlagen zu fördern und schlechte zu verringern. Die Bewertung, was gut oder schlecht ist, machte man im Dritten Reich daran fest, wie produktiv ein Mensch war. Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen galten als unproduktiv.

Psychoanalyse für Kriegszwecke
Etwa zur selben Zeit entwickelte Sigmund Freud erste Therapieansätze zur Heilung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Bevor die Nazis an die Macht kamen, galt Berlin neben Wien sogar als Hochburg der Psychoanalyse. Nach 1933 wurde die Psychotherapie des jüdischen Arztes allerdings als „staatsbedrohend“ angesehen und seine Werke verbrannt. Seine Methoden übernahmen die Nazis dennoch. So gründete der Neurologe Matthias Heinrich Göring, ein Cousin von Reichsminister Herrmann Göring, 1936 das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, wo nicht nur geforscht und ausgebildet, sondern auch therapiert wurde – im Sinne eines arischen Menschenbilds. Unter dem Namen „Deutsche Seelenheilkunde“ sollten „erbwerte“ und dem „Volksganzen“ zuträgliche Eigenschaften gefördert werden. Mit Kriegsausbruch befasste sich das Institut außerdem mit „psychologischer Kriegsführung“ und behandelte traumatisierte Soldaten, um sie wieder einsatzfähig zu machen.

Um das Jahr 1930 boten auch in Stuttgart Ärzte Psychoanalysen an. Berta Göpfert gehörte jedoch nicht zur Klientel, die sich eine solche Therapie hätte leisten können. Sie stammt aus einfachem Hause. Der Vater arbeitet als Bierkutscher, die Mutter ist Hausfrau. Sie haben vier Kinder, Berta ist die Jüngste. Als ihr Schwager sie am 25. Juni 1930 von ihrem Zuhause in der damaligen Johannesstraße 25 in Zuffenhausen – heute Brackenheimer Straße – ins Bürgerhospital bringt, befindet sie sich bereits in einem desolaten Zustand.

Es sind seine Schilderungen, worauf die Anamnese des Arztes beruht. Der Akte liegt ein Foto von ihr bei. Berta Göpfert trägt eine einfache Latzschürze über einem Baumwollhemd, keinen Schmuck, keine Schminke. Sie steht vor aufgehängter Weißwäsche. Ihr krauses Haar hat sie zu einem Dutt zusammengebunden. Die Augen sind etwas verschattet, blicken aber nicht unglücklich.
Die Ärzte notieren, dass Berta Göpfert als Kind eigentlich nie ernsthaft krank war. Auffällig sei nur gewesen, dass sie sehr an der Mutter hing und den strengen Vater fürchtete. Noch mit 24 Jahren muss sie stets um 20 Uhr zu Hause sein. So alt ist Berta, als sie das erste Mal eine Beziehung eingeht. Der junge Mann scheint jedoch ein ähnliches Kontrollbedürfnis zu haben wie ihr Vater. Er verbietet ihr, Cafés oder Kinos zu besuchen. Sie darf lediglich in die Kirche gehen. Die Beziehung wird „beiderseitig“ gelöst, wie es in der Akte heißt. Doch die Patientin habe das „tragisch genommen“ – und versucht, sich mit Gas zu vergiften.

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In den darauffolgenden eineinhalb Jahren steht Berta viel am Fenster hinterm Vorhang, starrt hinaus und sagt, dass er „da drunten steht“, obwohl niemand zu sehen ist. Sie scheint auch Stimmen zu hören: „Jetzt kommt einer und sagt mir, ich soll aufhören“, soll sie laut Krankenakte gesagt haben. Als die junge Frau beginnt, sich selbst zu verletzen und ansonsten aufhört zu essen, aufs Klo zu gehen und ihre Wäsche zu wechseln, weiß die Familie nicht mehr weiter. Mit Verdacht auf „schwere Katatonie“, einem unnatürlichen Zustand, in dem Patienten starr verharren oder auch um sich schlagen, wird Berta in die psychiatrische Abteilung des Bürgerhospitals eingewiesen.

Zwei Wochen lang beobachtet das Personal ihr Verhalten. Während der „Anstaltsbehandlung“ bessert sich ihr Zustand jedoch nicht. Im Gegenteil. Kurz vor ihrer Entlassung heißt es: „Patientin wird nun zeitweise aggressiv, geht auf andere Kranke los und wirft Schwächere um.“ Deshalb wird sie – so das gewöhnliche Prozedere der damals chronisch überfüllten städtischen Krankenhäuser – am 10. Juni 1930 in die Heilanstalt Weinsberg verlegt, eine von mehreren staatlichen Anstalten auf dem Land, die mit weniger Personal betrieben werden. Berta Göpfert verbringt dort zehn Jahre. Wie sie dort behandelt wird, ist nicht dokumentiert. Aus anderen Krankenakten geht hervor, dass Frauen, sofern sie in der Lage waren, mit Handarbeiten beschäftigt werden oder im Haushalt helfen, während die Männer im Garten oder auf dem Feld arbeiten.

Heute hätte Berta Göpfert gute Heilungschancen
Im Oktober 1939 werden die Anstaltsleitungen aufgefordert, die Bewohner auf Meldebögen zu erfassen, die länger als fünf Jahre in den Anstalten weilen, deren Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist, die vom Gericht eingewiesen wurden und die nicht deutschen Blutes sind. Später werden die meisten Leiter im Rückblick sagen, ihnen sei der Zweck der Erhebung nicht klar gewesen. Ende November wird dann per Runderlass und ohne nähere Begründung mitgeteilt, dass Verlegungen von Patienten stattfinden werden. Die Deportationen nach Grafeneck beginnen am 18. Januar 1940. Die Patienten werden nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft in die Gaskammer geleitet. Berta Göpfert erreicht Grafeneck am 8. Mai 1940.


Das Ehepaar Möller recherchiert für den Verein Stolpersteine. Foto: Lachenman/n

Dem Ehepaar Möller, das seit vielen Jahren für den Verein Stolpersteine Biografien vergessener NS-Opfer recherchiert, ist das Schicksal von Berta Göpfert besonders zu Herzen gegangen. Diethard Möller ist Psychotherapeut im Ruhestand und hatte seine Praxis in der Bönnigheimer Straße 67, schräg gegenüber vom Haus der Familie Göpfert. „Damals waren die Frauen schuld, wenn Beziehungen scheiterten. Immer hieß es: Sie war es, die ihn nicht halten konnte“, erzählt er. Berta Göpfert, von Natur aus gewissenhaft und zugleich wenig selbstbestimmt, habe vermutlich eine schwere Depression entwickelt. Heute hätte man eine Frau wie sie spätestens nach dem Selbstmordversuch stationär mit Antidepressiva behandelt und ihr im weiteren Verlauf eine Gesprächstherapie angeboten. „Ihre Heilungschancen wären gut gewesen.“

Im Dezember 1940 wurde die Vernichtungsanstalt Grafeneck geschlossen, vermutlich weil ihr Zweck nicht länger geheim gehalten werden konnte. Angehörige, Bürgermeister und Kirchenvertreter hatten gegen die „Gnadenmorde“. protestiert. Aufhalten konnten sie die Aktion T4 nicht. Die Ermordungen gingen an anderer Stelle weiter, zunächst in Hadamar bei Limburg an der Lahn später direkt in den Heilanstalten, ohne Unterbrechung, bis 1945.