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Moritz, Paula, Efrem, Avraham und Beny Olonetzky, Fritz-Elsas-Straße 46/48

Stolpersteine zur Erinnerung an
Moritz Olonetzky
Paula Apfelbaum-Olonetzky
Efrem Olonetzky/Ilani
Avraham Olonetzky/Ilani
Beny Olonetzky

Efrem und Avraham nahmen in Israel den Namen Ilani an.

Moritz Olonetzky, geboren am 1. Mai 1881 in Odessa, ab ca. 1909 in Stuttgart, ermordet 1942 in Izbica, Belzec oder Sobibor.
Malka Olonetzky-Ziegelmann (Siegelmann), seine Frau, geboren am 8. September 1884 in Kiew, ab ca. 1909 in Stuttgart, gestorben am 29. November 1921 in Stuttgart.

Ihre Kinder:
Paula Apfelbaum-Kogan-Olonetzky, geboren am 26. November 1906 in Saratow, ab 15. Januar 1934 in Palästina/Israel, gestorben am 9. (?) April 1986 in Jerusalem.
Efrem (Efraim/Froim/Fritz) Olonetzky/Ilani, geboren am 26. Juli 1910 in Stuttgart, ab Oktober 1934 in Palästina/Israel, gestorben am 20. September 1999 in New York.
Anna (Hanna/Chana) Berkheim-Olonetzky, geboren am 2. Juni 1912 in Stuttgart, ab ca. 1938 in Berlin, deportiert am 1. November 1941 von Berlin nach Lodz, ermordet am 14. Mai 1942 in Chelmno (Kulmhof). Verheiratet mit Herbert Berkheim, ein Sohn, Michael, geboren 1938; alle ermordet in Chelmno. Für Anna/Hanna Berkheim-Olonetzky ist ein Stolperstein in Berlin geplant.
Avraham (Abraham/Avram/Albert) Olonetzky/Ilani, geboren 18. Juni 1913 in Stuttgart, ab 2. September 1936 in Palästina/Israel, gestorben am 15. April 1979 in Jerusalem.
Beny (Benjamin Emil) Olonetzky, geboren am 7. April 1917 in Stuttgart, ab 1. September 1943 in der Schweiz, gestorben am 5. Dezember 1998 in Zürich.

Verwandtschaft mit Moritz ungeklärt:
Abraham Olonetzky, geboren ? in Odessa, gestorben am 29. Februar 1912 in Stuttgart.
Charlotte Olonetzky-Kosoritsch, geboren am 21. April 1877 in Odessa. Nach Abrahams Tod hat sie Max Goldenblatt (geboren 15. Dezember 1861 in Istanbul, gestorben 13. November 1936 in München) geheiratet und ist nach München gezogen. Deportiert am 4. April 1942 ins Piaski-Ghetto, ermordet wahrscheinlich in Belzec 1942.

