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Spuren der Nachbarn

Artikel aus Blick vom Fernsehturm vom 20.07.2007:

Spuren der Nachbarn
Die “Stolperstein”-Initiative erinnert an hiesige Opfer der Nazi-Barbarei

 
Degerloch. Von manchen einstigen Nachbarn blieben nur wenige Zeugnisse. Eine Initiative erforscht ihre Schicksale. Bislang gibt es sechs “Stolpersteine” zum Gedenken an ermordete Juden in den Stadtteilen unterm Fernsehturm – vor ihrer letzten frei gewählten Wohnung.

Von Martin Bernklau

Da gab es zum Beispiel die Degerlocher Familie David, die an der Reutlinger Straße wohnte, im “Judenhaus” der Kaufmannswitwe Rosa Rosen. Drei Tage nach den Pogromen der “Reichskristallnacht” sahen der junge Lehrer Felix David und seine Frau Ruth keinen Ausweg mehr und zogen es vor, gemeinsam mit ihren kleinen Söhnen Benjamin und Gideon aus dem Leben zu scheiden. Vermutlich nahmen sie Gift. Heute steht auf dem Grundstück mit der Nummer 73 ein Haus aus den Nachkriegsjahren.

Am Königsträßle 34 lebte das schon ältere Ehepaar Berta und Salomon Frank, das nach dem Ersten Weltkrieg aus lauter Deutschfreundlichkeit von Brüssel, wo er arbeitete, wieder nach Stuttgart gezogen war. Er bevorzugte, ganz assimiliert, seinen zweiten Vornamen Stefan. Die beiden Kinder Erna und der 1900 geborene Richard, knapp der Verhaftung entgangen, flüchteten noch rechtzeitig in die USA. Vergeblich versuchte Richard, später Chemie-Professor, seine Eltern Ende 1941 von Amerika aus noch zu retten. Doch sie wurden zunächst ins “Judendorf” von Buchau am Federsee evakuiert und dann im August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Ein paar Monate später waren beide tot.

Um solche Geschichten kümmert sich Doris Neu. Sie war bis zur Pensionierung an der Ganztagsschule Fasanenhof 40 Jahre lang Lehrerin und unterrichtete auch viel Geschichte. Bei den Naturfreunden Heslach kam sie in Kontakt mit der Stolperstein-Initiative und fand Mitstreiter etwa in Peter Hönig oder dem Tübinger Arzt Jacques-E. Schäfer. Man wollte die Lebensschicksale jener Nachbarn in den Filder-Vororten Stuttgarts vor dem Vergessen bewahren, die von den Nazis entrechtet, verschleppt und ermordet worden waren. In Degerloch, schon damals Stuttgarter Stadtteil, sind ihre Geschichten inzwischen gut recherchiert. In Sillenbuch gründet sich gerade eine eigene Gruppe. In Plieningen und Birkach freilich ist die Quellenlage schwierig, weil beide erst 1943 eingemeindet wurden. Es fehlt das recht ergiebige Material des Stuttgarter Stadtarchivs.

“Die bloße Zahl von Millionen anonymer Opfer erschüttert nicht so”, sagt die Lehrerin über ihre Motive, “das geht bei jungen Leuten rein und wieder raus. Aber die Geschichten von Gleichaltrigen, die Bilder von ihnen, die gehen unter die Haut.” Die historische Arbeit versteht sie als ihren “kleinen Beitrag gegen die neuen rechten Rattenfänger”.

Wilhelm, der Senior der Familie Justitz, war 1890 aus Wien gekommen, um in der Stuttgarter Rotebühlstraße 35 ein Juweliergeschäft zu eröffnen. Nach seinem Tode 1910 führten es die vier Kinder gemeinsam weiter, darunter Otto, den Zweitgeborenen, der mit seiner Familie an der Degerlocher Charlottenstraße wohnte, die heute Meistersingerstraße heißt.

Das Geschäft wurde in der Pogromnacht demoliert und dann “arisiert”. Die angebliche Entschädigung nach der Zwangsversteigerung der Reste rechneten die Nazis so mit der “Judenabgabe” auf, dass den Eigentümern nichts blieb. Nur Ottos Bruder Julius überlebte die anschließende Verfolgung. Er flüchtete 1939 nach Belgien, wurde dann im besetzten Frankreich verhaftet, entkam erneut und landete per Schiff in Casablanca, in Rio und Curaçao, bevor er in die USA gelangte und dort ein Auskommen fand.

