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Esther und Israel Isidor Pomeranz, Hauptstätterstr. 86a

Israel und Esther Pomeranz waren polnische Juden, geboren im damals österreich-ungarischen Galizien, seit 1919 dem polnischen Staat zugehörig. Diese Juden waren seit Ende des 19. Jahrhunderts vor den Pogromen und Verfolgungen in Osteuropa in die mittel- und westeuropäischen Länder geflohen.  So wurde Israel Isidor Pomeranz am 14.11.1884 in Mielec, Esther Pomeranz geb. Silber am 8.2.1891 in Sieniawa geboren.
Sie heiraten 1914 in Karlsruhe, wo im selben Jahr noch das erste Kind, Tochter Sali, geboren wird.  Sohn Leo Nathan kommt 1915 schon in Stuttgart zur Welt, wo Israel Pomeranz auch seitdem gemeldet ist.  Die Töchter Ida und Ruth werden 1919 und 1920 geboren.
Die Familie wohnt zuerst Nadlerstraße 5, dann Paulinenstraße 8 mit einer Kurz- und Gummiwaren-Handlung in der Hauptstätter Straße 42 und Gummiabsätze-Geschäft in der Esslinger Straße 7, bis sie schließlich 1919 in der Hauptstätter Straße 86 A sesshaft wird.

Pomeranz Istael LindenhofDieses repräsentative, von Karl Hengerer in den 1890iger Jahren erbaute Wohn- und Geschäftshaus
„Lindenhof“, war das beherrschende Gebäude am „Lindle“, zwischen Paulinenstraße und Kurze Straße (heute Feinstraße) gelegen, mit einer Gruppe von Lindenbäumen auf dem halbkreisförmigen Platz.  Nach der Zerstörung im Krieg entstand der heutige Österreichische Platz.  Auch
geschäftlich hatten es diese „Ostjuden“ geschafft:  sie besaßen eine große  „Schuh- und Partiewarenhandlung“ in der Torstraße 15, auch heute steht dort ein modernes großes Geschäftshaus.
Bei den Wiedergutmachungs-Verhandlungen 1958 beschreiben ehemalige Stuttgarter Zeugen und der Sohn Leon, alle jetzt wohnhaft in Tel Aviv / Israel, das Ehepaar als beide berufstätig:  Israel als Mitglied im Reichsverband ambulanter Gewerbetreibender war ständig auf Reisen und vertrieb Textilwaren.  Er kaufte speziell große Mengen von Partiewaren und verkaufte sie auf Messen und Märkten in ganz Deutschland und im Geschäft in Stuttgart.  Dieses führte seine Frau selbständig, mit Verkäuferinnen und Lehrmädchen. –
Die Geschäfte laufen gut und ermöglichen einen höheren Lebensstandard und die beste Erziehung für die vier Kinder.  Man bewohnt in dem Prachtbau Nr. 86 A eine 6-Zimmerwohnung mit Wintergarten.  Die drei Schwestern besuchen die Königin-Charlotte-Realschule, der Sohn die Wilhelms-Oberrealschule; die Mädchen erhalten Klavier-, der Junge Geigen-Unterricht.
Eine Hausangestellte und ein Kinderfräulein besorgen den Haushalt.  Die Eltern fahren jeden Sommer für mehrere Wochen zur Erholung in verschiedene Badeorte, die Kinder kommen dann in das jüdische Kinderheim Mühringen bei Horb oder in das Friedrich-Luisen-Hospiz in Bad Dürrheim.

Mit dem Beginn des 3. Reichs am 30. Januar 1933 – Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler – beginnt der Niedergang für die deutschen Juden. Beim Judenboykott am 1. April 1933 stehen auch vor dem Geschäft von Esther und
Israel Pomeranz in der Torstraße 15 SA-Posten, kleben an den Schaufenstern schwarze Plakate mit gelbem Punkt mit der Bedeutung  „Boykottiert alle jüdischen Geschäfte“.  1934 kündigt dann auch die Stadt Stuttgart die Ladenräume in dem städtischen Gebäude Torstraße 15.  Israel Pomeranz hat nun das Warenlager in seiner Wohnung und verkauft von dort aus.  Er hat nur noch wenige (mutige) Kunden.
Wie fast alle der lebensbedrohten jüdischen Deutschen schicken auch die Eltern Pomeranz ihre vier Kinder ins Ausland:  Leo Nathan (jetzt Leon), Ida (später Ida Bella Jäger) und Ruth (später Ruth Anitay) nach Palästina; Sali (später Sally Kullmann) nach New York.

