Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Akiko Lachenmann – 26.07.2024 – 13:40 Uhr
Siegfried Fiskus alias Serge Foder. Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg/EL 350 I Bü 30023
Siegfried Fiskus ist 17 Jahre alt, als er sich in Frankreich der Résistance anschließt. Der Mut des gebürtigen Stuttgarters steht exemplarisch für den Widerstand der Juden gegen das NS-Regime.
Er hätte einfach fliehen können. So wie sein Bruder Moritz. Jeder hätte das nachvollziehen können. Ein jüdischer Junge aus Stuttgart, 17 Jahre alt, der sich im Süden Frankreichs aufhielt, auf sich gestellt. Er hätte weiter von Versteck zu Versteck ziehen können, um den französischen Polizisten zu entkommen, die im Auftrag der SS von 1942 an das ganze Land nach Juden durchkämmten. Aber Siegfried Fiskus blieb. Mehr noch: Er leistete Widerstand.
Lange Zeit nach der Vernichtung des Judentums in Europa hielt sich die Vorstellung, die Juden hätten kaum Widerstand geleistet und sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Erst Jahrzehnte später, in den 1970er Jahren, begannen Historiker wie Konrad Kwiet und Helmut Eschwege diese Sichtweise zu korrigieren. In ihrem Buch „Selbstbehauptung und Widerstand“ stellen sie heraus, dass die Juden in Deutschland damals keine homogene und organisierte Gruppe waren, die rasch hätte in den Widerstand gehen können. Sie waren in allen Bereichen der Gesellschaft und Wirtschaft integriert, viele mit der geistigen Tradition und Kultur ihrer Heimat verwachsen, die sie selbst mitgeprägt hatten. Als sie die heraufziehende Gefahr erkannten, war es ihnen – wie vielen anderen Deutschen auch – unmöglich, sich binnen kurzer Zeit in Opposition zum politischen System zu stellen. „Die Entscheidung für den Widerstand war immer nur die Sache des einzelnen, niemals die einer Gruppe“, schreiben die Historiker. So ein einzelner war Siegfried Fiskus.
Der Schulleiter verhilft den Söhnen zu falschen Papieren
Er kommt am 22. Februar 1926 in Stuttgart zur Welt, das älteste von drei Kindern. Vermutlich wächst er in bescheidenen Verhältnissen auf. Seine Eltern, Wirtschaftsflüchtlinge aus Galizien (heute Polen), führen in ihrem Wohnhaus in der Weimarstraße 15 im Stuttgarter Westen einen Textil- und Kurzwarenladen. Im Jahr seiner Geburt müssen sie Konkurs anmelden. 1933 wandert die Familie nach Belfort aus, vielleicht spielte Hitlers Machtübernahme eine Rolle, vielleicht erhofften sie sich in Frankreich ein besseres Auskommen.
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Weimarstraße 15: Familie Fiskus wohnte im weißen Haus in der Mitte des Bildes. Foto: Stadtarchiv Stuttgart / 101-FN250-1988
Das Leben der Familie bleibt unbeständig. Im Jahr 1940 erreichen die deutschen Truppen Belfort. Die Familie flüchtet Richtung Südwesten, in die Stadt Aurillac in der Auvergne, wo der Vater wieder mit Textilien handelt und seine beiden Söhne ein Gymnasium besuchen. Zwei Jahre später erreichen die Deutschen auch diese Gegend. Der Schulrektor verhilft den Söhnen zu falschen Papieren, damit sie das besetzte Gebiet verlassen können. Siegfried Fiskus heißt von nun an Serge-François Foder, geboren am 6. Februar 1926 in Belfort.
Die Familie entscheidet, getrennte Wege zu gehen. Erneut erleben die Brüder, wie mutige Menschen ihnen auf der Flucht helfen. Eine Frau namens Simone Spanien, die für die Organisation Union Générale des Israélites de France (UGIF) arbeitet, vermittelt ihnen eine Unterkunft in einem Dorf namens Busset, 200 Kilometer von Aurillac entfernt, bei der Ehefrau eines Arztes. Die UGIF wurde eigentlich auf Druck der Nazis gegründet, um die jüdische Bevölkerung Frankreichs zu verwalten. Ihr wird vorgeworfen, bei Massenverhaftungen der Nazis kollaboriert zu haben. Aber vor allem in den damals noch unbesetzten Gebieten im Südosten setzten sich einige Mitglieder der UGIF für die Rettung von Juden ein. Die Tochter von Simone Spanien, Denise-Ariane Spanien Mac Donald, erzählt später, ihre Mutter habe in ihrer Wohnung durchreisende Studenten beherbergt. Kindern aus Osteuropa beschaffte sie gefälschte Dokumente und suchte über Zeitungsinserate nach Pflegefamilien für sie. „Die Familien bezahlte sie mit Mitteln des UGIF“, berichtet die Tochter.
