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Lautes Stuttgart: Eine Stimme für die Leisen

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Jan Sellner 25.05.2024 – 07:00 Uhr


Das Werk eines stillen Gärtners: Efeu-Herz im Stuttgarter Norden. Foto: Jan Sellner

In unserer notorisch lauten Zeit finden vor allem die Lauten Gehör. Einen Großteil ihrer sozialen Substanz verdankt die Stadt jedoch ihren stillen Helden. Redakteur Jan Sellner würdigt die Stille.

Sie sind keine Partei. Doch man würde ihnen gerne eine Stimme geben. Oder ihren Stimmen mehr Gewicht. Einen größeren Resonanzkörper, damit sie stärker wahrgenommen werden. Die Rede ist von den Leisen. Von Menschen, die nicht auf Lärm anspringen, sondern Lärm vermeiden, weil ihnen das Laute weder zusagt noch entspricht. Diese Leisen sehen sich im Alltag häufig übertönt von allen möglichen Geräuschen und Geräuschemachern. In einer Zeit, die notorisch laut ist, wirkt Leisesein wie Schwäche. Fast schon wie Abwesenheit.

Gehör finden die Lauten. Wer die Werbetrommel laut genug rührt, wer sich marktschreierisch auf die Bühne stellt oder sich polternd ins (Social-Media-)Schaufenster stellt, kann damit rechnen, öffentliche Aufmerksamkeit zu finden. Der Lohn fürs Lautsein ist Beachtung. Daraus erwächst ein schriller Kult der Selbstdarstellung, der einem heute in vielen Varianten begegnet. Es wird gepost und gepochert – auch auf Kosten anderer, der weniger Lauten. Oder es wird Schaumschlägerei und Aufschneiderei betrieben und damit eine alte Redensart bestätigt, die da heißt: Viel Lärm um Nichts.

Auch die Leisen können auf ihre Weise laut sein
Wo ist in diesem Getöse der Egos der Platz für die Stillen? Wo ist die Aufmerksamkeit für diejenigen, die etwas bewegen und voranbringen, ohne dass dies von lautem An-die-Brust-Klopfen oder Klappern begleitet würde? Davon gibt es bemerkenswert viele. Und wie so häufig, wenn es um soziale Substanz in der Stadt geht, landet man bei den Ehrenamtlichen, den stillen Helden der Arbeit und Förderern des Gemein- und nicht des Egowesens. Beispielsweise ist es beeindruckend zu sehen und zu erleben, wie die Stuttgarter Stolpersteininitiativen seit mehr als 20 Jahren akribisch daran arbeiten, an Menschen zu erinnern, die in ihrem oft viel zu kurzen und gewaltsam beendeten Leben Verfolgung durch die Nationalsozialisten erlitten haben. Es ist ein leises, fortgesetztes Tun, das inzwischen mehr als 1000 verlegte Stolpersteine in Stuttgart zum Ergebnis hat. Statt viel Lärm um Nichts gilt hier: Kein Lärm um Vieles!

Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Es zeigt: Zurückhaltung ist keinesfalls gleichbedeutend mit Leisetreten. Im Gegenteil. Man kann ganz strikt und klar und sehr bestimmt im Stillen wirken – unbeeindruckt von etwaigen Aufforderungen, doch Ruhe zu geben. Denn auch die Leisen können auf ihre Weise laut sein. Und unbequem sowieso. „Der Weg zu allem Großen geht durch die Stille“, schrieb der Schriftsteller Paul Keller. Genauso gilt: In der Ruhe, in der Stille, liegt viel Kraft. Das heißt nicht, dass die Leisen automatisch auch die Weisen wären. Häufig jedoch sind sie die Unterschätzten.

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Beachtung besteht auch in Fürsorge
Nicht immer jedoch gehen mit der Stille Kraft und Energie einher. Es gibt auch die Stille der Verstummten und den stillen Schmerz. Eingeprägt hat sich das Bild eines Ehepaares, das regelmäßig auf den Friedhof geht, und sich am liebevoll geschmückten Grab des Sohnes zu inniger Trauer niederlässt, fast eine Art Totenwache hält – auch noch viele Jahre nach dessen Tod. Und man kann aus der Ferne nur erahnen, wie schwierig es sein kann, diese Form der Stille auszuhalten.

Nicht zu vergessen auch diejenigen, die still geworden sind, weil ihre Kraft nicht mehr reicht – aus Altersgründen oder wegen Krankheit oder aus Verzweiflung. Sie verdienen ihrerseits Beachtung, die in diesem Fall Fürsorge heißt, und entsprechend Raum benötigt. Raum für Rummel gibt es viel. Raum für Stille viel zu wenig.