Im zaristischen Russland sind Anfeindungen gegen Juden an der Tagesordnung. 1881, im Jahr der Geburt meines Großvaters Moritz, kommt es in seiner Geburtsstadt Odessa zu einem Massaker an der jüdischen Bevölkerung, was eine Auswanderungswelle nach Westeuropa und in die USA provoziert. Die Repressionen prägen jedoch weiter den Alltag, 1905 eskaliert die Gewalt in einem Progrom erneut, und bis 1914 verlassen etwa zwei Millionen Juden das westliche Russland. Moritz und meine Großmutter Malka Olonetzky-Ziegelmann ziehen 1905 oder 1906 von Odessa zunächst nach Saratow. Die Stadt liegt an der mittleren Wolga im Süden Russlands. Dort kommt am 26. November 1906 meine Tante Paula zur Welt. Da die Situation für Juden weiterhin schwierig ist, emigriert die Familie über England nach Deutschland. 1909 lassen sich meine Großeltern mit ihrer kleinen Tochter in Stuttgart nieder; die erste Adresse lautet Champignystraße Nr. 3, Parterre, dann Böblingerstraße 13, wo am 26. Juli 1910 mein Onkel Efrem geboren wird.
Ein Abraham Olonetzky, geboren ebenfalls in Odessa, lebt da bereits mit seiner Frau Charlotte Olonetzky-Kosoritsch und den Söhnen Max und Jakob in Stuttgart. Ob Abraham der Vater oder ein Onkel meines Großvaters Moritz ist, weiß ich nicht. Immer sind Menschen lieber an Orte migriert, an denen bereits Verwandte oder Freunde leben.
Meine Großeltern Moritz und Malka sind ab 1910 im Adressbuch der Stadt Stuttgart eingetragen: zuerst an der Silberburgstraße 134, 4. OG, von 1913 bis 1918 an der Schlossstraße 65 und danach bis 1939 an der Gartenstraße 17 (heute Fritz-Elsas-Straße). Mein Großvater arbeitet zuerst als Arbeiter in einer Zigarettenfabrik, dann als Tabakhändler und Zigarettenfabrikant, ab 1925 dann ist er als Generalvertreter der Tabakwaren- bzw. Zigarrengroßhandlung Schlesinger & Co. unterwegs.
Am 29. November 1921 stirbt meine Großmutter an den Folgen einer Lungenentzündung; sie hinterlässt ihren 40-jährigen Mann und die fünf Kinder Paula (*1906), Efrem (*1910), Anna/Hanna (*1912), Avraham (*1913) und Benjamin (*1917), meinen Vater. Zwei weitere Kinder sind bereits im frühen Kindesalter gestorben: ein Sohn, geboren ca. 1908 in England, wahrscheinlich in London, und Berthold, geboren in Stuttgart, das Datum ist unklar. Malka wird auf dem jüdischen Friedhof in Stuttgart, dem Prag-Friedhof, begraben. Moritz heiratet ein zweites Mal, Maria Berenson (*9. Oktober 1899 in Odessa); die Ehe wird 1926 geschieden. Ob aus dieser Ehe Kinder hervorgingen, weiß ich nicht.
Als Schlesinger & Co. 1938 arisiert wird – dem Besitzer Isaak Hersch Schlesinger, genannt Isidor Schlesinger, wird das gesamte Vermögen entzogen –, verliert auch mein Großvater seine Arbeit und wird zu Zwangsarbeit als Stanzer bei der Süddeutschen Absatzfabrik in Stuttgart-Heslach eingezogen. Ab 1939 werden alle Juden «zwangseingewiesen» und müssen auf engstem Raum in «Judenhäusern» zusammenleben. Ab 1940 ist Moritz wie alle jüdischen Männer im Adressbuch mit dem Zusatznamen «Israel» aufgeführt, 1941 muss er in die Klopstockstraße 42, 2. OG, umsiedeln. Ab 19. September 1941 ist er verpflichtet, den «Judenstern» zu tragen. Um die Familie über Wasser zu halten, ist er gezwungen, Gegenstände zum Pfandleiher zu bringen.
Schon 1942 muss er wieder umziehen, zusammen mit seinem Sohn Benjamin Emil, meinem Vater. Auch dieser wird im Adressbuch mit dem Zusatznamen «Israel» aufgeführt, und beide werden als «Arbeiter» bezeichnet, was zynischerweise ja stimmt, da sie Zwangsarbeit leisten: «1942: Olonetzky, Emil Israel, Arbeiter, und Olonetzky, Moritz Israel, Arbeiter, Reinsburgstraße 107, DG.» Zuletzt wird mein Großvater gezwungen, an der Hospitalstraße 34 zu wohnen, von wo aus er am 26. April 1942 deportiert wird. Der zu diesem Zeitpunkt noch verbliebene Hausrat und das restliche Vermögen werden konfisziert.
Anfang März 1942 hat die Gestapostelle Stuttgart bei der Reichsbahn den mit «Da 56» bezeichneten Deportationszug bestellt und bestimmt am 10. April 1942 den Zielort: Izbica, rund 50 Kilometer südöstlich von Lublin. Am 24. April 1942 muss sich mein Großvater auf dem Killesberg einfinden, er ist 61-jährig. Am frühen Morgen des 26. April marschiert er zusammen mit über 600 anderen Menschen zum Inneren Nordbahnhof Stuttgart; unter den Deportierten befinden sich viele jüdische Kinder, es sind die letzten, die noch in Stuttgart verblieben sind. Die Reise dauert drei Tage in verplombten Wagen. In Lublin sollen die als arbeitsfähig selektierten Männer ins Lager Majdanek gebracht worden sein, alle anderen Menschen kommen nach Izbica.
Izbica – oder jiddisch: Ischbitze – ist ein im 18. Jahrhundert gegründetes Schtetl mit 4000 Einwohnern, in das ab März 1942 in mehreren Deportationszügen rund 25 000 Menschen gepfercht werden. Im Rahmen der «Aktion Reinhardt» wird Izbica zum Transit-Ghetto für Menschen, die in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor ermordet werden. Zwei SS-Männer führen eine Schreckensherrschaft: Kurt Engels und sein Stellvertreter Ludwig Klemm. Sie erschießen und erschlagen willkürlich Menschen und organisieren die Deportationen nach Belzec und Sobibor, die sogenannten «Aktionen». Es herrschen katastrophale Verhältnisse, was Hygiene, Kleidung und Lebensmittel betrifft. Hunger, Not, ständige Todesangst.
Mein Großvater kommt am 29. April 1943 in Izbica an. Ob er in Izbica selbst, in Belzec oder in Sobibor ermordet wird, ist ungeklärt. Mein Vater nahm an, dass er mit dem nächstmöglichen Transport ins Vernichtungslager kam – er erwähnte immer Treblinka. Wahrscheinlicher ist der 1. Mai 1942, als 500 Menschen nach Sobibor deportiert und ermordet werden, oder die «Dritte Aktion» vom 12. bis 15. Mai 1942 ebenfalls nach Sobibor; zu Belzec fehlen Informationen. Niemand des «Da 56»-Transports aus Stuttgart überlebt.
Die siebte und letzte Aktion findet am 2. November 1942 statt. Am Vorabend werden alle Mitglieder des «Judenrats» ermordet – die von der SS oder Gestapo ernannte Zwangskörperschaft, die verschiedene Aufgaben ausführen muss wie etwa die Nennung von Juden, die deportiert werden sollen. Dann werden die Menschen mit brutalster Gewalt zu den Zügen getrieben; sehr viele sterben schon «beim Verlad». Wie viele in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Majdanek gebracht werden, ist unklar. Die Zurückgebliebenen, zwischen 1000 und 2000 Menschen, werden zuerst für mehrere Tage im ehemaligen Kino – andere Quellen nennen das Feuerwehrgebäude – eingeschlossen, dann in Gruppen auf dem jüdischen Friedhof erschossen. Die letzten ca. 200 Zwangsarbeiter, die noch in Izbica geblieben sind, werden am 28. April 1943 nach Sobibor deportiert und ermordet.
Kurt Engels eröffnet 1955 in Hamburg das «Café Engels», wird jedoch 1958 von einem der wenigen Überlebenden von Izbica, Toivi (Thomas) Blatt, erkannt und überführt. Im Gefängnis nimmt sich Engels am 31.12.1958 noch vor Prozessbeginn das Leben. Ludwig Klemm, Engels rechte Hand, ändert nach dem Krieg seinen Namen auf Ludwig Jantz, lebt zuerst in Thüringen, dann in Düsseldorf und später in Allendorf. Erst im Januar 1979 wird er dort verhaftet, im Mai darauf nimmt auch er sich das Leben, im Untersuchungsgefängnis Limburg.

