Menü Schließen

Rudolf Jehle, Ulmer Str. 316

Rudolf Jehle – der Deserteur, der die Freiheit gesucht hat
„Todesanzeigen oder Nachrufe in Zeitungen, Zeitschriften und dergleichen sind verboten“, teilte das Gericht des Küstenbefehlshabers Deutsche Bucht, Zweigstelle Groningen Pauline Jehle mit.  Datum: 29. April 1943. Nicht einmal in schwarz durfte die Mutter von Paul Jehle nach dessen Hinrichtung gehen, erinnert sich eine Verwandte.  Auch ein Trauergottesdienst war der evangelischen Christin untersagt.  Dafür erhielt die 57-Jährige eine Rechnung für die Beerdigungskosten ihres jüngsten Sohnes in Höhe von 84,50 Reichsmark.
„Der Rudi war ein Held“, sagte Otto Klein nach dem Krieg.  Rudolf Jehles Cousin aus Stuttgart-Rohracker hat Mutter Pauline später Rudis Briefe überlassen.  Klein war Kommunist und Nazi-Gegner, er kämpfte bei den Internationalen Brigaden gegen die Franco-Faschisten in Spanien, wurde inhaftiert und überlebte das KZ, zuletzt ein Außenlager von Dachau.  Nach allem, was wir heute wissen, bestand das „Heldentum“ von Rudolf Klein darin, dass der sich der Kriegsmaschinerie der Nazis verweigert hat.  Das dürfte Otto Klein gemeint haben.  Klar ist auch, „dass der Rudi und der Arthur keine Nazis waren, im Gegenteil“.  So erinnert sich Hildegard Hollube, geborene Aichele, an ihren fast gleich alten Onkel Rudi und dessen neun Jahre älteren Bruder.
Rudolf JehleAufgewachsen ist der blonde Lockenkopf Rudi Jehle im so genannten „Vatikan“ in Stuttgart-Wangen, einem Wohnkomplex an der Ulmerstraße, der allerdings bestenfalls wegen seines Grundrisses an die berühmten Gebäude in Rom erinnert.  Vergoldete Statuen, kunstvoll bemalte Säulen und sonstiger Prunk fehlt dem Wangener „Vatikan“.  Pauline Jehle und ihr Mann Gottlob Wilhelm, ein Metallarbeiter, lebten dort zeitweise zu fünft in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock.  Hausnummer 316 I.  Die beiden Söhne schliefen hinter einem Vorhang auf dem Flur.
Gern ging der jüngste am Sonntag mit seinem Vater zu den Verwandten über den Berg nach Rohracker, das damals noch nicht zu Stuttgart gehörte.  Gottlob stammte aus einer alten Weingärtner-Familie.  Er arbeitete als Revolverdreher.
1935: Vater Gottlob stirbt im Alter von 54 Jahren.  Sein jüngster war gerade 13 Jahre alt.  Jetzt muss die Mutter allein für den Lebensunterhalt sorgen.  Sie geht putzen, waschen, trägt Zeitungen aus und nimmt von der Wangener Firma Heinrich Hermann (Herma) Heimarbeit an.  Stunden lang zieht sie für wenig Geld Fäden in Frachtgutanhänger ein.  Die Tochter Erna war wegen der hohe Arbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahre in die Schweiz ausgewandert.  Sohn Arthur ist 1939 zu Haus ausgezogen und bringt es als Bauknecht-Arbeiter zu einem eigenen Motorrad.  Ein Traum auch für Rudi, der mittlerweile ein hübscher, kräftiger und willensstarker Kerl geworden ist.  Gern lässt er sich auf dem Motorrad des Bruders fotografieren.
Rudi besucht ab dem fünften Schuljahr die Lindenschule in Stuttgart-Untertürkheim.  „Er war ein aufgeweckter Bursche“, erinnert sich sein Klassenkamerad Richard Österle, der mit ihm schon als Kleinkind spielte.  „Und er war bei jedem Blödsinn dabei.“  Nach der Schule oder am Wochenende gehen die beiden häufig zusammen mit vier, fünf weiteren Jungs auf dem Wangener Berg oder in den Wald im nahen Dürrbachtal.  Politik spielt für die Jungs nach der Erinnerung der Zeitzeugen keine besondere Rolle.
Im Abschlusszeugnis der Untertürkheimer Volksschule bescheinigt Klassenlehrer Zäh 1937, dass Rudolf Jehle gesund und sehr lebhaft sei.  Er sei einsatzbereit, kameradschaftlich, und anpassungsfähig sowie ein „bedächtiger Arbeiter“.  Lehrstellen-Mangel gibt es in dieser Zeit nicht mehr. Rudi geht zum mit Abstand größten Arbeitgeber im Stadtteil, der Firma Kodak und erlernt den Beruf des Werkzeugmachers.  Später arbeitet er bei der Firma Heinrich Hermann.
1939 überfällt Nazi-Deutschland Polen.  Der Krieg beginnt.  Rudolf Jehle und sein Jahrgang wissen, dass auch sie bald eingezogen werden.  Warum sich Rudi im Juli 1941 freiwillig – das war der übliche Weg – zur Kriegsmarine meldet, wissen wir nicht.  Vielleicht hatte den 18-Jährigen ein Verwandter angeregt, der bereits bei der Marine diente.  „Das schaffst du nervlich nicht“, warnt ihn allerdings Bruder Arthur, „denn der Rudi galt als labil“, berichtet Hilde Hollube. 
Bei der Marine wird Rudolf Jehle dann schwer krank.  Er hat „furchtbare Schmerzen und kann oft Tage lang nicht schlafen“ schreibt er seiner Mutter.  Zwei mal muss er operiert werden.  Die Mutter bittet er, „vielleicht alle 14 Tage“ Zigaretten zu schicken, aber nur ganz milde.  Er könne „nämlich keine starken mehr vertragen.“  Dann bekäme er sofort hohes Fieber.  Und er bittet erneut um einige Äpfel aus Wangen, die ihm so gut geschmeckt hätten.  Im Sommer 1942 schreibt er, dass es ihm besser gehe.  Doch die ärztlichen Untersuchungen hätten ergeben, dass er „für sämtliche Laufbahnen in der Kriegsmarine untauglich“ sei.
