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Margarete Kusterer, Tunzhofer Str. 21

Hitlers „Euthanasie“-Programm: „Gnadentod für lebensunwertes Leben“.

Das Wort Euthanasie stammt aus dem Griechischen und bedeutete ursprünglich den selbst gewählten „guten Tod“, das „würdige Sterben“, später auch „Sterbebegleitung“ (Hospiz) und „Sterbehilfe“ (auch für unheilbar Kranke und Behinderte). Im nationalsozialistischen Deutschland wurde daraus die ideologische motivierte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Konkret: die geplante und systematische Tötung von sogenannten Erb- und Geisteskranken, Behinderten und sozial oder rassisch Unerwünschten.

Die „Aktion Gnadentod“, wie es damals zynisch hieß, wurde ausgelöst durch ein Schreiben Hitlers auf Privatpapier, rückdatiert auf den Beginn des zweiten Weltkriegs, am 1. September 1939. Sie fand ohne gesetzliche Grundlage statt, weil Mord auch im NS-Staat als Verbrechen geahndet wurde. Von der Tiergartenstraße 4 in Berlin aus (Kürzel „T4“) wurde dieses verbrecherische Programm gesteuert. In sechs Tötungsanstalten des Reiches wurden bis Kriegsende 70.000 Menschen ermordet – Behinderte, Kranke, Kinder und Alte.

Die erste dieser Tötungsanstalten war ursprünglich ein Behindertenheim: die Samariteranstalt Schloss Grafeneck bei Münsingen. Sie wurde im Oktober 1939 beschlagnahmt, von allen Patienten geräumt und dann für den vorgesehenen Zweck umgebaut: in einer 300 m vom Schloss entfernten Holzbaracke wurden Büro- und Personalräume und ein als „Duschraum“ bezeichneter gasdichter Tötungsraum eingerichtet; neben der Baracke wurden drei fahrbare Krematoriumsöfen installiert; die ganze Anlage wurde mit einem Bretterzaun abgeschirmt.

Von Januar bis Dezember 1940 wurde Grafeneck zu einem Ort der systematisch-industriellen Ermordung von über 10.000 Menschen. Diese „Euthanasie“-Morde wurden zum Erprobungs- und Ausgangspunkt der späteren millionenfachen Massenmorde in den Vernichtungslagern des Holocaust.

Die „Euthanasie“-Opfer in der „Landes-Pflegeanstalt“ Grafeneck, in der Mehrzahl Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, stammten aus 48 Heil- und Pflegeeinrichtungen des heutigen Baden-Württemberg, in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Sie alle waren als „lebensunwert“ abgestempelt und hatten das Recht auf Leben aus der Sicht des NS-Regimes vor allem deshalb verwirkt, weil sie nicht oder nicht mehr arbeitsfähig waren. Sie wurden noch an ihrem Einlieferungstag mit Kohlenmonoxidgas getötet – jeweils zu ca. 70 Personen im Vergasungsraum – und unmittelbar darauf verbrannt.

Obwohl das Morden mit willkürlichen Diagnosen, gefälschten Sterbeurkunden und anderen Maßnahmen verschleiert wurde, blieb es der Öffentlichkeit nicht verborgen. Protest und Widerstand regten sich dennoch erst spät. Und als die Anstalt im Dezember 1940 geschlossen wurde, gingen die Massentötungen ab Januar 1941 im hessischen Hadamar weiter.

Margarete Kusterer, 1891–1940

Unter den Toten von Grafeneck waren über 500 Stuttgarterinnen und Stuttgarter. Eine von ihnen war Margarete Kusterer. Sie wohnte dort bei ihren Eltern, als sie im Alter von 28 Jahren im Januar 1920 im nahe gelegenen Bürgerhospital stationär aufgenommen wurde. Ihr Vater, Michael Kusterer, verdiente sein Geld als Fuhrmann, beschäftigt vermutlich bei der Städtischen Latrinenabfuhr. Für sie steht in der Krankenakte als Beruf „Büglerin“.

