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Ein Stolperstein für Ernst Ferdinand Christian Köhler

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung vom 25.10.2006:

Wer hat Onkel Ernst ermordet?

Goswinde Köhler-Hertweck, die Nichte eines Naziopfers aus Stuttgart, hat viele Jahre nach der Wahrheit gesucht.

Seit drei Jahren gibt es im Stuttgarter Straßenpflaster “Stolpersteine” zum Gedenken an Naziopfer.  In einem Buch sind 31 dieser Schicksale gesammelt.  Darunter ist auch die Geschichte von Ernst Köhler.  Er wurde in der Gaskammer der “Pflegeanstalt” Grafeneck getötet.

Von Robin Szuttor

Goswinde Köhler-Hertweck sitzt in ihrem Wintergarten mit Blick auf die Limpurger Berge bei Schwäbisch Hall.  Vor ihr liegt ein grüner Ordner.  Es ist nicht viel, was die 61-jährige Pädagogin von ihrem Onkel Ernst besitzt:  ein paar Fotografien, Tagebuchnotizen, eine Taufurkunde der evangelischen Kirche Buenos Aires, Belobigungskärtchen der Stuttgarter Elementarschule, ein kleines Ölbild, das er gemalt hat.  Es zeigt einen Blumenstrauß in einer dunklen Vase.  Der Hintergrund ist schwarzgrün, selbst die Sonnenblumen sind in gedämpften Farben.

Zeit seines Lebens hatte ihr Vater Wilhelm Köhler dafür gekämpft, die Wahrheit über das Schicksal seines psychisch kranken Bruders Ernst zu erfahren.  Das Thema ließ die Familie nie los.  “Als Kind bin ich oft aus dem Zimmer gegangen, wenn wieder davon angefangen wurde.  Ich konnte es nicht verkraften”, sagt Goswinde Köhler-Hertweck.  Als der Vater ihr vor seinem Tod 1989 sämtliche Dokumente über Onkel Ernst gab, ist es für die Tochter “wie eine unausgesprochene Aufforderung, sein Werk weiterzuführen”.

Sie liest die Tagebuchaufzeichnungen, die Ernst Köhler in den dreißiger Jahren geschrieben hatte, während seine psychische Krankheit fortschritt.  Sie vertieft sich in seine Lebensgeschichte, beginnt im Bundesarchiv Berlin nachzuforschen und an Orten zu recherchieren, wo er sich aufgehalten hatte – im Bürgerhospital Stuttgart, im Christophsbad Göppingen, in der Weissenau bei Ravensburg, im Samariterstift Grafeneck in Gomadingen.  Sie will diesen Onkel kennen lernen, der fünf Jahre vor ihrer Geburt gestorben war.

1894 wandern die Großeltern von Goswinde Köhler-Hertweck nach Buenos Aires aus, wo Ernst am 5. Januar 1899 als drittes von vier Kindern zur Welt kommt.  1901 kehrt die Familie zurück nach Stuttgart, die Mutter hat zu großes Heimweh.  Als 17-Jähriger macht Ernst einen ausgezeichneten Abschluss in der Höheren Handelsschule.  Danach muss er zum Militär.  Goswinde Köhler-Hertweck weiß wenig über diese Zeit, “nur dass er an einer schweren Hirnhautentzündung erkrankte”.  Vielleicht, sagt sie, sei diese Kopfgrippe eine der Ursachen für die spätere Erkrankung ihres Onkels gewesen.

Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitet Ernst Köhler als Bankbeamter bei der Spar- und Girokasse Stuttgart und bei der Königlich Württembergischen Hofbank.  Er bleibt von der großen Wirtschaftskrise in den zwanziger Jahre nicht verschont. Phasen der Arbeitslosigkeit wechseln immer wieder mit kurzfristigen Anstellungen bei Bankhäusern ab.

Die Familie ist inzwischen nach Stuttgart-Hedelfingen in die Schwanenstraße gezogen.  1925 stirbt die Mutter, der Vater zwei Jahre später.  Ernst, Wilhelm und eine Schwester bleiben in der Wohnung.  “Bis dahin lebte mein Onkel ein ganz normales und unauffälliges Leben”, sagt die Nichte.  Nach dem Tod der Eltern verändert er sich aber zunehmend.  Er hat plötzlich Angst, vergiftet zu werden.  Selbst seinem Bruder traut er nicht mehr.  Irgendwann können es die Geschwister nicht mehr leugnen:  Ernst ist krank.  Es bleibt ihnen keine andere Wahl, sie lassen ihn ins Hospital einweisen.  In seiner Krankenakte steht:  “Herr Köhler glaubt, jemand will ihn mit einem todbringenden Gas durch die Ritzen in der Zimmerdecke vergiften.”

