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Stolperstein in Stuttgart-Nord: Dann war sie ruhig

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Robin Szuttor 26.04.2024 – 19:33 Uhr


Else und Wilhelm Josenhans mit ihren Kindern Annemarie und Liselotte, Foto: privat/Jörg Kurz

Else Josenhans stand mit ihrer Familie auf der Sonnenseite des Lebens – bis die Nazis an die Macht kamen. Einen Monat vor Kriegsende wurde sie auf grausame Weise ermordet. Die Hintergründe sind bis heute rätselhaft. 

Es gibt den Carlos-Grethe-Weg 2 und den Carlos-Grethe-Weg 6 im Stuttgarter Norden. Nummer 4 ist schon länger abgerissen. Hinter einer hohen Mauer erahnt man eine Art Gartenpavillon, wo früher das Haus stand. Den dazugehörigen Stolperstein entdeckt nur, wer ihn auch entdecken will. Er fügt sich in ein arg ramponiertes Trottoir, so schmal, dass keiner darauf gehen kann. „Dieser Stein ist mir noch nie aufgefallen“, sagt ein Nachbar, der beim Suchen geholfen hat.

1933 zieht die junge Familie Josenhans hier mit den zwei kleinen Kindern in ihr Einfamilienhaus. Die Adresse in der modernen Kochenhofsiedlung steht für einen neuen Lebensabschnitt als Eigenheimbesitzer. Else Josenhans, 1896 als Tochter eines jüdischen Bankiers geboren, und ihr Mann, ein evangelischer Beamter, haben es in wirtschaftlich desaströsen Zeiten zu Wohlstand gebracht. So kann es ruhig weitergehen.


Das Hotel Silber 1942, Foto: Stadtarchiv/101-FN250-23


Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verdunkelt sich der Ausblick. 1937 wird Wilhelm Josenhans wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ (er ist Freimaurer) und seiner (längst christlich getauften) jüdischen Frau als Verwaltungsoberinspektor beim Landesarbeitsamt zum Frühruhestand gezwungen. Bald darf Else Josenhans nicht mehr Straßenbahn fahren, die Familie hat Bunkerverbot bei Luftangriffen. Als 1941 Judendeportationen von Stuttgart in den Osten anlaufen, bleiben „Mischehen“ noch weitgehend unbehelligt – wenn der jüdische Teil als assimiliert gilt und die Kinder nicht jüdisch erzogen werden. Doch wie sicher kann sich die Familie fühlen?

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Transport nach Theresienstadt
Anfang 1945 bekommt auch Else Josenhans den Bescheid, sich zum Transport nach Theresienstadt einzufinden. Im Beisein einer Ärztin fügen die Töchter ihr einen Beinbruch zu, bringen sie dann ins Bosch-Krankenhaus, wo sie für transportunfähig erklärt wird. So kann sie der akuten Gefahr entrinnen. Doch sie sitzt weiter in der Falle.

Ein paar Wochen später greift Josef Burra, ein Vertrauter der Josenhans-Tochter Annemarie, ins Geschehen ein. Er drängt die Familie zur Flucht und arbeitet einen Plan aus, wie er sie über die Schweizer Grenze bringen will. Am 24. März steht die Familie mit knapp 20 000 Reichsmark am Hauptbahnhof. Doch von dort aus geht es nicht in die Freiheit, sondern in den Abgrund. Vier Gestapomänner nehmen sie fest. Burra hat sie verraten.

Ihre Kinder kommen wieder frei, später auch ihr Mann. Für Else Josenhans ist das Kellerloch der Stuttgarter Gestapozentrale „Hotel Silber“ die letzte Lebensstation. Ihr grausamer Tod wirft bis heute Fragen auf.