Er steht mit gleich zwei Widerstandsgruppe in Verbindung
Sechs Monate bleiben die Gebrüder Fiskus bei der Dame in Busset. Als die Lage auch dort brenzlig wird, trennen sich schließlich die Brüder. Während der damals 13 Jahre alte Moritz weiterhin an verschiedenen Orten Unterschlupf findet, tritt Siegfried in Montélimar eine Stelle als Hilfslehrer in einer Schule an. Wer ihm diese Stelle verschafft, ist unklar. War der 17-Jährige da schon in Kontakt mit französischen Widerstandsgruppen, mit der so genannten Résistance? Hatte er da schon entschieden, nicht mehr länger davonzulaufen, sondern in den Widerstand zu gehen?
Aus Briefen geht jedenfalls hervor, dass er in Montélimar gleich mit zwei Gruppen in Verbindung stand: mit den Forces Françaises de l’Intérieur (FFI), dem militärischen Arm der Résistance, der später an der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten beteiligt war. Und mit der kommunistisch geprägten Mouvement National Contre le Racisme, kurz MNCR. Die Bewegung organisierte Unterschlupf, gefälschte Papiere und Fluchtwege für Verfolgte. Außerdem gab sie Zeitungen und Flugblätter heraus, um über die Verbrechen der Nazis und der kollaborierenden Regierung Frankreichs aufzuklären.
Er wird verraten und fährt im letzten großen Zugtransport nach Auschwitz
Mitglieder des MNCR bestätigen später, dass Siegfried Fiskus alias Serge Foder der „Chef local“ in Montélimar war. Und dass er verraten wurde. Bei einer Razzia am 22. Juni 1944 entdeckt die deutsche Militärpolizei ein einzelnes Flugblatt in seiner Wohnung und verhaftet ihn. Nicht wegen seiner jüdischen Herkunft – ob und wann diese entdeckt wird, ist unklar. Sondern wegen seiner Aktivität in der Résistance. Er kommt ins Gestapo-Gefängnis in Lyon und von dort ins Gefängnis Montluc, wo während der Besatzung Widerstandskämpfer gefoltert werden. Eine knappe Woche später wird er mit anderen Gefangenen ins große Sammellager in Drancy bei Paris gebracht. Von dort wird er am 31. Juli 1944 im letzten großen Zugtransport, dem so genannten Convoi 77, nach Auschwitz deportiert. 19 Tage später werden die letzten Gefangenen in Drancy befreit.
Für Siegfried Fiskus hat das Leiden noch lange kein Ende, die Odyssee hat gerade erst begonnen. Zusammengepfercht mit 1309 Gefangenen erreicht er am 3. August Auschwitz. Über die Hälfte der Deportierten, darunter 324 Kinder, wird ohne Umwege in den Gaskammern ermordet. Siegfried Fiskus gehört zu den 474 Männern und Frauen, die wegen ihrer Arbeitstauglichkeit am Leben bleiben sollen.
Von Danzig nach Hailfingen im Gäu
Am 27. Oktober 1944 wird Siegfried Fiskus mit rund 1500 Gefangenen erneut verlegt, dieses Mal ins Durchgangslager Stutthof bei Danzig. Hintergrund ist, dass die Rote Armee von Osten her rasant vorrückt und Auschwitz geräumt werden soll. Wieder siebt man die Arbeitsfähigen aus, denn die Deutschen können auf keine Arbeitskraft mehr verzichten. Drei Wochen lang schuftet Fiskus mit anderen Gefangenen vermutlich am Hafen. Dann, so berichtet der polnische Jude Alex Sofer in seinen Memoiren, gab es von außen „eine Anforderung für 1200 Juden zur Arbeit. Fast alle, die aus Auschwitz gekommen waren, wurden für den Transport gewählt, von dem niemand wusste, wohin er ging.“ Er führt sie tief in den Westen, zurück in die Heimat von Fiskus. In Stuttgart wird der Transport aufgeteilt: 600 kommen nach Echterdingen, 601 nach Hailfingen bei Herrenberg, darunter Siegfried Fiskus. Das KZ Hailfingen wird seine letzte Station.
