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Martha und Otto Hirsch, Gähkopf 33

1927 kaufen die beiden Brüder Otto und Theodor Hirsch einen brach liegenden ehemaligen Weinberg am Gähkopf in Stuttgart und lassen ein Doppelhaus mit zwei getrennten Eingängen Gähkopf 31 und 33 errichten.  Im oberen Teil des Gartens pflanzen sie vier Linden.
Familie Hirsch 1928Otto Hirsch und seine Familie ziehen am 1. Juni 1928 ein. Ab dem Sommer 1933 pendelt Otto Hirsch zwischen Berlin und Stuttgart hin und her.  Im Dezember 1935 zieht er mit seiner Familie nach Berlin.  Das Haus wird vermietet und 1939 verkauft.  Während des Krieges wird es zerbombt, das seines Bruders beschädigt.  Diese Hälfte zeigt uns heute noch, wie das Haus der beiden Familien Hirsch aussah.  Die vier Linden stehen noch heute hinter dem Haus.  Sie erinnern an die privaten Menschen Otto und Martha Hirsch, die dort mit ihren drei Kindern wohnten. 
Otto Hirsch wird am 9. Januar 1885 in Stuttgart geboren.  Dort wächst er mit seinem 1888 geborenen Bruder Theodor in einer bürgerlichen, kultivierten, weltoffenen deutschen Familie israelitischer Konfession und schwäbischer Prägung auf.  Otto Hirsch verfügt von Geburt an über diese dreifache Identität.  Der Vater Louis ist Weingroßhändler und sorgt mit der Mutter Helene für die beste Ausbildung der Söhne.  Der begabte Schüler Otto legt 1902 das Abitur ab und studiert anschließend bis zum Herbst 1907 Rechtswissenschaft in Heidelberg, Leipzig, Berlin und Tübingen.  Ein Jahr lang hat er sein Studium unterbrochen, um seinen Wehrdienst, an dessen Ende er Vizefeldwebel wird, zu leisten.  Während seines Stuttgarter Referendariats besteht er 1907 und 1911 die erste bzw. zweite juristische Staatsprüfung, 1912 folgt noch seine Dissertation über Bauordnung.  Der promovierte Rechtsanwalt ist ab 1912 Rechtsassessor in der Stuttgarter Stadtverwaltung und wird bereits 1914 zum Rechtsrat der Stadt Stuttgart ernannt.  Sein Arbeitsfeld umfasst Bau- und wasserrechtliche Fragen.  Privat münden seine Ausbildungsjahre am 14. Mai 1914 in die Hochzeit mit Martha Loeb, geboren in Stuttgart am 28.1.1891. Die blonde dreiundzwanzigjährige Stuttgarterin ist ihrem Mann ebenbürtig, nimmt an seiner Arbeit Anteil und sorgt für ein unbeschwertes und gastfreundliches Zuhause. 
Otto Hirsch ist nun 29 Jahre alt.  Er ist ein hochbefähigter Jurist, verfügt über eine rasche Auffassungsgabe, eine unerschütterliche Sachlichkeit und eine beneidenswerte Arbeitskraft.  Sein Temperament macht ihn zu einem in sich ruhenden Menschen, der belastbar ist.  Seine Ausdauer sowie sein Sinn für praktische Lösungen prädestinieren ihn für schwierige Aufgaben.  Hier treten deutlich diejenigen Aspekte seiner Persönlichkeit und Kompetenzen hervor, die seinem Leben bis zum Ende eine Orientierung geben werden:  Ein sehr stabiler, nüchterner, zuversichtlicher und effizienter Mann mit unerschöpflichen Einsatzfähigkeiten und Durchsetzungsvermögen.  Hinzuzufügen ist unbedingt noch, dass Otto Hirsch kontinuierlich seine Aufgaben im Dienste des öffentlichen allgemeinen Wohls findet.  Es ist bereits ein Leben für die Anderen.
Zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten liegt eine Zeit der Bestätigung für Otto Hirsch.  Er kann nicht im Krieg mitkämpfen, da die Stadt Stuttgart ihn nicht freigibt.  Seinen ersten beruflichen Beförderungen folgen weitere Aufstiege:  1919 wird er Berichterstatter im Württembergischen Innenministerium und ist dort für Wasserwege und Elektrizitätsversorgung zuständig, 1921 wird er zum Ministerialrat ernannt, jedoch schnell vom Staatsdienst beurlaubt, weil er zum ersten Vorstandsmitglied der Neckar AG gewählt wird.  Der Bau des Neckarkanals Mannheim-Plochingen wird zur zentralen Säule seines Berufslebens, bis er 1933 gezwungen wird, auf sie zu verzichten.  In der gleichen Zeit werden seine drei Kinder geboren:  1916 Hans Georg, 1921 Grete und 1925 Ursula.  1926 wird er Mitbegründer des Stuttgarter Jüdischen Lehrhauses, einer Bildungs- und Begegnungsstätte zwischen Christen und Juden, 1930 Präsident des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs.  Otto Hirsch erweitert sein Wirken und verbindet durch seine Leistungen und Engagement sein deutsches Staatsbürgertum mit seinem jüdischen Glauben.  Sein Tun für das Gemeinwohl ist auch als Brückenbau zwischen Deutschtum und Judentum zu verstehen. 