„Ja, ich habe das Weib gehenkt“
Die Stuttgarter Historikerin und Autorin Sigrid Brüggemann hat sich mit dem Schicksal von Else Josenhans befasst. Dabei stieß sie unvermeidlich auf die Geschichte des Wachmanns Anton Dehm, der die Tat 1946 im Polizeiverhör mit den Worten gestand: „Ja, ich habe das Weib gehenkt. Aber zuerst ist die Schnur abgekracht, weil es nur eine Papierschnur war. Die Frau sagte dann zu mir: ,Sie haben doch auch eine Mutter, lassen Sie mich doch am Leben.‘ Da schlug ich sie aufs Maul, dann war sie ruhig und dann habe ich sie vollends aufgehängt.“

Josenhans und Dehm. Zwei Menschen, zwischen denen es keine schärfere Trennlinie geben könnte, und die doch eine unbegreifliche Fügung miteinander verband als Opfer und Täter. Dehm, Sohn eines oberschwäbischen Maschinenmeisters, Bäcker von Beruf, tritt 1931 in die NSDAP und ihre Sturmabteilung SA ein. 1933 wird er Wachmann im Schutzhaftlager bei Stetten am kalten Markt. 1937 kommt er nach Welzheim. Ein früherer Häftling schildert ihn nach dem Krieg als „den rücksichtslosesten und am sadistischsten veranlagten Wachtmeister“ in dem Polizeigefängnis.

1944 wechselt Dehm, mittlerweile SD-Oberscharführer, als Wachmann ins „Hotel Silber“. Dort wird Anfang April 1945 der Großteil der Häftlinge Richtung Bodensee in Marsch gesetzt. Dehm bleibt mit ein paar Gefangenen zurück. Vom Chef der Dienststelle, Friedrich Mußgay, erhält er noch den Befehl, zwei französische Zivilisten sowie Else Josenhans zu erhängen. Er tut es. In der Nacht auf den 11. April stirbt Else Josenhans. Einen Monat später ist der Krieg aus.

Die Familie sucht fieberhaft nach dem Verbleib der Mutter und Ehefrau – auch auf Friedhofsämtern. Bei einer „Natalie Rosenkranz“, die am gleichen Tag wie Else Josenhans geboren ist und am 13. April starb, werden sie stutzig. Nach der Exhumierung steht fest: Natalie Rosenkranz ist Else Josenhans. Man verscharrte sie unter falschem Namen, ohne Sarg, nur unvollständig bekleidet auf dem Steinhaldenfriedhof. Um den Hals trägt sie noch die dreifach gelegte Vorhangschnur, mit der sie „vollends aufgehängt“ wurde.

Ein Jahr später stirbt er
Die Kinder wollen Deutschland schnell hinter sich lassen. Annemarie geht in die Schweiz. Liselotte versucht vergeblich, in die USA auswandern und bleibt in Stuttgart. Wilhelm Josenhans wird im Juni 1945 als stellvertretender Arbeitsamtsleiter in Ludwigsburg eingestellt, zum Regierungsrat befördert. Ein Jahr später stirbt er. Letzte Fotos zeigen ihn als schwer gealterten, gebrochenen Mann. Auch die Töchter leiden zeitlebens am unwürdigen Tod ihrer Mutter.

Anton Dehm verbirgt sich nach Kriegsende unter falschem Namen in einem Dorf bei Heilbronn. Dort spürt ihn der Kriminalkommissar Walter Huber im August 1946 auf. Huber und US-Offiziere verhören ihn. Auch zwei Beamte der Züricher Kriminalpolizei sind dabei. Sie bearbeiten die Mordanzeige der Töchter Josenhans gegen Anton Dehm.

Er gesteht die Erhängungen. Weil sich Friedrich Mußgay zwischenzeitlich umgebracht hat, kann Dehm getrost alle Verantwortung für die Verbrechen im „Hotel Silber“ auf seinen Vorgesetzten abwälzen. Mußgay habe befohlen, sagt Dehm, und er habe ausführen müssen. So etwas wie Reue können die Polizisten bei ihm nicht erkennen.