Otto und Margarethe Justitz sowie ihre beiden Kinder Hilde und Willi, beide knapp über 20, wurden Ende 1941 nach Riga deportiert und dort erschossen. Die 21-jährige Hilde Justitz soll sich gemeinsam mit einem Arzt noch aufopferungsvoll um die Leidensgenossen im dortigen Getto gekümmert haben, bevor sie mit den krank gewordenen Eltern in den Tod ging.

Den Stein für den ermordeten Willi Justitz stifteten seine ehemaligen Mitschüler des Jahrgangs 1922 von der Filderschule, die drei anderen der Historiker Gerhard Raff. Ingeborg Wresch, die später Mieterin im Haus war, erkannte nach der Stolperstein-Verlegung in Hilde Justitz eine Mitschülerin vom Königin-Katharina-Stift. Sie besaß noch ein Gruppenfoto vom Schulausflug zum Bärenschlössle und hatte Hilde als “sehr ruhig und liebenswürdig”” in Erinnerung behalten.

Der Anwalt Otto Küster erinnerte sich später voll Zuneigung an Ella Kessler-Reis. Er hatte die junge Kollegin im Jahr 1935 als Sekretärin in seiner Kanzlei eingestellt, nachdem die Nationalsozialisten die im Vorjahr promovierte Juristin sofort mit einem Berufsverbot belegt hatten. Nach 1938 konnte er auch das nicht mehr durchhalten. Ella Kessler-Reis ging in die Jüdische Mittelstelle an der Hospitalstraße 36 und kümmerte sich unter der Leitung von Thekla Kauffmann um die Organisation der Auswandererhilfe. Dort hat sie zur Rettung vieler Menschen beigetragen. Sie selbst aber konnte nach den Beschlüssen der Wannsee-Konferenz nicht mehr vor ihren Mördern fliehen. Gemeinsam mit ihrer Mutter Auguste Reis wurde sie 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Während die Mutter von dort mit Rot-Kreuz-Hilfe – angeblich im Tausch gegen einen Lastwagen – noch in die Schweiz ausreisen durfte, starb sie im Vernichtungslager Auschwitz, wohin sie am 16. April 1944 deportiert worden war. Das Reissche Elternhaus an der heutigen Waldstraße 4 war – als “Judenhaus” – auch für Julie Weil der letzte Aufenthalt vor der Deportation. Eigentlich hatte sie in der Fidelio-, damals Seestraße 15 gewohnt, wo sich auch ihr Gedenkstein findet.

Julie Weil, 1882 geboren, war die Witwe eines Staatsanwalts, der in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs als Offizier gefallen war. Ihr gemeinsamer Sohn Heinz konnte die Rechte zwar noch studieren, durfte das Examen aber nicht mehr ablegen. 1938 floh er nach Frankreich, kehrte mit dem Kriegsende aber nach Deutschland zurück und brachte es zum Präsidenten des Landgerichts in Ellwangen. Seine Erinnerungen hat er als Pensionär niedergeschrieben.

Die Mutter, Anthroposophin und eher christlich geprägt, hatte in den Monaten vor ihrer Verschleppung zur Beruhigung noch das ganze Neue Testament abgeschrieben. Das Büchlein mit der grazilen Handschrift wurde erhalten. Julie Weil, verwandt übrigens mit jener Else Weil, die als 17-Jährige dem Bildhauer Heinz Fritz für die Stuttgardia-Figur Modell gestanden hatte, wurde im April 1942 abgeholt und bald darauf im Transit-Getto Ibica bei Lublin ermordet. Den Stolperstein in der Fideliostraße hat ihre Schwiegertochter gestiftet, die sie nicht mehr kennen gelernt hat.

Dr. Sigmund Karpeles und seine Frau Anna stammten aus dem Fränkischen und wohnten seit 1929 in ihrer kleinen Villa am Eck neben dem Park an der Elsastraße 33. Er war Hautarzt und hatte eine Praxis an der Königstraße 4. Den einzigen Sohn Josef schickten die Eltern 1939 ins Ausland. Der Arzt aber blieb, weil er seine Patienten nicht im Stich lassen wollte. Über Tigerfeld auf der Alb wurde das Ehepaar im August 1942 nach Theresienstadt verschleppt, wo die Frau ein halbes Jahr später umkam. Sigmund Karpeles wurde im Mai 1944 nach Auschwitz transportiert und dort vergast. Der Sohn starb verarmt in den USA. Ihm waren 10 000 Mark Entschädigung für das elterliche Anwesen zugesprochen worden. Ob er sie je bekommen hat, konnten die Geschichts-Rechercheure nicht herausbekommen.