Beny (Benjamin Emil) Olonetzky war mein Vater. 1917 kommt er in Stuttgart zur Welt. Als er vier Jahre alt ist, verliert er seine Mutter. Er erzählte uns von der Haushälterin, die nach dem Tod der Mutter angestellt ist – möglicherweise handelt es sich jedoch um die zweite Frau seines Vaters – und die bald seine Vorliebe für angebrannte Plätzchen kennt; als jüngstes der fünf Kinder dürfte er ihre besondere Aufmerksamkeit bekommen haben.
Aus seiner 1949 einsetzenden Korrespondenz mit dem «Landesamt für die Wiedergutmachung» Stuttgart ist ersichtlich, dass ihm der Besuch des Gymnasiums und dann der Kunstschule bzw. die Grafikerausbildung verwehrt wird. In einem Aktenvermerk des «Landesamts für die Wiedergutmachung» Stuttgart vom 7. Januar 1954 heißt es zur Ausbildung: «Auch ist anzunehmen, dass sein Vater nicht in der Lage gewesen ist, die Kosten einer solchen Ausbildung zu bezahlen. (…) Am 10.4.1938 hat der Vater des Antragstellers an das Wohlfahrtsamt ein Unterstützungsgesuch zur Übernahme der Kosten für den Aufenthalt im Katharinenhospital gestellt. Er war also im Jahre 1938 verarmt, dass Verfolgungsmaßnahmen wesentlich dazu beigetragen haben, ist unwahrscheinlich.» Der letzte Satz macht mich sprachlos. Mein Großvater hat 1938 aus antisemitischen Gründen seine Arbeit verloren und danach Zwangsarbeit geleistet, die «Verarmung» ist genauso erklärtes Ziel gewesen wie die «Vernichtung durch Arbeit».
Mein Vater macht bei der Stuttgarter Filiale von Bamberger & Hertz für Knaben- und Herrenkonfektion eine Lehre als (Schaufenster-)Dekorateur. Im Frühling 1936 schließt er die Lehre ab und arbeitet bis September als Angestellter weiter in der Firma. In seiner eidesstattlichen Erklärung vom 16. Oktober 1957, in der er auch von seiner Flucht in die Schweiz berichtet, sagt er: «Im September 1936 gab ich die Tätigkeit auf, weil die Arisierung der Firma angekündigt war – sie wurde tatsächlich auch einige Monate später durchgeführt.» Er geht nach Italien – Mailand – und versucht, die Ausbildung zum Grafiker nachzuholen, bricht den Aufenthalt aber nach neun Monaten ab, weil er es nicht schafft, Fuß zu fassen, sprich: Geld zu verdienen.
Sofort nach seiner Rückkehr nach Stuttgart, von der die Gestapo bereits Kenntnis hat, weil sie seine Briefe an den Vater abfängt, wird er zur Zwangsarbeit eingezogen: Bis Mitte November 1938 wird er von verschiedenen Firmen im Straßenbau in Stuttgart-Vaihingen eingesetzt und muss die in der Progrom-Nacht vom 9./10. November 1938 zerstörte Synagoge aufräumen. Ein herabfallender Stein verletzt seinen Fuß, bis Januar 1939 ist er arbeitsunfähig. Vom 15. Januar 1939 bis zur «Einweisung» ins Arbeitslager «Schlosshof» bei Bielefeld im Januar 1940 arbeitet er als Hilfs- und Bauarbeiter bei der Firma Erich Schumm in Stuttgart; wo er wohnt, ist unklar.
Als Insasse des Arbeitslagers «Schlosshof» wird er etwas mehr als ein Jahr lang, vom Januar 1940 bis März 1941, als Straßenarbeiter und in der Müllabfuhr der Stadt Bielefeld eingesetzt. Noch am 16. Mai 1951 bezeichnet der Chef der Polizeibehörde von Bielefeld in einem Schreiben an das «Landesamt für die Wiedergutmachung» das Arbeitslager als «jüdisches Gemeinschaftslager mit ca. 80 Personen». Zwar ist das Lager, in dem bis zu 150 Männer untergebracht sind, nicht speziell bewacht, es untersteht jedoch der «Stapostelle Bielefeld». Regelmäßig werden Kontrollen durchgeführt und mit der Deportation gedroht.
Überraschend wird meinem Vater in Aussicht gestellt, über Jugoslawien nach Tanger, Marokko, abgeschoben zu werden unter der Bedingung, dass er verheiratet ist. Deshalb heiratet er am 13. März 1941 seine halbjüdische Freundin Hanna Kesting und bekommt dafür vom Leiter des Arbeitslagers drei Tage Urlaub. Doch der Einmarsch der Wehrmacht in Jugoslawien am 6. April 1941 verunmöglicht die Abschiebung.
Ab April 1941 wird mein Vater erneut zu Zwangsarbeit bei der Firma Erich Schumm in Stuttgart eingezogen: für knapp zwei Jahre, bis Februar 1943. Er wohnt zunächst mit seinem Vater an der Reinsburgstraße 107 (die Firma Schumm befindet sich an derselben Straße), dann zusammen mit seiner Frau an der Eberhardstraße 1. Ab 19. September 1941 muss auch er den «Judenstern» tragen.
Am 28. Februar 1943 werden die jüdischen Zwangsarbeiter der Firma Schumm von ihrem Vorgesetzten Franz Josef Morelli informiert, dass sie anderntags um sechs Uhr früh «zum Abtransport bereitstehen» müssen. Der Deportationsbefehl ins Vernichtungslager durch die Gestapo gilt für alle Juden außer für jene, die mit arischen Frauen verheiratet sind.
In der Nacht fliehen mein Vater und seine Frau Hanna nach Wuppertal-Barmen. Sie lassen – es ist Ende Februar und kalt – «den gesamten ehelichen Hausrat» zurück. In Wuppertal kommen sie bei Margarete Voigtländer unter, einer Bekannten von Hannas Mutter. Margarete Voigtländers Mann ist gefallen, sie lebt mit ihren Kindern in einer Wohnung mit Hinterzimmer. In diesem Zimmer versteckt sie Beny und Hanna drei Monate lang: von Ende Februar bis Ende Mai 1943. Niemand im Haus weiß davon, und bei Bombardierungen finden alle Hausbewohner Schutz im Keller – außer sie. Die Nahrungsmittel sind extrem knapp, obwohl Hannas Mutter hilft. Er erinnert sich in seiner eidesstattlichen Aussage: «Meine Schwiegermutter, die mit einem Nichtjuden verheiratet war, ließ uns über Frau Voigtländer Lebensmittel in sehr bescheidenem Maß zukommen.»
Am 29./30. Mai wird Wuppertal-Barmen von den Briten schwer bombardiert, und Beny und Hanna laufen ins Freie; das Haus wird beschädigt. Er berichtet in seiner eidesstattlichen Erklärung: «In dem allgemeinen Durcheinander schloss ich mich dem Zug der Obdachlosen am nächsten Vormittag an und gab mich bei der NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] unter dem Namen ‹Bernd Weber› als total ausgebombt aus. Ich erhielt auf diesen fingierten Namen einen braunen Ausweis, wie ihn auch die anderen Fliegergeschädigten, die ihre Personalpapiere verloren hatten, bekamen.»
Da Margarete Voigtländer die beiden nicht länger beherbergen bzw. verstecken will, ihnen jedoch eine Unterkunft bei ihrer Schwester im von den Deutschen längst besetzten Colmar vermittelt, reisen sie ins Elsass. Hanna bleibt in Colmar, mein Vater reist weiter nach Mulhouse, wo er sich beim NSDAP-Kreisleiter meldet: «Es wird auf Ende der ersten Juni-Woche 1943 gewesen sein, dass ich dort ankam. Als ich mir den braunen Ausweis in Wuppertal verschaffte, gab ich mich aufgrund einer von einer Sportverletzung herrührenden Narbe am Rücken als schwer kriegsbeschädigt und selbstverständlich auch als fliegergeschädigt aus, und das war auf meinem Ausweis vermerkt. Ich begab mich, indem ich alles auf eine Karte setzte, zum Kreisleiter in Mülhausen, und dieser gab mir die Adresse eines Reichsdeutschen, bei dem ich eine Unterkunft unentgeltlich erhielt.»
Von Mulhouse aus erkundet er auf Fußmärschen das Gebiet entlang der Grenze, versteckt sich in Heuställen. «Am 28. August 1943 fand ich endlich in der Gegend von Leymen bzw. Benken (Elsass) unmittelbar an der Schweizer Grenze den Fluchtweg. Ich fuhr daraufhin nach Mülhausen, ließ meine Frau, die auch den NSV-Ausweis auf den Namen Weber hatte, nach Mülhausen kommen, und floh mit ihr am 1. September 1943 an der ausgekundschafteten Stelle in die Schweiz.» Mein Vater und Hanna werden von den Schweizer Grenzwachen nicht zurückgeschickt, was 1943 die absolute Ausnahme ist; er ist 26 Jahre alt und wiegt noch 44 Kilogramm. Mein Vater kommt zuerst in Basel ins Gefängnis, danach bis Kriegsende ins Flüchtlingslager in Serneus im Prättigau – später werden wir in dieser Gegend immer unsere Ferien verbringen. Hanna ist währenddessen im Kanton Thurgau untergebracht und bringt am 5. September 1944 Michael, meinen Halbbruder, zur Welt.
Nach Kriegsende besucht mein Vater bis Dezember 1948 an der Kunstgewerbeschule Zürich die Malfachklasse, ist danach als Künstler tätig und macht sich später als Grafiker selbstständig. Staatenlos von Geburt an, erhält er 1958 (?) die Schweizer Staatsbürgerschaft. Nach der Scheidung von Hanna Kesting heiratet er 1956 meine Mutter Judith Baltensperger. Er baut als Grafiker eine eigene Agentur auf und arbeitet als Werbeberater bis zu seinem Tod am 5. Dezember 1998.
Ab 1949 bemüht er sich um Entschädigung, auch für seinen Vater und seine Geschwister. Er erhält nach rund zwanzig Jahren juristischer Korrespondenz mit dem «Landesamt für die Wiedergutmachung» Stuttgart und durch mehrere Einwilligungen in Vergleiche Entschädigungszahlungen. Am 30. Juli 1959 werden allen Geschwistern gemeinsam für den Hausrat ihres Vaters 1000 DM ausbezahlt und 117 DM für Wertsachen, die er in die Pfandleihanstalt bringen musste, wie zum Beispiel ein silbernes Zigarettenetui.
Als Entschädigung für «Schaden an Freiheit» bekommt mein Vater 1959 schließlich 3000 DM. Den Antrag hat er 1950 gestellt, 1951 wird er abgelehnt, mit Unterstützung seiner Anwälte legt er Rekurs ein. Die Zusage des «Landesamts für die Wiedergutmachung» kommt mit der Begründung: «Der Antragsteller ist Verfolgter i. S. des § 1 BEG [Bundesgesetz zur Entschädigung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung], weil er als Jude geschädigt worden ist. Es besteht ein Entschädigungsanspruch wegen Judensterntragens und Lebens in der Illegalität unter menschenunwürdigen Bedingungen gemäß § 47 BEG für die Zeit vom 19.9.1941 bis Ende Mai 1943. Nach § 48 BEG beträgt die Entschädigung für jeden vollen Monat der Freiheitsbeschränkung DM 150.–. Sie beläuft sich demnach für den gesamten entschädigungsfähigen Zeitraum – 20 volle Monate – auf DM 3000.–. Der weitergehende Antrag, eine Entschädigung auch für die Zeit des Aufenthalts im Arbeitslager Schlosshof bei Bielefeld (Jan. 1940 bis März 1941) und im Elsass vom 31.5.1943 bis 1.9.1943 zu bezahlen, musste zurückgewiesen werden.»
Für die Zeit seiner Zwangsarbeit ab 1938 in Stuttgart bis und mit der Zeit im Arbeitslager Schlosshof in Bielefeld – ca. 36 weitere Monate – bekommt er also keine Entschädigung. Am 8. November 1962 werden ihm jedoch 4000 DM für «Schaden im beruflichen Fortkommen» zuerkannt und ausbezahlt, und am 17. August 1965 bekommt er 5000 DM wegen «Schadens an Ausbildung». «Der Antragsteller verzichtet auf jeden weiteren Entschädigungsanspruch für Schaden im beruflichen Fortkommen einschließlich der Geltendmachung des Rentenwahlrechts.» 1965 kostet ein Kilogramm Brot 1,07 DM.
Da mein Vater 1942, als sein Vater ermordet wurde, gerade das 25. Lebensjahr erreicht hatte, wird ihm keine Entschädigung für den Tod des Vaters zuerkannt.