Margarete Kusterer wurde nach zwei Monaten wieder nach Hause entlassen. Die Diagnose: dementia praecox. Das ist eine damals übliche Bezeichnung für eine bestimmte Form der Schizophrenie. Schon im Dezember 1920 wurde sie erneut eingeliefert: jetzt in die „Heilanstalt“ Christophsbad in Göppingen. Von dort wurde sie im November 1922 als „ungeheilt“ in die „Heilanstalt“ Schussenried verlegt.

Was wissen wir über sie? Über ihr Leben bis 1920 gar nichts, außer dass sie evangelisch getauft und unverheiratet war. Und für die Zeit danach? In den Krankenakten gibt es nicht einmal zu ihrem möglichen Aussehen verlässliche Angaben: hatte sie braune oder graue Augen, schwarze oder dunkelblonde Haare, war sie 1,62m oder 1,50m groß? Wog sie in Christophsbad noch 50 kg, und stand sie am Ende in Schussenried mit 36,5 kg vor dem Hungertod?

Wir wissen nichts über Schwere und Verlauf ihrer Krankheit; nichts über ihren Umgang mit Mitpatienten, Pflegern und Ärzten; nichts über ihre Gefühle und Gedanken; nichts darüber, ob sie von Angehörigen besucht worden ist, ob sie Briefe geschrieben, Post bekommen hat. Wir haben kein Foto von ihr. Wir wissen nicht, ob sie Geschwister gehabt hat und was aus ihren Eltern geworden ist.

Nur eines wissen wir genau: Margarete Kusterer ist, 49 Jahre alt, am 23. August 1940 mit einem der grauen Busse von Schussenried nach Grafeneck abtransportiert und dort noch am gleichen Tag ermordet worden.


Zukunft braucht Erinnerung: Stolpersteine erinnern und mahnen.

Stolpersteine erinnern an die zahllosen Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Die 10 x 10 cm großen Betonwürfel werden in den Asphalt bzw. die Steinplatten von Bürgersteigen eingelassen. Sie tragen eine Messingtafel mit den Lebensdaten und dem Hinweis „Hier wohnte…“. Damit erinnern sie an die Gemordeten dort, wo deren letzter frei gewählter Wohnsitz war.

Die Verlegung von Stolpersteinen ist ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig, der seit 1997 schon weit über 20.000 dieser Kleindenkmale verlegt hat: in Deutschland vor allem, aber auch in den Niederlanden, in Belgien, Norwegen, Ungarn, Österreich, Tschechien und Italien.

In Stuttgart gibt es flächendeckend für alle Stadtbezirke 15 Stolperstein-Initiativen, die bis heute (Oktober 2010) 524 Steine verlegt haben. Ihre Recherchen gelten Menschen in ihrer Nachbarschaft, die verfolgt, drangsaliert, ausgeplündert und ermordet wurden. Die Stolpersteine sollen dazu beitragen, dass die Opfer nicht länger nur eine bloße Zahl in der unvorstellbaren Anzahl Ermordeter bleiben, sondern ihren Namen und ihre Biografie zurück erhalten.

Stolpersteine zeigen, dass nicht anonyme Massen, sondern einzelne Menschen deportiert und vernichtet wurden. Indem wir von ihrem Schicksal erfahren, können wir für die Gestaltung unserer Zukunft lernen. Indem wir uns bücken, die Texte von Stolpersteinen zu lesen, verbeugen wir uns dabei unwillkürlich auch vor den Opfern.

Recherche und Text: Dr. Wolfgang Harder und Elke Martin, Initiativkreis Stolpersteine für Stuttgart-Nord (www.stolpersteine-stuttgart.de)

Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, Bundesarchiv Berlin, Gedenkstätte Grafeneck, Stadtarchiv Stuttgart.

Verantwortlich: Dr. Wolfgang Harder, Im Schüle 12, 70192 Stuttgart,
Tel. 0711/ 259 88 67, E-Mail <wolfgang.harder@arcor.de>