Die zunehmenden Misshandlungen, Diffamierungen und Diskriminierungen der deutschen Juden stellen diese identitätsstiftende Lebensgrundlage auf immer schwierigere Proben.  Otto Hirsch wird eine unerschütterliche Stimme des Protestes für Recht und Gerechtigkeit.  Sein Einsatz gilt nun der jüdischen Selbstachtung und dem Widerstand.  Ab Ende 1933 als geschäftsführender Vorsitzender der Reichsvertretung der deutschen Juden in Berlin, vertritt er die Belange der deutschen Juden gegenüber dem NS-Regime und exponiert sich immer mehr, um seinen jüdischen Schicksalsgenossen zu helfen.  Er wird für die Gestapo einer der Hauptvertreter des deutschen Judentums und entsprechend überwacht.  Ende 1935 zieht Otto Hirsch mit seiner Frau und ihrer jüngeren Tochter Ursula nach Berlin.  Die ältere Tochter Grete bleibt bis zum Schuljahresende im März 1936 in Stuttgart bei der Schwester ihrer Mutter und deren Mann, dem Rechtsanwalt und Notar Dr. Alfred Schweizer.  Der Sohn macht 1934 Abitur, kann aber als Jude nicht studieren und wird Landwirtschaftspraktikant in Bayern und Württemberg.  
Das von den Nazis programmierte Ende des deutschen Judentums bleibt ihm noch unvorstellbar.  Das Gebot der Stunde besteht darin, Wirtschaftshilfe und Wohlfahrtspflege für die zahlreichen Juden, die Rat und Hilfe brauchen, zu organisieren.  Ihre Lebensbedingungen in Deutschland müssen erhalten und gesichert sowie die Voraussetzungen für die Emigration geschaffen werden.  Nach den Nürnberger Gesetzen und dem Ausschluss der Juden aus der Lebensgemeinschaft des deutschen Volkes versteht Otto Hirsch, was ihm persönlich droht, entscheidet sich dennoch für die Fortsetzung seiner Pflichten.  Die Zeit des lebensgefährlichen Opfers hat für ihn begonnen, was schon 1935 eine erste Verhaftung zum Ausdruck bringt.  Eine zweite Verhaftung nach der „Reichskristallnacht“ und mehrere Wochen Inhaftierung im Konzentrationslager Sachsenhausen schwächen seine Gesundheit beträchtlich, aber nicht seinen Willen, anderen die Auswanderung zu ermöglichen.  Verlockende berufliche Angebote aus dem Ausland und Emigrationschancen durch seine Reisen nach Paris, London, Palästina oder Amerika lehnt Otto Hirsch ab.  Damit bereitet er sich darauf vor, sein Leben für die anderen zu lassen.  Sein Sohn wandert 1938 nach Amerika aus, seine beiden Töchter 1939 nach England. Im Juli 1939 wandeln die Nazis die Reichsvertretung in eine der Gestapo unterstellte Zwangsorganisation um:  die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, deren geschäftsführender Vorsitzender Otto Hirsch bleibt.  Seine Bemühungen, Juden noch die Auswanderung zu ermöglichen, finden im Kriegsausbruch ein zusätzliches Hindernis.

Am 26. Februar 1941 wird Otto Hirsch im Berliner Gefängnis am Alexanderplatz ohne Angabe eines Verstoßes inhaftiert, am 23. Mai ins Konzentrationslager Mauthausen in Österreich verbracht, wo er am 19. Juni stirbt.  Die genauen Umstände seines Todes bleiben bis heute unbekannt.  Seine Frau Martha überlebt ihn, bis sie am 26. Oktober 1942 in den Osten deportiert wird.  Sie starb in Riga am 29. Oktober 1942.

Die vier Linden hinter dem Haus am Gähkopf 33 sind eine der bleibenden Spuren von Otto und Martha Hirsch und ihre Familie in Stuttgart.  Mögen die Stolpersteine mit ihren Namen für uns ein dauerhafter Anlass sein, an sie als Ehefrau und bis zum Ende couragierte Begleiterin, an ihn als begabten, mutigen und bis zum Opfertode widerstandsfähigen Mann zu denken.
 

Recherche und Text: Dr. Marie-Dominique Fernow

Initiativkreis Stolpersteine für Stuttgart-Nord, Oktober 2009