Menü Schließen

Gunter Demnig wieder in Stuttgart Stolperstein-Verlegung am 9. Juni 2021 für Opfer des NS-Regimes

Nachdem Gunter Demnig wegen des Anstiegs der Zahl der Covid-19-Inifizierten und der daraus resultierenden notwendigen Maßnahmen europaweit alle Stolperstein-Verlegungen zwischen dem 6. Januar und 6. Juni 2021 absagen musste, kommt er nun am Mittwoch, dem 9. Juni 2021 wieder nach Stuttgart, um sieben weitere Stolpersteine für Opfer des NS-Regimes zu verlegen. Es ist vorgesehen, dass die Aktion um 9:00 Uhr im Stuttgarter Westen beginnt und anschließend über die Stadtmitte und Stuttgart-Süd nach Vaihingen führt, von wo aus Gunter Demnig mittags weiter nach Reutlingen fahren wird. Bei den einzelnen Verlegungen sind die gültigen Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten!

Wenige Tage nach dieser Verlegungsaktion jährt sich am 22. Juni der Überfall Nazideutschlands auf die UdSSR zum 80. Mal. Für Hitler war der Krieg gegen die Sowjetunion nicht nur Kernstück seines Expansionsplans, sondern zugleich auch Rassenkrieg gegen die Juden. Bis Ende 1941 ermordeten vier besondere Einsatzgruppen, die der Wehrmacht folgten, Hunderttausende von Zivilisten, Juden und Kommunisten – die „Endlösung der Judenfrage“ hatte begonnen. Der europäische Osten sollte für das “Volk ohne Raum” erobert und kolonisiert werden, die “slawischen Untermenschen” sollten vertrieben oder versklavt werden. Fast 5 Millionen Sowjetbürger wurden zur Zwangsarbeit verschleppt, um die Kriegsproduktion des Deutschen Reichs – auch in Stuttgart – aufrechtzuerhalten. Die Erinnerung an diesen Vernichtungs– und Eroberungskrieg zeigt auch, dass es zu einer Politik der Zusammenarbeit, Verständigung und Abrüstung keine vernünftige Alternative gibt!

9:00 S-West            Schloßstr. 104        1 Stein für ELISABETH LAMMFROMM:
Elisabeth Lammfromm, geboren am 30. Juli 1869 in Tübingen, stammte aus einer jüdischen Familie, die längst assimiliert war und im württembergischen Protestantismus ihre Heimat gefunden hatte. Sie war das zweitjüngste von zehn Kindern. Nach dem Tod des Vaters 1890 wurde der älteste Sohn das Oberhaupt der Familie. 1895 zog Dr. Hermann Lammfromm nach Stuttgart und nahm seine Mutter und Elisabeth bei sich auf.
Elisabeth litt schon früh an einer Augenkrankheit, weshalb sie keinen Beruf erlernen konnte. Nach dem Tod ihres Bruders zog sie 1908 in die Danneckerstr. 33, ein Jahr später wechselte sie in den Stuttgarter Westen, wo sie in der Breitscheidstr. 87 (früher Militärstr.) wohnte, bis sie pflegebedürftig wurde. 1928 kam sie im „Olgaheim“ unter, einem Pflegeheim für Frauen in der Bismarckstr. 6 (heute Schloßstr. 104).
Obwohl Elisabeth evangelisch getauft war, befand sich auf ihrer „Kennkarte“, die 1938 von den Nazis eingeführt worden war, ein großes „J“ für Jüdin. Ab 1941 musste sie den gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ am Mantel tragen. Mittlerweile wohnte sie zwangsweise in einem sogenannten Judenhaus in der Seestr. 114. Am 6. März 1942 wurde Elisabeth in ein jüdisches Altersheim nach Dellmensingen bei Ulm abtransportiert. Niemand durfte das Grundstück verlassen, aber hin und wieder erhielt sie Besuch vom „Kathrinle“ , der Haushälterin ihrer Schwester. Am 19. August 1942 wurde sie zusammen mit den anderen Bewohnern des Altenheimes in das Sammellager Killesberg verlegt, wo die Menschen auf den Weitertransport warteten. Am 22. August 1942 fuhr der Zug mit 1078 Insassen vom Nordbahnhof Stuttgart in das Ghetto Theresienstadt. Von dort erfolgte der Weitertransport mit 2003 Schicksalsgenossen nach Treblinka. Elisabeth Lammfromm war 73 Jahre alt. Ob sie in Treblinka ankam oder auf der Fahrt dorthin verstarb, ist ungewiss.
Der Stolperstein für Elisabeth Lammfromm sollte schon 2019/2020 angebracht werden, die Bauarbeiten vor dem Olga-Areal haben dies aber bisher verhindert. Falls die Baustelle bis zum Verlegungstermin nicht fertig sein sollte, wird der Stein im Beisein von Gunter Demnig und der betagten Verwandten (Großnichte und –neffe) des Opfers zunächst symbolisch verlegt.