Meine Tante Paula wird am 26. November 1906 als erstes Kind von Moritz und Malka in Saratow, Russland, geboren. Mit der einjährigen Paula ziehen die Eltern weiter, gemäß den Dokumenten des Staatsarchivs Ludwigsburg über England nach Stuttgart. Doch Paula gibt am 6. Februar 1958 in einer eidesstattlichen Versicherung im Zusammenhang mit ihren Bemühungen um Entschädigung wegen «Schadens an Körper oder Gesundheit» an: «Ich bin die Tochter des jüdischen Ehepaares Moritz Olonetzky und Frau Malka geborene Siegelmann. Meine Eltern sind mit mir im Jahre 1907 – als ich 1 Jahr alt war – nach Deutschland ausgewandert und wir haben ab 1908 in Stuttgart gelebt.» Sowohl in den Dokumenten der Archive wie in den erzählten Erinnerungen gibt es widersprüchliche Angaben zu Daten, Orten und Namen.
Ab 1917 besucht meine Tante die Höhere Töchterschule in Stuttgart, erkrankt jedoch 1921 zum ersten Mal an Lungentuberkulose; mehrere stationäre Aufenthalte in Sanatorien werden nötig: 1922, 1929, 1930 und 1931, u. a. im Lungensanatorium Überruh im Allgäu. 1930/1931 leidet sie bereits an einer offenen, doppelseitigen TB. In einigen Dokumenten wird der Tod meiner Großmutter Malka 1921 nicht mit «Pneumonie», sondern ebenfalls mit «Lungen- und Kehlkopftuberkulose» angegeben. Was stimmt, bleibt offen; Pneumonien können schnell zum Tod führen, TB dauert in der Regel länger, ist aber höchst ansteckend. Das «Landesamt für die Wiedergutmachung» wird die These der TB verwenden, um Paulas Antrag auf Entschädigung abzulehnen.
Ihren ersten Mann Leo Kogan heiratet Paula 1925. Er arbeitet als Feinmechaniker und Lagerverwalter der Kinematographenfabrik Eugen Bauer in Stuttgart-Untertürkheim (später Robert Bosch Elektronik und Photokino GmbH). Gemeinsam emigrieren sie am 15. Januar 1934 nach Palästina. Die letzte Adresse in Stuttgart ist Kombergstraße 33, ihr Pass für die Emigration ist am 3. Mai 1933 ausgestellt: «Als wir im Jahre 1934 von Stuttgart nach Palästina auswanderten, ließen wir uns in Tel Aviv nieder, da mein Mann dort Aussicht hatte, als Mechaniker Arbeit zu finden. In der Tat gelang es ihm, nach verhältnismäßig kurzer Zeit, etwa PL. 8.– monatlich zu verdienen. Da jedoch damals durch die Masseneinwanderung aus Deutschland Wohnräume in Tel Aviv sehr knapp waren, waren wir genötigt, in der Florentinstraße in Tel Aviv zu wohnen. Die Florentinstraße ist in einem reinen Industrieviertel gelegen, nahe dem Meer, umgeben von Wohnungen, die heute zum größten Teil bereits abgerissen sind. Das Klima in der Nähe des Meeres und im Zentrum einer Industriegegend ist meiner Gesundheit schlecht bekommen und bereits nach ¾ Jahren machten sich bei mir die ersten Gesundheitsstörungen bemerkbar. Damals war ich noch kein Mitglied der Arbeiterkrankenkasse und konnte mir den Luxus eines Arztes nicht erlauben; lediglich als mein Fieber erheblich anstieg, ich Hustenanfälle hatte und mein Auswurf die Symptome zeigte, die ich auf Grund meiner Erfahrung von 1929 als Wiederkehr einer Tuberkulose ansehen musste, ging ich zu einem Arzt.» Das erklärt sie am 6. August 1958 in einer Ergänzung zur eidesstattlichen Versicherung vom Februar.
1936 – oder je nach Dokument 1938 – kommt ihr Sohn Mordechai zur Welt; in einem Schreiben des Government Medical Board for Indemnification Claims from Germany an das «Landesamt für die Wiedergutmachung» vom 22. Dezember 1967 wird Mordechai als «Sohn, 41-jährig, gesund» bezeichnet, somit wäre er 1926 (!) geboren.
Ab 1935 flackert die TB immer wieder auf, meine Tante ist wiederholt krank und muss 1936 operiert werden: In drei Operationen wird schließlich der linke Lungenflügel entfernt. Sie wird im Lungensanatorium Bilu in Gedera vom Chirurgen Dr. Kurt Friedmann behandelt und lebt von da an unter ständiger medizinischer Überwachung. Als sie Antibiotika bekommt, heilt die TB im Lauf der 1940er-Jahre aus; Vernarbungen und eine große Anfälligkeit für Erkältungen bleiben. Abgesehen vom Haushalt, den sie führt, ist sie arbeitsunfähig.
1950 wird die Ehe mit Leo Kogan geschieden. Paula lebt von der Zimmervermietung und später auch von der Unterstützung ihres Sohns, der Zahntechniker wird. Am 3. April 1960 heiratet sie ein zweites Mal, Paul Apfelbaum, und lebt von da an der Michael-Pines-Straße 3 in Jerusalem.
Seit März 1958, als sie beim «Landesamt für die Wiedergutmachung» einen Antrag gestellt hat, bemüht sie sich um Entschädigung für «Schaden an Körper oder Gesundheit». Sie führt an, dass die Ermordung ihres Vaters Moritz und ihrer Schwester Anna, die Strapazen der Verfolgung, Auswanderung und die Assimilierung an das neue Klima sowie finanziell schwierige Verhältnisse in Palästina ihre Widerstandskraft geschwächt hätten und die TB deshalb erneut ausgebrochen sei. Und dass sie nicht hätte in Palästina einwandern können, wenn die TB von der damaligen britischen Mandatsregierung nicht als ausgeheilt eingestuft worden wäre.
Doch nach zehn Jahren Korrespondenz und zahlreichen Arztberichten zieht sie den Antrag zurück. Er wird am 28. März 1968 intern an die «Härteausgleichsstelle» des «Landesamts für die Wiedergutmachung» weitergeleitet. Am 30. September 1968 bekommt meine Tante den Bescheid: «Dem Antrag kann nicht entsprochen werden.» Die Verfolgung wird nicht als Grund für die ruinierte Gesundheit anerkannt. Da meine Tante nur kurz als Angestellte arbeitete und ansonsten Hausfrau war, kann sie auch nicht auf «Schaden im beruflichen Fortkommen» klagen und erhält deshalb nichts.
Paula und Paul Apfelbaum besuchen uns regelmäßig in Zürich. Meine Tante, 1 Meter 53 klein, ist eine außergewöhnlich stilvoll gekleidete Dame. In Zürich geht sie jeweils zu Bally: Es ist das einzige Schuhgeschäft, das Damenschuhe in Größe 33/34 führt. In den vielen Arztberichten, die sich in den Akten des Staatsarchivs Ludwigsburg befinden, wird ihre Krankengeschichte detailreich erläutert und die bleibenden Schäden sowie die «Rasselgeräusche» in der Lunge werden mehrfach erwähnt; jede Anstrengung sei zu vermeiden. Gingen wir mit ihr spazieren – einmal machten wir mit ihr einen Ausflug nach Schaffhausen und stiegen den Hügel zur Burg Munot hoch –, hörte ich ihr rasselndes Atmen. Paula stirbt im April 1986 an einer Lungenentzündung. Mein Eindruck ist, dass mein Vater sie immer besonders geliebt hat.