In dieser letzten Phase des Krieges, als die Alliierten den Luftkampf zunehmend dominieren, bauen die Nazis fieberhaft ihre Flugplätze aus. Weil es jedoch an Arbeitern mangelt, greift die Führung zunehmend auf KZ-Häftlinge zurück. Rund 600 KZ-Außenstellen werden in dieser Endphase aus dem Boden gestampft, fast immer angeschlossen an Baustellen. Hailfingen kommt eine besondere Priorität zu. Nach der Landung der Alliierten muss ein im französischen Brest stationiertes Nachtjägergeschwader ins Reichsgebiet zurückverlegt werden, unter anderem auf den Hailfinger Flugplatz. Dafür müssen Rollwege gebaut werden, die zu getarnten Liegeplätzen führen, aber auch Startbahnen müssen gebaut und verlängert werden.
Schlafen im offenen Hangar
Das Lager ist auf die 601 KZ-Häftlinge nicht vorbereitet. Es gibt keine Baracken, sie müssen in einem offenen Hangar schlafen. Alex Sofer erinnert sich an die Ankunft: „Ein Zittern ging durch unsere Körper, als wir in die große leere Halle kamen. Der Schnee wehte hinein. Keine Betten, kein Wasser. Wir schliefen auf nasser Erde.“
Dass sie als Arbeitskräfte geholt werden, erhöht nicht ihre Überlebenschancen. Völlig geschwächt müssen sie Schwerstarbeit leisten. Wer sich nicht mehr zur Arbeit schleppen kann, bekommt auch nichts mehr zu essen. An Widerstand ist nicht zu denken. „Der Häftling in Hailfingen hat kaum stehen können“, sagt Mordechai Ciechanower, ein Überlebender, später in einem Interview.
Weil die Alliierten weiter vorrücken und der Treibstoff ausgeht, wird das Lager Mitte Februar 1945 wieder aufgelöst. In den drei Monaten kommen 189 Häftlinge ums Leben, auch Siegfried Fiskus. Die Umstände seines Todes sind unbekannt. Wer noch lebt, muss weiterziehen, entweder nach Vaihingen in die Krankenbaracke oder ins Außenlager Dautmergen zur Treibstoffgewinnung. Die Ankunft der Alliierten erlebt nur etwa ein Viertel der 601 Hailfinger Häftlinge.
Volker Mall hat etliche Biografien der Hailfinger Häftlinge rekonstruiert. Foto: Lachenmann
Jahrzehnte lang weiß niemand, dass sich unter ihnen elf französische Widerstandskämpfer befanden. Der ehemalige Lehrer Volker Mall, der etliche Biografien rekonstruiert hat, findet bei den Recherchen heraus, dass eine Gruppe der Hailfinger Häftlinge bereits gemeinsam im Convoi 77 von Drancy nach Auschwitz saß. Von französischen Rechercheuren, die sich mit dem Convoi 77 beschäftigen, erfährt er, dass einige einen Alias-Namen trugen – und Serge Foder eigentlich Siegfried Fiskus hieß. Mall macht kurz darauf Marc Genzel ausfindig, einen Neffen von Fiskus. Ihm erzählt er von den letzten Monaten seines Onkels und erfährt im Gegenzug, dass Siegfried Fiskus in der Résistance aktiv war, wohl gegen den Willen der Familie, wie Genzel erzählt. Der Neffe fand Hinweise darauf in Tagebuchaufzeichnungen seiner Mutter Hella, der Schwester von Siegfried.
2023 hat Volker Mall die Biografien all jener Hailfinger Häftlinge veröffentlicht, die sich gegen das Nazi-Regime zur Wehr gesetzt hatten. Ein weiterer Mosaikstein in der Darstellung des jüdischen Widerstands.