Rudolf Jehle wäre aber am liebsten wieder zu Hause.  Und er wäre gerne allein – ohne die vielen Menschen um ihn herum und ohne immer unter Bewachung zu stehen, schreibt er.  Seine Mutter bittet er diesmal um Honig oder etwas ähnliches oder um selbst gemachte Bonbons.  Zwischen den Zeilen kann Pauline Jehle die Verzweiflung ihres Sohnes lesen. 
Der einzige 14-tägige Heimaturlaub endet mit seiner ersten spontanen Flucht.  Die Mutter und die Hilde Aichele (heute Hollube) begleiten den jungen Marine-Soldaten zum Bahnhof, um ihn zu verabschieden.  Doch als sie mit der Straßenbahn zurückkommen, ist er schon wieder da.  Er fuhr mit der Bahn nicht in den hohen Norden zu seiner Kompanie im ostfriesischen Aurich, sondern nach Stuttgart-Untertürkheim und ging zu Fuß über den Neckar nach Wangen.  Dort holt ihn die Militärpolizei ab.
Nach Angaben des Kompanieführers ist Rudolf Jehle später zu einer anderen Einheit versetzt worden.  Dies Gelegenheit nutzt der Stuttgarter zur Flucht und taucht unter.  In Bremen wird er später festgenommen und flieht noch zwei Mal aus der Untersuchungshaft.  Er wird zu 3 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt, will die Zeit aber nicht absitzen, sondern sich „mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft“ an der Front bewähren, schreibt er jedenfalls nach Stuttgart-Wangen.
Schulfreund Richard Österle hat in dieser Zeit keinen Kontakt mehr zu Rudi.  Trotzdem hat es sich bis in seine Kompanie herumgesprochen, „dass der Rudi abgehauen ist“.  Österle: „Er hat die Freiheit gesucht.  So war er.“  Der Wangener Freund kann dies zwar nicht belegen, doch es ist für ihn die einzige Erklärung.
Pauline Jehle bekommt Anfang März 1943 wieder Post von ihrem Sohn.  Der Deserteur sitzt mittlerweile in Emden im Gefängnis.  Er bittet um Verzeihung, weil er sich so lange nicht gemeldet hat und bekennt seine große Mutter-Liebe:  Er wisse, „was es heißt, keine Mutter mehr zu haben.  Das heißt so viel wie nicht mehr auf dieser Welt zu besitzen.  Keine Heimat und überhaupt niemanden mehr, den man lieben kann, bei dem man jeder Zeit guten Rat oder Hilfe holen kann.“
Schon acht Tag nach dem Brief an die Mutter verurteilt das Kriegsgericht in Groningen Rudolf Jehle wegen Fahnenflucht zum Tode.  Ob es sich dabei um eine Revisionsverhandlung ging oder ob die 3 1/2 Jahre Gefängnis die Strafe für den ersten Fluchtversuch sind, ist aus den vorliegenden Akten nicht ersichtlich.  Zuletzt wird auch noch das Gnadengesuch „beim Führer“ abgelehnt.
Wie Rudolf Jehle über seine Fahnenflucht gedacht hat, wissen wir nicht.  Klar, dass er sich in den Briefen dazu nicht bekennen konnte.  Sicher wollte er auch die geliebte Mutter nicht gefährden und sie vor allem beruhigen.  Das ging nur mit Hinweisen auf die Religion.  Möglich auch, dass ein Pfarrer ihm beim Verfassen des letzten Briefes „geholfen“ hat.  Manche Formulierung deutet darauf hin.  So bekennt er in seinem letzten Brief, vor der Mutter und vor Gott eine schwere Sünde begangen zu haben.  Er sei mit Gott in Verbindung gestanden und empfinde das Todesurteil auch als seine Strafe, nennt es gar „gerecht“.  Auffällig auch, dass Rudolfs Kompaniechef zum Teil ähnliche Formulierungen in seinem Brief an die Mutter verwendet.  Wie in den anderen Briefen grüßt Jehle wieder die Verwandten, die er namentlich nennt und bedankt sich bei ihnen „für alles, was sie mir gutes getan haben“.
Am 28. April 1943 wird Rudolf Jehle um 6.30 Uhr im Alter von 20 Jahren erschossen.  Er wird nicht der letzte sein, den deutsche Richter während des zweiten Weltkriegs wegen „Fahnenflucht“ hinrichten lassen.  Man geht heute von etwa 30.000 Todesurteilen aus.  Über 22.000 Deserteure wurden hingerichtet.  Ihre Richter können “Blutrichter” genannt werden – genauso wie die des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte.  Dies bestätigte der fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem Urteil vom 16. November 1995.
Zwei Tage nach der Hinrichtung wird der Leichnam von Rudolf Jehle auf dem lutherischen Friedhof in Aurich beigesetzt.  Die Mutter in Stuttgart soll die Kosten dafür übernehmen; 84,50 Reichsmark stellt ihr das Auricher Landratsamt in Rechnung.  Doch die Frau ist mittellos und mit ihren Nerven am Ende.  Ein Jahr später verliert Pauline Jehle nach einem Bombenabgriff auch noch ihre Wohnung im „Vatikan“.  Sie zieht zu ihrem Sohn Arthur in den Schwäbischen Wald.  Mit Wangen verbindet sie noch das Grab des Mannes, das sie bis kurz vor ihrem Tod pflegt.

