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Gegen das Vergessen

Stuttgarter Wochenblatt vom 16.11.2006:

Gegen das Vergessen
Künstler Demnig setzt neue Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus

Der Kölner Künstler Gunther Demnig war in Stuttgart unterwegs und hat an zwei Tagen insgesamt 61 Stolpersteine verlegt – zur Erinnerung an Mitmenschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden und ihr Leben verloren.

S-SÜD – Sie sind zehn mal zehn Zentimeter groß und aus Beton. Darauf ist eine Messingplatte angebracht, die Namen, Geburtsdatum, Ort der Deportation und Todestag des Opfers verzeichnet. Genau 61 Stück davon sind nun an 31 Stellen in Stuttgart verlegt worden – die Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunther Demnig. Im Rahmen seines “Kunstpojekts für Europa”, in dem der Künstler die Schwelle von 10 000 Stolpersteinen überschreiten will, wurden diese Mahnmale in verschiedenen Stadtteilen in ganz Stuttgart verlegt. Dabei bedurfte es einer ausgefeilten Routenplanung, tatkräftiger Mithilfe des Tiefbauamts und minutiöser Vorarbeit der lokalen Stuttgarter Stolperstein-Initiativen, um die Aktion am vergangenen Freitag und Samstag durchführen zu können. Die Kleindenkmäler sollen an die Opfer des Nationalsozialismus und deren tödlich verlaufendes Schicksal erinnern – an Juden, Sinti, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Euthanasieopfer, Kommunisten, Christen oder Sozialisten.

Im Stuttgarter Süden wurde Dr. Gottfried Hermann Wurz mit einem Stolperstein in der Hasenbergsteige 76 gedacht. Gottfried Wurz wurde am 42. Dezember 1879 geboren und stammte aus einer vermögenden Familie. Er gehörte zu den aktiven Gegnern des Nazisystems und war Kunsthistoriker und Privatgelehrter.

Der engagierte Nazigegner leitete die Stuttgarter Gruppe des Nationalekomitees Freies Deutschland, die sich an wechselnden Orten, auf Straßen, in Kaufhäusern und Banken treffen musste, da die Gestapo ihr Stammlokal in der Lindenspürstraße entdeckt hatte. Trotz der großen Gefahr verteilten sie Flugblätter, in dem sie für eine Geistes- und Religionsfreiheit und für eine friedliche Zusammenarbeit mit allen Nationen der Erde eintreten.

Hermann Wurz wurde am 24. März 1945 in das Konzentrationslager Flossenbürg eingeliefert, nachdem sich sein Gesundheitszustand nach einem dreiviertel Jahr schwerer Gestapohaft schon sehr verschlechtert hatte. Am 20. April 1945 wurde der Stuttgarter dann auf einem Transport, einem sogenannten Todesmarsch, erschossen.

Schicksale wie dieses gehen dem Künstler Demnig, der für sein Projekt das Bundesverdienstkreuz erhalten hat, unter die Haut. So habe er nie daran zu denken gewagt, dass seine Aktion “Kunstprojekt für Europa” so große Resonanz und Unterstützung erfahren würde. Auch würden immer öfters Angehörige zu der Stolperstein-Verlegung kommen, um noch einmal Abschied nehmen zu können und zu gedenken. “Das sind dann Begegnungen, die einen tief berühren”, so Demnig.

Die Daten für die Stolpersteine wurden ehrenamtlich von den Stolperstein-Initiativen erforscht. Die Initiativen suchen weiterhin nach Lebenszeugnissen und Bildern, um den Stuttgarter Bürgern, die Opfer des Naziregimes wurden, wieder ein Gesicht zu geben. aro

Wer gerne mithelfen will, bekommt weitere Auskünfte bei Werner Schmidt von der Initiative Stolpersteine Stuttgart Süd unter Telefon 6 49 18 35. Informationen auch unter www.stolpersteine-stuttgart.de

Rundgang der besonderen Art
In Feuerbach wurden an fünf Stellen sechs Stolpersteine verlegt

FEUERBACH – Dank ausgefeilter Routenplanung, tatkräftiger Mithilfe des Stuttgarter Tiefbauamts und minutiöser Vorarbeit der Feuerbacher Initiative von Heinz Wienand konnte Aktionskünstler Gunter Demnig letzten Freitag in Feuerbach sechs so genannte Stolpersteine verlegen.

