Artikel aus den Stuttgarter Nachrichten
Heidemarie A. Hechtel – 11.08.2024 – 18:00 Uhr
Sigmunde Friedman (1872 – 1944) als junge Frau. Foto: Staatsarchiv Ludwigsburg
Sigmunde Friedmann begleitete Tochter, Schwiegersohn und Enkel nicht in die Emigration in die USA, weil sie beim Start ins Ungewisse nicht zur Last fallen wollte. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – die Menschen hinter den Namen“.
Sie wollten nicht zur Last fallen. Deshalb sind sie zurückgeblieben in Deutschland, während ihre Söhne, Töchter und Enkelkinder das rettende Visum für eine Zuflucht in den USA, Palästina oder einem anderen Land nutzten. Unzählige alte jüdische Menschen, Großmütter und Großväter haben aus diesem Grund die Emigration verweigert. Und damit ihr Schicksal besiegelt. Wie Sigmunde Friedmann, die am 22. August 1942 vom Inneren Nordbahnhof aus nach Theresienstadt deportiert wurde und dort am 5. April 1944, im 72. Lebensjahr, an Hunger und Typhus gestorben ist. Seit 2008 erinnert an sie ein Stolperstein vor dem Haus Hohenstaufenstraße 17 A, ihrem letzten Stuttgarter Wohnort.
Am 10. April 1939 hat Charlotte Isler ihre Großmutter zum letzten Mal gesehen. Es war der Tag, an dem die Familie Nussbaum Stuttgart für immer verließ. Ein Visum für die USA hatte die Abreise in letzter Minute ermöglicht. „Am frühen Morgen fuhren meine Großmutter und wir vier“ – Vater, Mutter Charlotte und Bruder Ernst – „mit vier großen Koffern und drei Geigen mit einem Taxi zum Flughafen in Böblingen“, erinnert sich Charlotte Isler in ihren Memoiren, die sie 2005 für ihre Söhne geschrieben hatte. „Wir bestiegen das Flugzeug, ließen meine Großmutter allein auf dem Rollfeld stehen und winkten uns gegenseitig zu. Es war das letzte Mal, dass wir sie sahen.“
Verabredet war: „Du kommst nach, wenn wir Fuß gefasst haben“
Einen Tag vorher hatte sie noch das Verpacken des Hausrates in den „Lift“, eine große Transportkiste, in Anwesenheit von zwei Zollbeamten beobachtet. „Ich glaube, sie ahnte, dass sie keinen von uns wiedersehen würde“, schreibt Charlotte Isler. Ihre Mutter Claire, verheiratet mit Manfred Nussbaum, war Sigmunde Friedmanns Tochter. Natürlich hätten ihre Eltern alles versucht, die Großmutter dazu zu überreden, mit ihnen Deutschland zu verlassen. Gegen deren Argument, dass sie doch selbst nicht wüssten, was sie in New York erwarte, wo sie unterkämen und wie sie existieren sollten, seien die Eltern nicht angekommen. Geblieben sei die Verabredung: „Du kommst nach, wenn wir Fuß gefasst haben.“ Doch der Krieg, der fünf Monate später, am 1. September, mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen begann, machte alle Hoffnung auf ein Wiedersehen zunichte. Der letzte Brief, den die Tochter über das Rote Kreuz erhielt, stammte vom 13. 8. 1942. „Wir wussten nichts über ihr Schicksal, von dem wir erst nach dem Krieg erfahren haben“, so Charlotte Isler.
Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen
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Sigmunde Friedmann wurde am 12. Juli 1872 in Fürth geboren als Tochter des Fabrikbesitzers Max Schweizer und seiner Frau Klara, geborene Seckstein. Dort hatte sie auch Albert Friedmann kennengelernt und am 8. Juli 1894 geheiratet. Der acht Jahre ältere Geschäftsmann stammte aus dem kleinen württembergischen Ort Pflaumloch, war aber längst nach Stuttgart gezogen. Dort betrieb er mit seinem Bruder Siegfried ein Weiß- und Wollwarengeschäft in der Eberhardstraße, das sich zu einem Fabrikationsbetrieb für Kleider, Blusen und Schürzen entwickelte, zuerst in der Paulinenstraße, dann in der Kurze Straße, heute Feinstraße, und von 1903 an in der Adlerstraße 16.