DeserteurdenkmalDer Name Rudolf Jehle kehrt erst 1981 zurück ins Schwabenland, nach Sechselberg, wo die Jehles zuletzt wohnten.  Als die Familie die Mutter begräbt, die 95 Jahre alt geworden ist, lässt der älteste Sohn auf dem Grabstein von Pauline auch den Namen Rudolf Jehle eingravieren.  Juristisch bleibt der Stuttgarter aber immer noch ein Straftäter, denn erst 2002 beschließt der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS die Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren, Kriegsdienstverweigerern oder „Wehrkraftzersetzern“.

     Deserteur-Denkmal; von Nikolaus Kernbach, Einweihung:30.08.2007.
     Vorläufiger Standort: Auf der Prag Stuttgart, neben dem Theaterhaus.
     Foto: Gebhard Klehr

Recherche und Text: Hermann G. Abmayr

An Rudolf Jehle erinnert ein StolperKunst-Video der Künstlerin Stefanie Friedrich. Den Videoclip finden Sie hier.

Die Geschichte beruht auf folgenden Quellen:
Interviews mit den Zeitzeugen.
– Hildegard Hollube, geborenen Aichele, Stuttgart-Rohracker.
– Richard Österle, Stuttgart-Wangen.
– Willi Zeller, Stuttgart-Wangen.

Archivalien
Stadtarchiv Stuttgart.
– Bestand 2082, Kleine Nachlässe, Nummer 58, Rudolf Jehle, Familienpapiere und Briefe.
– Einwohnermeldekartei der Jahre 1919-1944.
-Briefwechsel zwischen Erna Künzli-Jehle, Zürich und Inge King, Stuttgart-Rohracker.
-Zu Otto Klein und Rohracker
Alltag macht Geschichte – Stuttgart-Rohracker: Eine andere Heimatkunde, Herausgegeben von Hermann G. Abmayr und Ulrich Weitz, Stuttgart, 1990.