Damit kommt das “Kunstprojekt für Europa” der Schwelle von 10 000 Kleindenkmalen immer näher, die an Opfer des Naziterrors erinnern: Juden, Sinti, Jehovas Zeugen, Homosexuelle, Euthanasieopfer, Kommunisten, Christen, Sozialisten.

“Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung der Qual…” Mit diesem Zitat des Schriftstellers Erich Fried eröffnete Heinz Wienand zusammen mit Elke Martin an der Tannenäckerstraße 33 einen denkwürdigen Rundgang durch Feuerbach, an dessen Ende sechs Stolpersteine verlegt waren. Hinter allen Steinen verbergen sich Schicksale von Feuerbachern, die in der Naziherrschaft verfolgt und ermordet wurden. Vor deren früheren Wohnhäusern sind nun unübersehbar 10 x 10 Zentimeter große Betonwürfel mit einer Messingplatte eingelassen mit den wichtigsten Daten der Opfer – Erinnerungsmale gegen das Vergessen für Marianne Scholz in der Tannenäckerstraße 33, Max Wolf in der Mühlstraße 22, Jakob Kraus in der Klagenfurter Straße 11, das jüdische Ehepaar Ludwig und Rosalie Weinberg in der Stuttgarter Straße 106 und für Helene Wöhr in der Oswald-Hesse-Straße 86.

Aktionskünstler Gunter Demnig aus Köln hat es sich nicht nehmen lassen, die ausnahmslos in seiner Werkstatt hergestellten Gedenksteine auch selbst vor Ort zu setzen.

Das Befragen von Zeitzeugen und das Wälzen von Akten in fünf Archiven in den letzten zwei Jahren hat nun ein eindrucksvolles Ergebnis und ein neues Kapitel für die Stadtgeschichte Feuerbachs hervorgebracht. Heinz Wienand und Elke Martin, die beiden nimmermüden Initiatoren, waren nach dieser ersten Aktion sichtlich erleichtert, dass ihre Arbeit ein so positives Echo gefunden hatte.

Besonders erfreulich fanden sie, dass alle betroffenen Hausbesitzer die Steinverlegung begrüßt und größtenteils selbst daran teilgenommen haben. Auch viele Passanten, Politiker, ein Klasse der Bismarckschule sowie Menschen des öffentlichen Lebens waren dabei – viele von ihnen an allen fünf Stationen.

Lassen wir am Ende des besonderen Rundgangs durch Feuerbach nochmals Heinz Wienand zu Wort kommen, der den jüdischen Talmud mit folgendem Satz zitiert: “Ein Mensch ist erst dann endgültig tot, wenn auch die Erinnerung an ihn gestorben ist. – Das lasst uns gemeinsam verhindern!”

Wer weitere Personen aus Feuerbach kennt, die Opfer des Nationalsozialismus wurden und Stolpersteine spenden will, kann das gerne tun. Ein Stein kostet 95, – Euro. Dabei kommt es laut Wienand nicht auf die Höhe des Betrages an, denn jede Höhe ist willkommen. Informationen gibt es bei Heinz Wienand, Hohewartstraße 23 B, Telefon 812163 oder bei Elke Martin, St. Pöltener Straße 62, Telefon 4101018, e-mail: muckchen51@web.de.