Mein Onkel Efrem wird 1910 in Stuttgart geboren. Nach der Rosenberg-Realschule macht er eine 3 ½-jährige Lehre als Feinmechaniker und Werkzeugmacher in den Contessa-Camera-Werken Stuttgart (vom 27. Mai 1924 bis 26. November 1927) und besucht parallel dazu die Gewerbeschule. Anschließend, vom 28. November 1927 bis 19. September 1928, arbeitet er als Mechaniker in der Kinematographenfabrik Eugen Bauer in Stuttgart, wo bereits sein Schwager tätig ist. Nach einer nur rund dreimonatigen Anstellung in der Firma Libertus Schlander für elektrische Apparate tritt er am 2. April 1929 in die Agfa-Camerawerke in München ein. Doch wegen der Repression gegen Juden verliert er am 29. Juni 1934 diese Arbeit wieder. Danach lebt er «ungemeldet im landwirtschaftlichen Zentrum in Eltingen», wo er sich offensichtlich auf die Emigration vorbereitet. «Alsdann, im November 1934, wanderte ich in das damalige Palästina aus», gibt er in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 11. Januar 1966 an.
Tatsächlich reist mein Onkel im Oktober 1934 mit dem Zug 3. Klasse von Stuttgart nach Triest und von dort mit einem Schiff von Lloyd Triestino in der Touristenklasse nach Jaffa, dem Hafen von Tel Aviv. Am 9. März 1962 bekommt er mithilfe der United Restitution Organization (URO) eine Entschädigung für die Auswanderungskosten zugesprochen: 110,64 DM; für die Reise knapp dreißig Jahre davor hat er 553,20 RM [Reichsmark] bezahlt.
Die erste Zeit in Palästina ist schwierig: Er arbeitet rund ein halbes Jahr, vom 9. November 1934 bis 28. Juni 1935, als Werkzeugmacher in den Jaffa Iron Works Ltd., beschreibt schwere körperliche Arbeit und leidet wie seine Schwester Paula unter Akklimatisierungsschwierigkeiten. Seit der Emigration hat er Magen-Darm-Beschwerden, Rücken-, insbesondere Halswirbelprobleme, später wird er zudem herzkrank. Er nimmt den Namen Ilani an.
Von August 1935 bis Januar 1947 ist Efrem als Polizist der britischen Mandatsregierung in Jerusalem tätig, in der Palestine Police Force, zuerst in Jerusalem und Umgebung, dann, von 1943 bis 1947 wegen der anhaltenden Rückenprobleme im Bürodienst. Uns hat er immer erzählt, dass er «im Untergrund» war, wie er es genannt hat. Ob das bereits während seiner Zeit als Polizist der Fall war, weiß ich nicht.
Am 14. Juni 1949 heiratet er in Haifa Ilse Leschner, geborene Horowitz, am 25. November 1949 kommt ihr Sohn Gadi/Peter zur Welt, am 7. September 1952 die Tochter Dorit; die Familie wohnt an der Josef-Hanassi-Straße 4 in Jerusalem. Die Ehe mit Ilse wird später geschieden.
1947 macht Efrem sich als Pressefotograf selbstständig. Bis in die 1980er-Jahre arbeitet er für verschiedene Auftraggeber, für die Haganah, die zionistische Untergrundorganisation, den Mossad und den Inlandgeheimdienst Shin Bet. Nach 1948 fotografiert er für United Press International, für LookLife und für die Times of Israel. 1951 wird er offizieller Fotograf für die State of Israel Bonds, wie die Development Corporation for Israel (DCI) auch genannt wird, und dokumentiert die Entwicklung Israels, insbesondere das alltägliche Leben. Efrem zählt mit Alfons Himmelreich und Jakob Rosner zu jenen aus München geflohenen Fotografen, «die das Land Israel unter britischem Mandat und den Aufbau des Staates Israel seit 1948 mit der Kamera begleiteten und das historische Bildgedächtnis Israels maßgeblich prägten», wie das Jüdische Museum in München in der Ankündigung einer Ausstellung 2010 schreibt.
Von 1956 bis 1974 kämpft auch mein Onkel zunächst mithilfe der United Restitutions Organization (URO), dann mit eigenen Rechtsanwälten um Entschädigung, er stellt beim «Landesamt für die Wiedergutmachung» einen Antrag wegen «Schadens im beruflichen Fortkommen», ab 29.12.1965 auch wegen «Schadens an Körper oder Gesundheit». Letzterer wird am 25. November 1971 abgewiesen. Wegen «Schadens im beruflichen Fortkommen» bekommt er am 18. Februar 1962 eine Kapitalentschädigung von 11 432 DM zugesprochen.
Ich habe viele Erinnerungen an meinen Onkel Efrem. Sowohl mit seiner Frau Ilse wie später mit seiner Freundin Peggy besucht er uns in Zürich; fast immer ist er mit seiner Leica unterwegs. Wie mein Vater, der ein leidenschaftlicher Amateurfotograf ist, fotografiert auch mein Onkel fortwährend alles. In den 1980er-Jahren wandert er zunächst in die USA aus, kommt dann für etwa vier Jahre nach Zürich, lebt kurze Zeit bei einer Freundin in Süddeutschland und geht erneut in die USA, wo er am 20. September 1999 in New York Opfer eines Autounfalls wird.