Die Eltern müssen am 28. Oktober 1938 die Ausweisung nach Polen erdulden. Die polnischen Juden, die bisher unbehelligt mit ihren polnischen Pässen in Deutschland gelebt haben, sollen nach einem Dekret der polnischen
Regierung sich bis zum 30.10.1938 einen Prüfungsvermerk holen, oder sie würden ausgebürgert. Das NS-Regime nutzt die Gelegenheit: die Menschen werden sofort verhaftet, in der „Büchsenschmiere“ (Polizeigefängnis in der Büchsenstraße) gesammelt und am 28.10.1938 an die polnische Grenze und dort bei Bentschen aus den Zügen heraus auf freiem Feld ausgesetzt. Sie müssen über die Grenze laufen. Die Polen verweigern zunächst die Aufnahme dieser armen Menschen, bis man sie in einer alten Kaserne kaserniert.
Ein beredtes Zeugnis für die Grausamkeit dieser Verfahrensweise ist der Brief eines früheren Kinderfräuleins bei Familie Pomeranz, aus Backnang, geschrieben 1957 an die Kinder: (…) „Ich war noch beim Abschied von den Eltern in Eurem schönen trauten Heim in Stuttgart, Lindenhof, Hauptstätter Straße. Alles, alles musstet Ihr dahinten lassen. Eure schöne 7-Zimmer-Wohnung, wunderbar eingerichtet, und das Geschäft.  Mutter weinte damals beim Abschied bitterlich, es fiel mir auch recht schwer, der lieben Kinder wegen, weil ich Euch doch aufgezogen habe. (…).“
Für die Wiedergutmachungs-Verhandlungen 1966 recherchierte Leon Pomeranz gründlich:  von den ihm erinnerlichen damaligen Mitbewohnern der Hauptstätter Str. 86 A sagte die einzige erreichbare Zeugin aus, sie könne keine Angaben dazu machen, was mit der zurückgelassenen Wohnungs-Einrichtung geschah, sie habe zu allen Hausbewohnern keine Verbindung gehabt.
Gehört wurden auch verschiedene Polizeibeamte, die zur Gestapo abkommandiert waren:  keiner hatte je von der Abschiebe-Aktion am 28.10.1938 gehört und keiner wusste, was mit den Wohnungen und Möbeln der Abgeschobenen geschah!  Notar Kugelmann / Tel Aviv hält diese Aussagen für völlig unglaubwürdig: „Dass nun gerade Personen, die bei der Gestapo-Leitstelle (im Hotel Silber) und beim Innenministerium nicht erfahren haben sollten von der Abschiebung, klingt wie ein Märchen und ist völlig unglaubwürdig.“

Die zur Aussage geladenen ehemaligen Gestapo-Beamten befinden sich jetzt (1967) ihren Titeln nach zu urteilen alle in hohen Ämtern: Oberregierungsrat i.R., Ministerialdirigent Dr., Regierungsdirektor, Bürgermeister, Justizamtmann, Bankrat, Regierungsoberamtmann … usw. usf.
Fast alle entschuldigen sich für die Verhandlung am 27.2.1967 mit:  Urlaub, Kreislaufbeschwerden, sie haben nie im Judenreferat gearbeitet, sie seien nie mit den Vorgängen in Berührung gekommen.
Ein Oberregierungsdirektor a.D. vom Innenministerium sagt aus, dass bald nach 1933 die politische Polizei sich verselbständigt habe und das Innenministerium nicht mehr mit ihr zu tun hatte.  Das Innenministerium war auch
nicht beschäftigt mit der Abschiebe-Aktion, wenn doch, dann muss es ein anderes Referat gewesen sein.   Er nennt den Namen des Leiters, der aber verstorben sei.  Die anderen zur Verhandlung Gekommenen sagen ähnliches, sie nennen Namen oder schicken Listen von damaligen Leitern.
Im Endergebnis wird die Klage auf Ersatz der Wohnungs-Einrichtung abgewiesen, obwohl Karl Adler aus den USA schreibt, was mit solchen Einrichtungen geschah.
In Zbaszyn (deutsch: Bentschen) trifft Israel seinen Bruder Viktor und andere Verwandte, die von Hannover herkommen.  Zusammen fahren sie weiter nach Mielec, dem Geburtsort von Israel Isidor und Viktor Pomeranz.   Leon in Tel Aviv erhält 1958 von der Stadtverwaltung Mielec auf Anfrage die Antwort, dass am 9.3.1942 die deutschen Okkupationsbehörden die ganze Bevölkerung Mosaischen Glaubens der Stadt Mielec zuerst auf das Flugfeld Berdechow ausgesiedelt und dann in verschiedene KZs überführt haben.  Aber wo die Eltern hinkamen, sei unbekannt.
Im Sommer 1942 sind sie wohl ins Ghetto Miedzyrzec Podlaski, Bezirk Lublin
gekommen, denn von dort erhält der Sohn eine Rote-Kreuz-Karte.
Nach Yad Vashem in Jerusalem starben Israel Isidor und Esther Pomeranz in
dem Vorort von Lublin, im Vernichtungslager Majdanek.
 

Recherche und Text:  2012 / Irma Glaub / Initiative Stolpersteine Stuttgart-Süd.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, Stadtarchiv Stuttgart.