Das Ehepaar wohnte zuerst in der Olgastraße 75 und zog 1902 in das Firmengebäude 4 um. Hier wuchsen die beiden Töchter auf: Else, geboren 1897, und die drei Jahre jüngere Claire. „Die Friedmanns waren hochgeachtete Stuttgarter Bürger“, heißt es in der Biografie, die von der Initiative Stolperstein ins Netz gestellt wurde, um die Menschen hinter den Namen auf den Messing-Plaketten lebendig werden zu lassen.
Die systematische Entrechtung der Juden durch die Nationalsozialisten erschütterte das gutbürgerliche und angenehme Leben: 1934 wurde die Fabrik enteignet. „Einschließlich des gesamten umliegenden Grundstücks, zu dem auch der Garten gehörte, in dem ich als kleines Kind gespielt habe“, schreibt Charlotte Isler. Albert Friedmann musste es nicht mehr erleben, er war 1931 gestorben, „infolge eines Herzschlags im Alter von 67 Jahren“, wie es seine Witwe im Neuen Tagblatt anzeigte. Manfred Nussbaum, Ehemann von Tochter Claire und Charlotte Islers Vater, versuchte die Firma weiterzuführen. Doch 1935 wurde sie liquidiert.
Diese audiovisuelle Plakette des Künstlers Hans-Jürgen Trinkner am Eingang des Hauses in der Hohenstraufenstraße 17 A erinnert an Sigmunde Friedmann. Foto: Hans-Jürgen Trinkner
Zwei Fotos öffnen das Fenster der Erinnerung: Sigmunde Friedmann, einmal als junge Frau, zu sehen auf einer audiovisuellen Plakette des Künstlers Hans-Jürgen Trinkner, die direkt neben dem Eingang zum Haus Hohenstaufenstraße 17 A angebracht ist: Ein schönes klares Gesicht, dunkle Augen, die ernst gucken. Die Freunde nannten sie Mundi. Donald Isler, der Ururenkel, Pianist und Komponist, hat die Musik dazu komponiert (mehr dazu unter: http://www.stolperkunst.de/ein-fenster-2/). Und ein zweites Porträt, Jahrzehnte später aufgenommen: Eine weißhaarige Dame mit strengem Blick und ausgeprägtem Kinn, das Durchsetzungsfähigkeit andeutet.
Was war sie für ein Mensch? Wie war sie als Großmutter? „Wie Großmütter eben sind“, sagt Charlotte Isler nach längerem Nachdenken. Man muss es wohl als fast einmaligen glücklichen Umstand bezeichnen, dass man nach so vielen Jahrzehnten noch eine Enkelin befragen kann. Wir sitzen an einem strahlend sonnigen Tag im Juni in ihrem Haus in Irvington on Hudson, eine halbe Zugstunde nördlich von New York, die Hitze draußen hat die 86-Grad-Fahrenheit-Marke (30 Grad Celsius) längst überschritten. Wie üblich im Sommer in New York, das auf dem gleichen Breitengrad liegt wie Neapel. Und nichts, was unsere Gastgeberin, die am 24. November 100 Jahre alt wird, beeinträchtigen könnte.
Die Großmutter also. War sie streng? „Nein.“ Liebevoll? „Ja, sicher.“ Sie habe nach dem Tod ihres Mannes weitgehend ihre Tage in der Wohnung ihrer Tochter Claire verbracht, sich um den Haushalt gekümmert, die Angestellten beaufsichtigt und die Kinder Charlotte und Ernst betreut, während die Mutter ihr Kurse in Schwedischer Gymnastik gab oder auf Reisen und beim Skifahren war. Sie kam täglich ins Krankenhaus, als Charlotte sechs Wochen mit Scharlach in Quarantäne lag und fuhr mit ihr ins Allgäu, um das zu dünne Kind mit frischer Sahne vom Bauern wieder aufzupäppeln.