Meinen Onkel Avraham, geboren 1913 in Stuttgart, habe ich leider nie kennengelernt. Ab 1920 besucht er die Volksschule, ab ca. 1928 macht er eine 3½-jährige Lehre als Schneider bei der Firma Andreas Aufmuth, Silberburgstraße 88 in Stuttgart, die er am 16. Oktober 1931 abschließt. Parallel dazu besucht er die Gewerbeschule. Er wohnt wie meine Großeltern an der Gartenstraße 17 (heute Fritz-Elsas-Straße) in Stuttgart. Von Dezember 1931 an arbeitet er sechs Monate bei der Firma Rudolf Schleicher & Co., Königstraße 51 in Stuttgart. Von Juni 1932 bis 3. August 1934 ist er bei der Strick- und Wirkwarenfirma Krautkopf, Rosenbergstraße 111/113 in Stuttgart, angestellt; er arbeitet im Akkord.
Wie alle seine Geschwister ist er staatenlos von Geburt an. Ab 1933 braucht er eine Arbeitsbewilligung, die ihm jeweils für ein halbes Jahr ausgestellt wird. Weil er sie am 18. März 1935 jedoch verliert, emigriert er am 2. September 1936 nach Palästina/Israel.
Schon vor der Emigration ist er in der zionistischen Bewegung aktiv und beginnt, sich auf das neue Leben vorzubereiten. Er arbeitet in der Gärtnerei Karl Fuoss in Vaihingen und lebt eine Zeitlang im Vorbereitungszentrum des Hechaluz in Lehrensteinsfeld bei Heilbronn; Hechaluz ist der Dachverband zionistischer Jugendorganisationen, der die Einwanderungswilligen unterstützt. «Etwa im Juli 1936 kam ich wieder nach Stuttgart und wohnte bei meinen Eltern bis zu meiner Auswanderung am 2.9.36», erklärt er im Rahmen seiner Bemühungen um Entschädigung.
Am 22. November 1956 gibt er der United Restitution Organization (URO) in Frankfurt am Main unter anderem zu Protokoll: «Bei meiner Auswanderung im September 1936 fuhr ich von Stuttgart III. Klasse nach Triest; der Fahrpreis betrug ca. RM 40.–. In Triest musste ich 2 Tage bis zur Abfahrt des Schiffes warten; der Aufenthalt kostete ca. RM 50.–. Ich fuhr dann am 2. September von Triest mit der SS ‹Gerusalemma› Touristenklasse nach Haifa; die Fahrt mit dem Schiff kostete ca. RM 125.–. Mein Umzugsgut: Kleider, Wäsche, Bücher usw. wurde mir in einer großen Kiste nachgesandt; nach meiner Erinnerung hat der Transport und die Zufuhr etwa RM 100.– gekostet.» Interessant ist für mich vor allem die Route, von der ich bislang nichts wusste.
In Israel lebt er bis 1941 im Kibbutz Na’an in der Nähe von Rehovot. Ab Ende 1941 arbeitet er als Schneider in Tel Aviv, bis gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Einwanderern und arabischen Ansässigen dazu führen, dass er seine Arbeit verliert. Er beschreibt bittere Armut und arbeitet von Zeit zu Zeit schwarz. Er nimmt wie mein Onkel Efrem den Namen Ilani an.
Während des Israelischen Unabhängigkeitskriegs dient mein Onkel Avraham 1948/49 in der Armee, danach ist er kurze Zeit arbeitslos. Anschließend, von Anfang 1950 bis Juli 1951, arbeitet er als Schneider in Jerusalem; er wohnt an der 10 Asa Street, Greek Colony. In einer Bescheinigung vom 22. Oktober 1958 des Irgun Olej Merkas Europa – einer von deutschsprachigen Einwanderern gegründeten Vereinigung, die heute u. a. Altersheime betreibt – heißt es: «Herr Ilani (Olonetzky) ist verheiratet mit Frau Ayala, geb. Nadav, 1923 geboren. (…) Unter obiger Adresse wohnt Herr Ilani (Olonetzky) mit Frau und Tochter in einem alten baufälligen Haus, das feucht ist und dauernde Reparaturen erforderlich macht. Herr Ilani muss von seinem kleinen Einkommen, das zum Lebensunterhalt für die dreiköpfige Familie restlos aufgebraucht wird, Zahlungen für die Reparaturen machen, Beträge, die eine noch größere Einschränkung notwendig macht.»
Ab dem 26. August 1951 ist mein Onkel als Buchhalter bei der Zollbehörde des Staates Israel angestellt und inzwischen israelischer Staatsbürger. Bis 1971 führt er mithilfe der URO Korrespondenz mit dem «Landesamt für die Wiedergutmachung». Abschlägige Entscheide werden mit Unterstützung der URO angefochten. Am 29. November 1971 wird ein Vergleich geschlossen, mit dem Avraham für den Zeitraum vom 4. August 1934 bis 31. Dezember 1954, als er endlich ausreichend verdient, eine Kapitalentschädigung von 22 573,60 DM zuerkannt wird. Da er bereits Zahlungen erhalten hat, bekommt er noch die Restsumme von 2882,52 DM inklusive Zinsen ausbezahlt.