9:25 S-West            Silberburgstr. 88    1 Stein für HANS KARL PERLEN:
„Rassenschande“: Wegen seiner Beziehung zu einer „arischen“ Frau wurde Hans Karl Perlen 1938 verhaftet und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Nach Aufenthalten in einem Arbeitslager kam er in eine Außenstelle des Konzentrationslagers Auschwitz, wo er 1944 an Typhus verstarb.

9:50 S-West        Leuschnerstr. 9    1 Stein für OTTO ROTHSCHILD:
Otto Rothschild wohnte ab 1934 bis 1937 in der damaligen Kasernenstr., jetzt Leuschnerstr. 9A. In der Pogromnacht 1938 wurde er nach Dachau verschleppt. Seine letzte Adresse ist die Augustenstr. 39A, ein „Judenhaus“. Das Schicksal von zwei Mitbewohnern deutet darauf hin, dass Otto am 1. Dezember 1941 mit über tausend weiteren Württembergern nach Riga deportiert wurde. Beide Mitbewohner waren in der Deportationsliste der Nazibürokraten aufgeführt, während Otto wohl „vergessen“ wurde, da in der Liste bereits ein Otto Rothschild verzeichnet war. In Riga wurden sie alle ermordet.

10:20 S-Mitte        Calwerstr. 7b        1 Stein für KLARA HÜBNER:
Die letzte Station: Die psychisch erkrankte Krankenschwester Klara Hübner wurde am 14. August 1936 in die Heilanstalt Zwiefalten verlegt. Am 13. August 1940 kam sie nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Es war zugleich ihr Todestag: Dort wurde sie ermordet.

10:50 S-Süd        Heusteigstr. 73        2 Steine für JOSEFINE und HERMANN GLÜCK:
Die Mutter und ihr Sohn: Josefine Glück wurde zunächst in „jüdische“ Altersheime zwangseingewiesen. Im August 1942 wurde sie dann mit einem Sammeltransport nach Theresienstadt deportiert. In diesem Ghetto verstarb sie im März 1943. Ihr Sohn Hermann Glück musste 1944 als „Halbjude“ Zwangsarbeit in der „Organisation Todt“ bei Wolfenbüttel leisten. Gesundheitlich schwer gezeichnet überlebte er die Strapazen, starb aber 1969 letztlich an den Spätfolgen der Haft und Zwangsarbeit.

Die Schicksale von Hans Karl Perlen, Klara Hübner sowie Josefine und Hermann Glück wurden von der Neuapostolischen Kirche recherchiert, die auch die Verlegungen zusammen mit der Feuerbacher Stolpersteininitiative organisiert.

