Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Frank Rothfuß – 29.12.2024 – 18:00 Uhr
Berta Rauner. Foto: privat/Stolpersteine
Berta Rauner feierte Weihnachten. Religion spielte für sie wie für viele Deutsche keine Rolle in ihrem Leben. Doch dass sie qua Geburt jüdischen Glaubens war, bedeutete ihren Tod.
Sie hatte Angst. Als Alice Igaz 1962 das erste Mal wieder in ihrer Geburtsstadt war, „hatte ich Angst“, erzählte sie im Rahmen des Projekts „Frage-Zeichen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeug:innen des Nationalsozialismus“. Ihre Mutter Berta Rauner war in Auschwitz ermordet worden, sie konnte nach Schottland fliehen.
Rückkehr in die Heimat
Die Angst legte sich. Das Stuttgart war nicht mehr das Stuttgart, dass sie verlassen musste. So besuchte sie mit den jungen Schwaben Fabian Brüssow, Sarah Haide, Eleni Konstantinou die Stationen ihres Lebens in der alten Heimat. Die Ostendstraße, in der Berta Rauner, ihr Mann Wilhelm Schwab und die Kinder Alfred und Alice lebten.
Berta Rauner wurde am 22. Februar 1886 als Tochter von Abraham und Amalie Rauner in Mandel im Landkreis Kreuznach, geboren. Sie hatte sechs Geschwister. 1916 heiratete sie in Stuttgart den evangelischen Lagerarbeiter und Gaswärter Wilhelm Schwab. 1917 wurde Alfred geboren, 1920 Tochter Alice. Sie arbeitete zuhause etwa für die Modefirma Bleyle und als Haushaltshilfe.
1929 ließen die Eheleute sich scheiden, Berta Rauner, zog mit ihren Kindern zu einer Schwester nach Denkendorf, dann nach Esslingen, wo sie im Hallenbad arbeitete. Das Geld war knapp, deshalb ging Tochter Alice in das Jüdische Waisenhaus Esslingen des Reformpädagogen Theodor Rothschild. „Das ist ja das schlimme mit den Juden und Nicht-Juden. Wir haben nicht-jüdisch gelebt und wurden trotzdem so behandelt. ich glaube nicht an Gott. Warum kann man nicht in Ruhe leben?“, erzählte sie später.
Das Waisenhaus war ein sicherer Hafen. Oberhalb der Esslinger Burg erhielten die Kinder Essen und Unterricht. Bis zur Pogromnacht 1938. Die Nazis und ihre Handlanger wüteten in dem Gebäude, verdroschen Schüler und Lehrer. Rothschild zog nach Stuttgart, leitete die jüdische Schule, verhalf vielen der Kinder zur Flucht. 1944 kam er ins KZ Theresienstadt, wo er 1944 völlig entkräftet starb. Das ehemalige jüdische Waisenhaus in Esslingen trägt heute den Namen Theodor-Rothschild-Haus.
Alice war da schon wieder bei ihrer Familie. Mit Bruder und Mutter lebte sie in der Leuschnerstraße 51. Alfred hatte nach der Schule in Esslingen eine Lehre zum Werkzeugmacher begonnen und arbeitete bei der Stuttgarter Elektrowerkzeugfabrik Fein. Obwohl für alle die Religion keine Rolle spielte, waren sie für die Nazis jüdisch und damit ihrer Rechte beraubt. Im Ausweis von Berta und Alice Rauner stand nun als zweiter Vorname Sara, wie bei allen Deutschen jüdischen Glaubens. Bei Sohn Alfred fehlte das Israel im Namen, er fühlte sich wegen seiner Arbeit in einem kriegswichtigen Gebiet sicher vor Verfolgung.
Als Berta Rauner eines Tages zur Gestapo einbestellt wurde, weil sie sich um die Beerdigung eines im KZ Dachau getöteten Bruders kümmern sollte, tagte der Familienrat. Man beschloss Alice in Sicherheit zu bringen. Sie fand eine Anstellung in einem Haushalt in Edinburgh in Schottland und verließ im Mai 1939 Stuttgart. Von dort aus wollte sie die Mutter nachholen. Doch musste sie sie dafür ein Affidavit bekommen, also so viel Geld vorweisen können, dass sie finanziell bürgen und für den Lebensunterhalt für Berta Rauner ihrer Mutter sorgen könne. Doch wie sollte das möglich sein als Hausangestellte?
In Auschwitz ermordet
Beim ersten amerikanischen Angriff am helllichten Tage auf Stuttgart am 6. September 1943 kam Sohn Alfred an seinem Arbeitsplatz ums Leben. Berta Rauner erfuhr vom Tod ihres Sohnes in der Koppentalstraße, wohin sie unter Zwang umziehen musste. Am 11. Januar 1944 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Am 16. Mai 1944 kam die schwer zuckerkranke Frau nach Auschwitz und wurde dort in den Gaskammern ermordet.
Alice Igaz zog mit ihrem Mann später nach Budapest, wo auch heute noch ihre Familie lebt. Zur Verlegung des Stolpersteins für ihre Mutter war sie im Alter von 85 Jahren im September 2005 mit ihrer Schwiegertochter nach Stuttgart gekommen. Sie sagte: „Jetzt habe ich einen Ort, wohin ich gehen und meiner Mutter gedenken kann.” Ohne an das Grauen von Auschwitz denken zu müssen.