Aus Odessa am Schwarzen Meer stammte Marie Schwarzkopf. Mit ihrem Mann Karl Lemmé war sie bis zum Kriegsende 1918 nach Sibirien verbannt. Dort lernte sie malen, zog mit ihm nach Degerloch an die Panoramastraße 52 (heute Ahornstraße) und wurde Schülerin von Adolf Hölzel, dem bedeutenden abstrakten Maler und Wegbereiter der Moderne. Die meisten ihrer Bilder vernichteten die Nazis. Seit 1933 Witwe, holte die Ge- stapo sie 1942 ab. In Theresienstadt verzeichnen die Listen ihren Tod am 28. März 1942. Da war die Malerin 61 Jahre alt. In Hoffeld ist eine Staffel nach Maria Lemmé benannt.

Das Schönberger Haus, die 1907 erbaute “Villa Daniel” am Röhrlingweg 3, das die taubstumme Ida Daniel von ihrem Vater geerbt hatte, gibt es nicht mehr. Es musste dem erweiterten “Haus am Berg” weichen. Ida Daniel wurde am 1. Dezember 1941 mit 1013 weiteren jüdischen Württembergern vom Stuttgarter Nordbahnhof aus ins lettische Riga verschleppt und dort vermutlich erschossen. Ihren Stolperstein vor dem Altenheim stiftete der Freundeskreis Alt-Birkach.

Die Initiative sucht nicht nur weiter Informanten und Zeitzeugen, sondern auch Spender für weitere Stolpersteine, die jeweils 95 Euro kosten. Die Daten: “Initiative Stolperstein Fildervororte c/o Peter Hönig”, Konto 2939485 bei der LBBW (Bankleitzahl: 600 501 01). Im von Harald Stingele und “Den AnStiftern” herausgegebenen Buch “Stuttgarter Stolpersteine” hat Doris Neu auch drei der hier beschriebenen Familienschicksale ausführlich dokumentiert. Das Buch ist im Markstein Verlag erschienen.
 
Aktualisiert: 20.07.2007, 06:04 Uhr

HINTERGRUND
Aus Nummern werden wieder Namen
 
Stuttgart. Seit 1993 verlegt der Kölner Aktionskünstler Gunter Demnig in ganz Deutschland seine Stolpersteine, mit denen der von den Nationalsozialisten Ermordeten gedacht werden soll. In Stuttgart gibt es inzwischen weit über hundert solcher Kleindenkmale.

Von Martin Bernklau

Gunter Demnigs Stolpersteine sind aus Beton und tragen eine zehn mal zehn Zentimeter große Messingtafel, auf der unter der Überschrift “Hier wohnte” der Name und die kargen Lebens- und Sterbensdaten von Menschen eingraviert sind, die der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zum Opfer fielen: Juden, Kommunisten und Gewerkschafter, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Deserteure.

In zahllosen Städten haben sich Initiativen gebildet, die Schicksale ehemaliger Nachbarn mit Hilfe der Archive und von Zeitzeugen aufklären oder es zumindest versuchen. Besonders viel Rückhalt hat die “Stolperstein”-Aktion in Stuttgart gefunden. Das liegt einerseits an der Unterstützung durch den Oberbürgermeister selber: Wolfgang Schuster hat sogar verfügt, dass bei den periodischen Verlegungen der Kleindenkmale das Tiefbauamt praktische Hilfe leistet. Andererseits haben inzwischen Aktive wie etwa Die AnStifter 14 lokale Arbeitsgruppen in den Stadtteilen gebildet. Hinzu kommen zwei Kreise, die sich speziell mit den Themen der Sinti und Roma sowie der Euthanasie beschäftigen.

Demnigs Aktion ist nicht ganz unumstritten. Zum einen gibt es Einwände dagegen, dass er sein Urheberrecht bislang nicht gelockert hat und darauf besteht, sämtliche dieser Steine persönlich zu verlegen. Prinzipielle Ablehnung für die gewählte Symbolik kam von der Zentralratsvorsitzenden Charlotte Knobloch für die Münchener jüdische Gemeinde: Man trete die Ermordeten durch die Stolpersteine “erneut mit Füßen”. Das freilich ist bei den Vertretern der Verfolgten-Gruppen doch eher eine Minderheitsmeinung.

Mehr Informationen über die einzelnen Gruppen und auch die Termine für weitere Stolperstein-Verlegungen finden sich im Internet.
 
Aktualisiert: 20.07.2007, 06:04 Uhr