20 Jahre Zuchthaus
Nach Abschluss der Ermittlungen wird Dehm der französischen Besatzungsmacht übergeben. In Rastatt verurteilt ihn das Tribunal Général 1948 zu 20 Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit. Sechs Jahre später kommen er und weitere NS-Täter nach einem Gnadenerlass des französischen Hohen Kommissars frei. Dehm kehrt zurück nach Stuttgart, wo er mit Frau und Adoptivsohn in der Paradiesstraße lebt. Die Begnadigung von Nazitätern durch die Besatzungsmächte, aber auch durch deutsche Behörden, ist ein weites Feld. Sie gehört gleichsam zur Innenausstattung der Nachkriegsrepublik.

1958 lenkt ein Artikel im „Spiegel“ die Aufmerksamkeit erneut auf die Verbrechen Dehms und den Mord an Else Josenhans. Die Tat sei noch immer ungesühnt, heißt es. Aufgrund internationalen Drucks nimmt die Staatsanwaltschaft Stuttgart Ermittlungen gegen Dehm auf – stellt das Verfahren aber schließlich ein. Der Fall Josenhans sei neben dem Mord an den Franzosen Bestandteil des Rastatter Verfahrens gewesen und Dehm auch dafür verurteilt worden. Ein deutsches Gericht dürfe kein Urteil einer ehemaligen Besatzungsmacht revidieren.

Doch büßte Dehm tatsächlich je für den Mord an Else Josenhans? Von den Franzosen wurde er damals laut Auskunft der Stuttgarter Staatsanwaltschaft wegen „Beihilfe zu Kriegsverbrechen“ verurteilt. Dieser Tatbestand erfasste aber nur nicht deutsche Opfer.

„Das verstehe ich bis heute nicht“
Späte Klärung würde ein Blick in die Prozessakte bringen. Sigrid Brüggemann beantragt bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart Einsicht in die Abschrift. Aber das einzige Exemplar ist nicht auffindbar. Und das Archiv im französischen Colmar, das die Originale des Tribunal Général verwahrt, reagiert erst gar nicht auf ihre Anfrage.

Für sie sind noch viele Fragen offen: Wie konnte die Stuttgarter Prozessabschrift einfach verschwinden? Noch wesentlicher: Warum musste Else Josenhans überhaupt sterben? Warum war ihr Tod so wichtig für Dehms Vorgesetzten Mußgay? „Das verstehe ich bis heute nicht“, sagt Sigrid Brüggemann. „Die Nazis hatten eigentlich nie ein großes Augenmerk auf sie und ihre Familie.“

Brüggemann hat durch ihre Arbeit in viele menschliche Abgründe geblickt. Seit Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit dem Nationalsozialismus. Was ist ihr Antrieb? „Anfangs war es die moralische Empörung und auch der Wille zu belegen, welche Schweinereien da passiert sind“, sagt sie. In ihrer Schule erlebte Brüggemann, Jahrgang 1955, noch alte Nazilehrer in Reinkultur. In ihr wuchs eine Auflehnung „gegen diese autoritäre Gesellschaft, ich wollte nur raus aus diesem Sumpf“. Im Studium wich der anklagende Grundton einer wissenschaftlichen Distanz und Neugier: Was hat einzelne Leute dazu gebracht, sich so oder so zu verhalten? Wie sind sie hinterher damit umgegangen? „Der Fall Josenhans hat mich besonders bewegt. Und er tut es noch heute.“

Als „Massenmörder“ beschimpft
Im Dezember 1958 (nach Erscheinen des „Spiegel“-Artikels) fragt Anton Dehm bei der Polizeiwache Vaihingen nach, wie er sich gegen die in jüngster Zeit eingehenden Schmähbriefe schützen könne. Man würde ihn darin als „Massenmörder“ beschimpfen und drohen, ihn „gelegentlich abzuholen“.

Else Josenhans hat ihre letzte Ruhestätte im Familiengrab auf dem Stuttgarter Waldfriedhof gefunden. Am 29. September 2017 wurde die Straße hinter dem Hotel Silber nach ihr umbenannt. Sie war das letzte Opfer, das im Gestapokeller sterben musste.