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Stolperstein in Stuttgart-West: Familie Einstein – nur einer kehrte zurück

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Carolin Klinger  21.04.2024 – 18:00 Uhr 


Elisabeth und Leopold Einstein bei ihrer Hochzeit. Foto: privat/Theo Bohrmann

Die Familie Einstein war beliebt und angesehen – doch die Nationalsozialisten nahmen ihnen alles. Nur ein Sohn überlebte. 

Fröhlich ging es einst zu bei der Familie Einstein im Stuttgarter Westen. Ihren Lebensmittelpunkt haben sie in der Hölderlinstraße, zunächst in der Hölderlinstraße 58 und dann in einer großzügigen, mit schönen Möbeln eingerichteten Wohnung im Haus Nummer 37. Leopold und Elisabeth Einstein führen dort mit ihren drei Kindern Fritz, Kurt-Werner und Ingeborg (geboren 1923, 1924 und 1928) ein angenehmes Leben. Es fehlt ihnen an nichts. Die jüdische Familie ist gesellig und gastfreundlich, sie lädt gerne zum Kaffeetrinken und Kartenspielen ein. Auch, als sie schon in einer viel kleineren Wohnung leben, die ihnen die Nationalsozialisten zugewiesen hatten, empfangen sie noch regelmäßig Besuch.


In dem Eckhaus in der Hölderlinstraße lebte die Familie Einstein in einer großen Wohnung. Foto: Stadtarchiv Stuttgart / 101-FN250-2579

Das Hochzeitsfoto zeigt Elisabeth mit Schleier und Blumenkranz im dunklen Haar und einem schlichten weißen, mit Spitzen besetzten Hochzeitskleid. An ihrer Seite steht Leopold mit streng gescheiteltem Haar und der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. Das gut aussehende Paar hat eigentlich allen Grund, positiv in die Zukunft zu blicken. Leopold stammt aus Laupheim, seine Familie war einst wohlhabend, verarmte jedoch im Ersten Weltkrieg. Leopold war Frontsoldat. Nach dem Ende des Krieges kommt er nach Stuttgart. In Bad Cannstatt wird der Kaufmann im Jahr 1919 Teilhaber in der Alteisen- und Lumpenhandlung seiner Tante, im Jahr 1930 macht er sich selbstständig mit einer Lumpengroßhandlung am Cannstatter Güterbahnhof.

Durch seine Heirat mit der Stuttgarterin Elisabeth Gerstmann 1922 verkehrt er in den „feinsten Familien Württembergs“, wie es in den Entschädigungsakten aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg heißt. Zeitzeugen berichten in den Akten übereinstimmend davon, wie beliebt die Familie war. Seine „gütige Art“ soll Leopold auch in seinem Beruf zugutegekommen sein. Seine Geschäfte laufen bestens, die Familie beschäftigt eine Kinderschwester, die sich um die drei Sprösslinge kümmert, und weitere Hausangestellte.

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Ein Bild aus glücklichen Tagen: die Kinder Kurt, Inge und Fritz. Foto: privat/Théo Bohrmann

Die Kinder besuchen zunächst die Falkert-Schule. Fritz kommt 1933 auf die Schlossrealschule, Kurt folgt im Jahr 1935. Ihre Zukunft sieht vielversprechend aus – der jüngste Sohn Kurt-Werner möchte Rechtsanwalt werden, wie ein Freund aus Kindertagen berichtet. Doch es soll anders kommen. Kurt-Werner wird als einziges Familienmitglied den Aufenthalt in verschiedenen Konzentrationslagern überleben und für kurze Zeit nach Stuttgart zurückkehren. 1947 wandert er in die USA aus, heiratet und bekommt zwei Söhne. Er stirbt 1990. Was aus seinen Eltern und Geschwistern wurde, wird er nie erfahren.