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Ich machte beim Lesen der Archiv-Dokumente alle möglichen Gefühlszustände durch. Ich las gebannt und verschlang die Korrespondenz in jeder freien Minute. Es tat weh, ich war wütend, mir war übel, und ich träumte davon. Und dann gab es Stellen, die so absurd klangen, dass ich lachen musste. Der Tonfall ist teilweise beleidigend. Zum Beispiel bekommt mein Vater am 6. Mai 1953 die folgende Antwort des «Landesamts für die Wiedergutmachung»: «Obengenannter hat Antrag auf Entschädigung eines im wirtschaftlichen Fortkommen erlittenen Schadens gestellt. Nach seinen Angaben will er im Jahre 1936 seine Lehre bei der Firma Bamberger & Hertz, Stuttgart, beendet haben und anschließend bis zum Herbst 1936 bei der gleichen Firma als Dekorateur tätig gewesen sein. (…) Der Antragsteller kann uns über seine Angaben keine konkreten Beweise vorlegen.»
Mein Vater musste wie alle, die Entschädigung forderten, einzelne Anträge stellen: wegen «Schadens an Freiheit», «Schadens an Eigentum», «Schadens an Ausbildung», «Schadens im beruflichen Fortkommen». Er musste für alles Zeugen und Beweise beibringen, obwohl in einem amtlichen Schreiben vom 27. März 1950 bestätigt wird, dass eben sämtliche Ausweise, Papiere, Anmeldescheine etc. durch die Verfolgung und bei Bombardierungen verloren gegangen waren. Wer Ansprüche hat, muss beweisen, dass er dazu berechtigt ist, das leuchtet ein. Dennoch war der gesamte Entschädigungsprozess voller Demütigungen: Auf einen Antrag folgten immer zunächst die Abweisung, dann Anfechtungen, Rekurse und schließlich ein Vergleich.
Mein Vater tat sein Bestes, sich exakt zu erinnern, immerhin zehn und mehr Jahre später, vom Erlebten traumatisiert und bereits voll in einem neuen (Berufs-)Leben stehend. Er rannte von Amt zu Amt, von Mensch zu Mensch, um zu den Beweisen zu kommen. Bei manchen Anträgen wurde zwar zuerst der grundsätzliche Anspruch anerkannt, aber die Verhandlung, warum die Entschädigung – der Begriff «Wiedergutmachung» wird seit den 1980er-Jahren als Verharmlosung kritisiert – berechtigt war und wofür wie viel bezahlt werden sollte etc., blieb kräfteraubend. Ich denke, es gab viele, die das ganz einfach nicht durchstanden.