Überweisungen bitte auf das Sonderkonto: Heinz Wienand, Stuttgart, BW-Bank, Konto-Nr. 37 36 168, BLZ 600 501 01, Verwendungszweck: Stolperstein. -m-

Spuren vergessener Nachbarn
Das Buch Stuttgarter Stolpersteine ist jetzt erschienen – Initiative ist im Stuttgarter Osten gestartet

Im Rathaus wurde das Buch “Stuttgarter Stolpersteine – Spuren vergessener Nachbarn” vorgestellt. Es ist entstanden in enger Verbindung mit der Arbeit der Stuttgarter Stolpersteininitiativen und Peter Grohmanns Bürgerprojekt “Die Anstifter”.

S-MITTE/OST – In den späten 80er Jahren begann im Stuttgarter Osten die Spurensuche nach den von den Nationalsozialisten verfolgten Juden im Stadtteil. Ein Leitartikel aus dem Jahr 1988 zum 50. Jahrestag der Progromnacht der damaligen “Stuttgarter Osten Lokalzeitung” gab den Anstoß für eine allgemeine Diskussion. Eine regelrechte Recherche-Bewegung, an der auch das Stuttgarter Wochenblatt beteiligt war, kam ins Rollen. Dass daraus die Initiative Stolperstein entstehen würde, die man 1998 in der Stadtteilbücherei gründete, konnte damals noch niemand ahnen. Später suchte die Initiative nach einer geeigneten Form der Erinnerung und stieß dabei auf den Kölner Künstler Gunter Demnig, der Steine aus Messingblech und Beton vor den Häusern der Verfolgten und Ermordeten anlegte. Einer Verlegung solcher Stolpersteine in Stuttgart stimmte OB Schuster zu.

Seit Oktober 2003 brachte Gunter Demnig insgesamt 170 Steine der Erinnerung auf die Straßen der Stadt. “Ich fand es eine gute Idee, die Erinnerung in den Alltag hineinzutragen”, meinte OB Schuster.

Die Herausgeber Harald Stingele und Die Anstifter haben nun das Stolpersteine-Projekt mit ihrem Buch dokumentiert und erläutert. In der Mehrzahl gelten die Steine dem Schicksal der Juden. Aber auch an die verfolgten Sinti und Roma, an die Wehrkraftzersetzer und Deserteure sowie die Euthanasieopfer möchte man erinnern.

Als vorbildliches bürgerschaftliches Engagement betrachte Harald Stingele die Arbeit der mittlerweile elf Stadtteil-Initiativen in Stuttgart. “In keiner Stadt ging das so unbürokratisch wie in Stuttgart”, lobte Stingele auch die reibungslose Zusammenarbeit mit den Tiefbauämtern. “Das Projekt ist inzwischen immer größer geworden”, meinte Stingele.

Mit dem kreativen Erinnerungsprojekt “gibt man den Opfern ihren Namen zurück und stellt sie in den Kontext der Stadtteile, aus denen sie gewaltsam herausgerissen wurden”, so Stingele.

Die Idee zum Buch hatten Cornelia Fritsch und Barbara Hammerschmitt vom Markstein-Verlag. Sie stolperten buchstäblich über eines der Steine und nahmen Kontakt mit den Initiatoren auf. Neben einem Portrait des Künstlers Gunter Demnig und einer Darstellung des Projekts und seiner Ziele, werden 30 Einzelschicksale aus verschiedenen Stuttgarter Stadtteilen mit einigen Fotos präsentiert. Auch der Recherchearbeit, den allgemeinen historischen Fakten, den Reaktionen der Angehörigen sind einzelne Kapitel gewidmet. Das Projekt wird mit weiteren 61 Stolpersteinen in ganz Stuttgart fortgesetzt. Auch im Stuttgarter Osten wurde vor kurzem zur Erinnerung an den jüdischen Schuhmacher Nathan Neumann in der Hackstraße 7 ein Stolperstein verlegt. max

“Gedenken macht das Leben menschlich”
Viele Vaihinger waren dabei, als vergangenen Freitag Stolpersteine für Henriette und Franz Fried verlegt wurden

Kalt ist es an diesem Freitag im November, an dem der Kölner Bildhauer Gunter Demnig – aufmerksam beobachtet von vielen interessierten Vaihingern – die ersten beiden Stolpersteine im Stadtteil ins Pflaster vor der Filiale der Deutschen Bank an der Hauptstraße setzte. Sie sollen an das jüdische Ehepaar Henriette und Franz Fried erinnern.