Charlotte schüttelt sich heute noch vor Widerwillen gegen die Mastkur. „Eigentlich hat sie bei uns gewohnt“, konstatiert sie. Daher wurde der Stolperstein an dieser Adresse gelegt, obwohl die Großmutter nach dem Tod ihres Mannes nach Degerloch umgezogen war und vor der Deportation noch ins Schloss Weißenstein auf der Alb zwangsumgesiedelt worden war. Die Nazis wollten auf diese Weise die Deportationen effektiver organisieren.
Man kann nicht von Sigmunde Friedmann sprechen, ohne den Bogen in die Gegenwart und zur Enkelin Charlotte Isler zu schlagen. „Würde ich jemals hierher zurückkommen?“, hatte die sich als 14-Jährige beim Abschied von der Heimatstadt gefragt. Auch später, nachdem sie sich mit großem Einsatz ein neues Leben in Amerika aufgebaut hatte, sei der Gedanke daran weit in den Hintergrund gerückt: „Ich kannte keine Seele mehr und konnte mir nicht vorstellen, Zeit in Stuttgart zu verbringen.“ Doch 1967 wollte sie ihren Söhnen Donald und Norman erstmals die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zeigen und besuchte Stuttgart dann noch mehrere Male mit ihrem Mann Werner. Bis die Erinnerungen zu schmerzlich wurden, vor allem der Gedanke an das Ende der Großmutter in Theresienstadt – und sie mit Stuttgart abschloss.
Der Stolperstein für Sigmunde Friedmann in der Hohenstaufenstraße 17 A. Foto: Adrian Schmidt
Ein Anruf aus Stuttgart am 7. März 2008 änderte alles: Am Telefon war Irma Glaub von der Stolperstein-Initiative, die ihr erzählte, dass der Künstler Gunter Demnig für ihre Großmutter in Kürze einen Stolperstein vor dem Haus Hohenstaufenstraße 17 A verlegen werde. „Ich wusste damals gar nicht, was ein Stolperstein war!“ Aber sie sei fasziniert gewesen. Und beeindruckt von der Recherche von Irma Glaub, die das Leben ihrer Großmutter detailliert erforscht und sie, die Enkelin, über ihren Vetter Fritz Friedmann in Basel ausfindig gemacht hatte. Zur Verlegung des Stolpersteines schaffte sie es nicht, aber ein halbes Jahr später stand sie vor der kleinen Messingtafel im Boden mit Namen und Daten ihrer Großmutter.
Charlotte Isler ist „teilweise wieder Stuttgarterin geworden“
Seither kam sie viele Male wieder und hat über die hiesige Stolperstein-Initiative einen großen Freundeskreis gewonnen, der sich mit Gegenbesuchen in Irvington beinahe die Klinke in die Hand gibt. Sie engagierte sich im Kampf um den Erhalt des Hotels Silber als Lern- und Erinnerungsort mit Briefen an den Ministerpräsidenten und Oberbürgermeister und war bei der Eröffnung im Dezember 2018 dabei. Sie stellte im Oktober 2023 hier ihre Autobiografie vor, die das Stadtarchiv herausgegeben hat, jetzt auf Deutsch und um ein Stuttgart-Kapitel erweitert. „Nach all diesen Jahren bin ich, wenigstens teilweise, wieder Stuttgarterin geworden“, stellt sie fest, dankbar all denen, die das Wort von der Erinnerungskultur mit Leben erfüllen. Und in Gedanken an die Großmutter, die, fast magisch, den Weg zurück eröffnet hat.
Filmporträt
Beim Besuch von Charlotte Isler 2014 in Stuttgart ist unter der Regie von Harald Stingele und den Stolperstein-Initiativen ein Filmporträt entstanden. Zu sehen ist es unter: http://frage-zeichen.org/video/charlotte-isler/