Nadine Olonetzky, im November 2021

Dank
Ich danke Andreas Nikakis von der Initiative Stolpersteine Stuttgart für seine Recherche in den Staatsarchiven Ludwigsburg und Stuttgart, sie war eine große Unterstützung. Barbara Geiser danke ich für das Lektorat und Koni Nordmann für die Gestaltung des Booklets.

Der Künstler Gunter Demnig (*1947 in Berlin) begann 1996 mit seinem Projekt Stolpersteine, mit dem an Menschen erinnert wird, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Die Betonquader mit einer Kantenlänge von 10 cm sind im Boden vor dem letzten frei gewählten Wohnort eingelassen. Auf ihrer Oberseite befindet sich eine Messingplatte, in welcher der Name und das Schicksal des Menschen eingraviert sind. Gunter Demnig sagt in einem Interview von Andreas Langen auf SWR2: «Man muss die Namen zurückbringen, dorthin, wo die Menschen gelebt haben.» Zuerst stellte er die Stolpersteine alleine her, heute ist es ein Team von elf Bildhauern, Kunstvermittlerinnen und anderen. Rund 80 000 Stolpersteine in 27 Ländern erinnern an Jüdinnen und Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Euthanasieopfer und an Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt wurden. Regional organisierte Vereine wie die Initiative Stolpersteine Stuttgart unterstützen die Nachfahren und Verwandten bei Recherchen. Heute bilden die Stolpersteine das größte dezentrale Mahnmal der Welt.

Quellen: Erzählungen meines Vaters Beny Olonetzky; Dokumente des Staatsarchivs Ludwigsburg, z. B. Beny Olonetzkys eidesstattliche Versicherung vom 16. Oktober 1957; Dokumente des Staatsarchivs Stuttgart und der Arolsen Archives, Bad Arolsen; Deportationsliste der Israelitischen Kultusvereinigung Württemberg und Hohenzollern; Transportliste von Deportationen aus der Gegend von Lublin des Sobibor Remembrence Project (http://chelm.freeyellow.com/sobibor_transports.html); Publikation der Geschichtswerkstatt Stuttgart-Nord e.V., Der Killesberg unterm Hakenkreuz, 2012; Forschungspublikation von Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Metropol Verlag, 2018.