VAIHINGEN – Mit jener inneren Kälte und Angst, die Henriette und Franz Fried am 28. November 1941 befiel, als es von der Gestapo aus seiner Wohnung in der ehemaligen Forststraße und heutigen Wolfmahdenstraße abgeholt wurde, ist aber sicher nichts zu vergleichen.

Schließlich ist das jüdische Ehepaar vom Nordbahnhof aus – mit tausend anderen eingepfercht in Güterwaggons – nach Riga in Lettland deportiert worden.

Im Lager Jungfernhof sind sie 1942 von den Nazi-Schergen ermordet worden. Dass zwei der Mahnmale für die Opfer des Nationalsozialismus, die die Menschen zum Nachdenken anregen wollen, ausgerechnet vor der Deutschen Bank verlegt wurden, hat seinen Grund.

Franz Fried war beinahe ein Jahrzehnt lang Leiter des Kreditinstituts. Von 1919 bis 1938 lebte er mit seiner Frau im Haus an der Hauptstraße 11. 1939 wurde Fried von der Bank in den “vorzeitigen Ruhestand” entlassen. Zu diesem Zeitpunkt war er 54 Jahre alt.

Die Initiative Stolpersteine Stuttgart-Vaihingen hat, angeregt von ihrem Mitglied Elisabeth Marquart, die gemeinsam mit Schülerinnen die Geschichte des Ehepaars Fried aufarbeitete, die Verlegung der Stolpersteine initiiert.

Zusammen mit ihrem Mann Karl-Horst ist es Elisabeth Marquart auch gelungen, Verwandte des ermordeten Ehepaars Fried ausfindig zu machen. Anita und Julia Rosenak sind eigens zur Verlegung der Steine von London nach Vaihingen gekommen.

“Wir sind hier, weil wir Henriette und Franz Fried wissen lassen wollen, dass Mitglieder ihrer Familie den Nationalsozialismus überlebt haben”, sagte Julia Rosenak sichtlich gerührt. “Wir sind noch hier, aber das 1000-jährige Reich ist nicht mehr da.” Die Urenkelinnen des Ehepaars Fried schlugen aber auch sehr versöhnliche Töne an: “Wir sind hier um zu lieben und nicht um zu hassen. Dass hier ist das wahre Deutschland und es ist heute hier, um sich mit uns zu erinnern.”

Anita und Julia Rosenak bedankten sich bei Karl-Horst und Elisabeth Marquart für deren Arbeit und “deren Entschiedenheit, uns zu finden”.

Ihr Dank galt aber auch der Deutschen Bank in Vaihingen, die die Stolpersteininitiative unterstützte.

Für Filialleiter Bernd Kögel, war dies selbstverständlich. “Damit das Gedenken nie verloren geht.” Dem stimmte Karl-Horst Marquart zu: “Gedenken macht das Leben menschlich. Vergessen macht es unmenschlich.”

Und seine Frau ergänzt: “Es ist wichtig, Schülern das Wissen um die Schicksale der Ermordeten und allem, was damit zusammenhängt, weiterzugeben”.

Elisabeth Marquart will deshalb wiederholt mit Jugendlichen zu den Stolpersteinen kommen.

Bildhauer Gunter Demnig freute sich darüber, dass seine Idee des “dezentralen Denkmals von unten” – denn die Stolpersteine seien meist Geschenke von Paten und Initiativen an die Gemeinden – immer größeren Anklang findet.

Beinahe 10 000 Steine hat er inzwischen in 192 Kommunen verlegt.

Am vergangenen Freitag und Samstag sind allein in Stuttgart 61 neue Stolpersteine hinzugekommen. de