11:30 Vaihingen    Sigmundtstr. 1        1 Stein für GUSTAV WESSNER:
Gustav Wessner wurde am 8. November 1895 in Würzburg geboren und wohnte mit seinen Eltern in der Wilhelmstr. 1 (heute Sigmundtstr. 1) in Vaihingen. Während des 1. Weltkrieges wurde er psychisch krank und wegen Fahnenflucht zu einer 5-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er teilweise verbüßte. Nachdem bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert wurde, kam Gustav 1920 zunächst in die Heilanstalt Rottenmünster, vom 1. März 1923 bis 10. März 1941 war er in der Heilanstalt Winnental untergebracht. Von dort wurde er am 10. März 1941 in die „Euthanasie-Anstalt“ Hadamar in Hessen transportiert – im NS-Jargon „verlegt“ – und am gleichen Tag in der Gaskammer ermordet.

Vorberichte zu den Verlegungen mit ausführlichen Opferbiographien finden sich in den Juni-Ausgaben der kostenlosen Stadtteilzeitungen des Blättle-Verlags für S-Süd und S-West.

Stolpersteine für Stuttgart am Mittwoch, den 9. Juni 2021 (Stand Ende Mai 2021):

9:00S-WestSchloßstr. 1041 Stein für ELISABETH LAMMFROMM*
9:25S-WestSilberburgstr. 881 Stein für HANS KARL PERLEN**
9:50S-WestLeuschnerstr. 91 Stein für OTTO ROTHSCHILD
10:20S-MitteCalwerstr. 7b1 Stein für KLARA HÜBNER**
10:50S-SüdHeusteigstr. 732 Steine für JOSEFINE GLÜCK und deren Sohn HERMANN GLÜCK**
11:30VaihingenSigmundtstr. 11 Stein für GUSTAV WESSNER

Ersatzsteine (Verlegung durch Bautrupp ohne Gunter Demnig):

S-OstHaußmannstr. 6HELENE LÖWY
  SOFIE ROSENFELD
DegerlochLöwenstr. 102LUISE MEHMKE
BotnangAlte Stuttgarter Str. 109MARIA TREYZ

Die Uhrzeiten geben an, wann der Künstler am jeweiligen Verlegungsort voraussichtlich eintrifft. Die Begleitveranstaltungen beginnen in der Regel früher. Wer bei einer Verlegung dabei sein will, sollte sich deshalb möglichst frühzeitig vor Ort einfinden und die Mitteilungen der Stadtteilinitiativen beachten. Bei den einzelnen Verlegungen sind die dann wegen der Situation um Covid-19 gültigen Abstands– und Hygieneregeln einzuhalten. Über etwaige Änderungen im Verlauf der Verlegungen informieren wir hier
 
*Falls die Baustelle in der Schloßstr. 104 bis zum Verlegungstermin noch nicht fertig sein sollte (wonach es im Moment aussieht), wird der Stein für Elisabeth Lammfromm im Beisein von Gunter Demnig und der betagten Verwandten des Opfers zunächst symbolisch verlegt.
 
**Die Schicksale von Hans Karl Perlen, Klara Hübner sowie Josefine und Hermann Glück wurden von der Neuapostolischen Kirche recherchiert, die auch die Verlegungen zusammen mit der Feuerbacher Stolpersteininitiative organisiert.
 

In Stuttgart-Ost, Degerloch und Botnang müssen schon einmal verlegte Steine wegen Fehler in der Inschrift oder wegen Beschädigung bzw. Verlust durch Bauarbeiten ersetzt und neu verlegt werden. Da Gunter Demnig am selben Tag aber noch zu weiteren Verlegungen in Reutlingen und Singen erwartet wird, übernimmt der Bautrupp des Tiefbauamts die Verlegung der Ersatzsteine ohne ihn.

Die öffentlichen Stolperstein-Verlegungen werden von ausschließlich ehrenamtlich tätigen Stadtteilinitiativen organisiert, über die Sie auch Informationen zu den einzelnen Opferschicksalen sowie weitere Aktivitäten erhalten. Alle Stuttgarter Stolperstein-Initiativen freuen sich über Ihre Unterstützung, beispielsweise bei der Erforschung der Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus oder der Pflege bereits verlegter Stolpersteine.

Den aktuellen Plan für die Verlegung am 9. Juni 2021 (Stand Ende Mai 2021) gibt es hier zum Ausdrucken