Margot Weiß hat für die Stolperstein-Initiative das Schicksal der Familie Einstein, die mit dem berühmten Albert Einstein nicht verwandt ist, recherchiert. Sie hat viel Zeit und Mühe investiert, um die Geschichte der Familie ans Licht zu bringen. „Ihr Schicksal geht mir nah“, gibt sie zu. Jahrelang stand sie in Kontakt zu dem Neffen von Leopold Einstein, der in Straßburg lebte. Er konnte ihr mit Details über die Familie vor dem Krieg weiterhelfen, doch später hatte er keinen Kontakt mehr zu seinem Verwandten Kurt-Werner und dessen Familie. Um die Geschehnisse zu rekonstruieren, musste Margot Weiß auf Dokumente aus dem Stadtarchiv Stuttgart und auf die Entschädigungsakten aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg zurückgreifen. In letzteren hatte Kurt-Werner selbst und einige Zeitzeugen Angaben zu den Einsteins gemacht.

Demnach kommt das Grauen schrittweise. 1938 wird Leopold Einstein von der Gestapo gezwungen, sein florierendes Geschäft ohne Gegenleistung an einen Mitarbeitenden zu übergeben. Anschließend soll er 15 000 Reichsmark als sogenannte Judenabgabe leisten. Dies soll ihm laut Zeitzeugen große Sorgen bereitet haben, da er nicht wusste, wie er das Geld aufbringen sollte. Die beiden Söhne dürfen nicht mehr zur Schule gehen. Fritz ist zu dieser Zeit 15 Jahre alt, sein Bruder Kurt 14 Jahre und die kleine Schwester Ingeborg zehn Jahre alt. Statt die Schule zu besuchen, muss Fritz nach der Reichspogromnacht Zwangsarbeit leisten und bei den Abbrucharbeiten der zerstörten Synagoge in Stuttgart helfen. Später arbeitet er als Lastwagenfahrer, ebenfalls in Zwangsarbeit. Nach Angaben von Kurt-Werner wird sein Vater in dieser Zeit für einen Monat im Konzentrationslager Dachau inhaftiert.

1939 muss die Familie ihre schöne Wohnung verlassen und in eine deutlich kleinere Dreizimmerwohnung in der Rosenbergstraße 162 ziehen. In dem Haus werden sind jüdische Familien untergebracht. Kurt-Werner zieht nicht mit um. Der Junge will – wie er später in den Entschädigungsakten angibt – seine Familie entlasten.

Vom Killesberg in den Tod
1941 zieht die verbliebene Familie erneut um – in eine Einzimmerwohnung in der Kernerstraße 11. Elisabeth Einstein ist bei dem Umzug nicht dabei, weil sie zu der Zeit im Gefängnis in Stuttgart inhaftiert ist. Als sie im April 1942 aus dem Gefängnis freigelassen wird, muss sie sich zwei Tage später mit ihrem Mann und ihrer Tochter auf einem Sammelplatz am Killesberg einfinden. Von hier aus werden sie ins polnische Izbica gebracht. Die Stadt gilt als Durchgangsgetto, weil Juden hier unterkommen, bevor sie in die Vernichtungslager Belzec und Sobibór gebracht werden. Was Elisabeth, Leopold und ihrer kleinen Tochter widerfahren ist, ist nicht bekannt. Sie gelten als verschollen und werden später für tot erklärt.

Der ältere Sohn Fritz soll versucht haben, in die Schweiz zu fliehen, wurde jedoch in Konstanz aufgegriffen. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, wann und wohin er deportiert wurde. Kurt-Werner gab später an, dass Fritz bereits 1941 nach Riga in Lettland gebracht wurde. Nach amtlichen Angaben wird er dagegen 1942 nach Izbica gebracht. Ermordet wird Fritz Einstein am 19. August 1942 in Stutthof bei Danzig. Kurt-Werner Einstein wird am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Er überlebt 49 Monate in verschiedenen Konzentrationslagern.