Drei Monate nach seiner Einweisung ins Bürgerhospital schreibt Ernst Köhler dem Bruder:  “Lieber Wilhelm, es ist so traurig hier.  Man kann sagen, man ist lebendig begraben.  Den ganzen Tag die scheußlichen Gitter vor den Augen. Herzliche Grüße sendet dein dankbarer Bruder, der sich im Irrenhaus befindet.”

Am 8. Dezember 1934 wird Ernst Köhler in die Heilanstalt Weissenau verlegt.  Wilhelm besucht ihn regelmäßig.  Er arbeitet beim evangelischen Kirchenregisteramt Stuttgart, wo ihm 1940 lange Listen mit Sterbeurkunden von psychisch kranken Menschen auffallen.  Er fährt kurzentschlossen auf die Weissenau – es wird sein letzter Besuch bei seinem Bruder.  Wilhelm verlangt den leitenden Arzt, erzählt vom Verdacht, dass geistig Kranke in Heimen umgebracht würden, und bittet, seinen Bruder zu beschützen.  Der Arzt gerät in Rage und wirft ihn raus.

Einen Monat später kommt die Nachricht, Ernst sei in Grafeneck eingewiesen worden und werde von dort aus weitertransportiert.  Das Samariterstift war bis 1939 in kirchlicher Trägerschaft, wurde von den Nazis beschlagnahmt und unter strenger Geheimhaltung zur Tötungsanstalt für den “Gnadentod” psychisch Kranker und geistig Behinderter umgebaut.  Am 8. September 1940 erhält Wilhelm plötzlich die Sterbeurkunde seines Bruders – aus der Landespflegeanstalt Brandenburg.  Offizielle Todesursache: akute Stauungsbronchitis und Lungenentzündung mit anschließender Kreislaufschwäche. Im Begleitschreiben steht:  “Alle Bemühungen, den Patienten am Leben zu erhalten, waren leider ohne Erfolg.  Heil Hitler!  Dr. Rieper.”

Wilhelm Köhler gibt keine Ruhe.  Nach Kriegsende erstattet er Strafanzeige gegen Dr. Rieper.  Aber der Arzt bleibt ein Phantom.  Erst 20 Jahre später teilt die Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg mit, Dr. Rieper sei der Deckname eines Dr. Bunke gewesen.  Vor dem Frankfurter Landgericht wird der Arzt freigesprochen, das Urteil aber später aufgehoben.  Die Wiederaufnahme des Verfahrens verschleppt sich bis ins Jahr 1985.  Beim zweiten Prozess wird Dr. Bunke verurteilt, er muss die Strafe aus gesundheitlichen Gründen aber nicht antreten.  Goswinde Köhler-Hertweck forscht indes weiter nach der Wahrheit über ihren Onkel.  Unterlagen aus Weissenau und Grafeneck verschaffen ihr nach und nach neue Einblicke.

Danach war Ernst Köhler niemals in Brandenburg.  Vielmehr unterschrieb Dr. Bunke von Brandenburg aus mit falschem Namen die Todesmeldungen.  Ernst Köhler war noch am 22. August 1940, am Tag seiner Ankunft in Grafeneck, in der Gaskammer der Anstalt getötet worden.  “Es war die Strategie der Nazis, die Angehörigen der Opfer zu belügen und in die Irre zu führen”, sagt Goswinde Köhler-Hertweck.  Sie habe den wahren Mörder ihres Onkels gefunden, sagt die Nichte:  “Es war Dr. Baumhardt oder sein Stellvertreter in Grafeneck, Dr. Hennecke. “Beide starben vor dem Ende des Krieges.

In der Schwanenstraße 1 im Stuttgarter Ortsteil Hedelfingen wird am 11. November ein Stolperstein zum Gedenken an Ernst Köhler gelegt. Damit, sagt Goswinde Köhler-Hertweck, werde das begonnene Werk ihres Vaters vollendet – die Suche nach der Wahrheit.  “Dieser Stein gibt meinem Onkel den Namen und die Würde zurück”.
 
Aktualisiert: 25.10.2006, 06:13 Uhr