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Ludwig Löb, Breitscheidstr. 108

Ein Stolperstein für einen frühen Gegner Hitlers

Vor 90 Jahren: Die Nazis verhaften Tausende politische Gegner. Einer davon ist Ludwig Löb, der seinen politischen Widerstand mit dem Leben bezahlt.

Ludwig Löb war ein Stuttgarter Kaufmann, Familienvater und engagierter Sozialist. Vermutlich gehörte er der SPD an; Mitgliederlisten sind aus jener Zeit jedoch kaum erhalten, da die Partei selbst sie im Frühjahr 1933 zum Schutz ihrer Anhänger vernichtete. Zahlreiche Akten des Innenministeriums, die frühen Inhaftierungen betreffend, verbrannten gegen Ende des Krieges bei einem Luftangriff auf Stuttgart.

Geboren wird Ludwig Löb am 8. Juni 1969 in Sprendlingen, Rheinhessen, wo bis 1933 eine starke jüdische Gemeinde besteht. Sein Bruder Isaak wirkt als Kantor in der dortigen Synagoge; sein Leben endet 1942 in Theresienstadt. Ludwig kommt offensichtlich kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Stuttgart, wo er zum ersten Mal im Adressbuch von 1914 als „Kaufmann“ mit einem „Agenturgeschäft“ in der Hegelstraße 23A registriert ist; nach der Familienerinnerung handelte er mit chemischen Produkten, die unter anderem zur Herstellung von Aspirin nötig sind.

Er nimmt am Ersten Weltkrieg teil und wird mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Vor oder während des Krieges begegnet er Frida Link, 1893 in Stuttgart geboren und bereits seit 1900 in der Militärstraße (der heutigen Breitscheidstraße) Nr. 108 wohnhaft. Sie ist nicht jüdischen, sondern evangelischen Glaubens, und für ihre Zeit sehr modern denkend, was Partnerschaft und Lebensführung betrifft. Wie Ludwig liebt sie es, die Oper im neuen prächtigen Littmann-Bau zu besuchen. Sie haben zusammen vier Kinder: zwei Mädchen und zwei Jungen, geboren 1919 bis 1926. Der Sohn Rudolf erinnert sich später, dass seine Mutter einmal alle Kinder zu einem Park oder einem Sportverein geführt habe, wo sie sich unbekleidet im Freien bewegen konnten, was sich ihnen als Kontrast zu den Normen der Gesellschaft sehr einprägte.

Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler, Vorsitzender der NSDAP, von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. In der Folge dienen Notverordnungen, unter anderem jene zur sogenannten „Schutzhaft“ (zum angeblichen „Schutz von Volk und Staat“) dazu, politische Gegner zum Schweigen zu bringen. Noch steht für den 5. März eine nach außen demokratische Reichstagswahl an, bei der SPD und KPD schließlich zusammen 30 Prozent der Stimmen erhalten. Doch die Diktatur ist nicht mehr aufzuhalten.

Tausende Gegner der Nationalsozialisten werden in „Schutzhaft“ genommen, darunter auch Ludwig Löb, der als Sozialist vermutlich bereits auf geheimen Listen stand. Sehr wahrscheinlich bringt man ihn zunächst ins Lager Heuberg in Stetten am kalten Markt, wo zahlreiche Regimekritiker inhaftiert sind, darunter Ulrich Roßmann, Vorsitzender der württembergischen SPD und Mitglied des Reichstags, Kurt Schumacher, nach dem Krieg Parteivorsitzender der SPD, und Fritz Bauer, ebenfalls SPD-Mitglied und jüngster Amtsrichter Deutschlands. Aus der Emigration zurückgekehrt kämpft Bauer später gegen das Verschweigen und Vertuschen und bereitet die Frankfurter Auschwitz-Prozesse vor.

Nachdem einige Inhaftierte nach erzwungenen Bekenntnissen zum neuen Regime freikommen, verbringt man die anderen ins Lager Oberer Kuhberg bei Ulm oder nach Dachau. Ludwig Löb bleibt bis zum Sommer 1935 in Haft; man entlässt ihn im Rollstuhl sitzend, schwerkrank nach einem Herzinfarkt und zahlreichen Misshandlungen. Gerade die jüdischen Häftlinge sind in den Lagern besonderen Drangsalierungen ausgesetzt. Kaum bei seiner Familie in der Militärstraße 108 angekommen, stirbt er am 30. Juni 1935, 66-jährig.

Auch Ludwig Kinder leiden unter der von den Nazis angefachten antisemitischen Stimmung; laut den im Herbst 1935 verabschiedeten Nürnberger Gesetzen gelten sie als „Mischlinge 1. Grades“ und werden von weiterführenden Schulen ausgeschlossen. Der ältere Sohn Hans kann 1936 noch die Schloss-Realschule mit der Mittleren Reife verlassen, der jüngere Sohn Rudolf wird abgewiesen mit der Begründung, dass er ja doch keine Chance habe, später einen adäquaten Beruf auszuüben. In Rudolfs Wiedergutmachungs-Akten im Staatsarchiv Ludwigsburg findet sich eine erschütternde Schilderung der Demütigungen, die er erfahren hat, auch sein Bruder sei einige Male „weinend und hoffnungslos nach Hause“ gekommen. Zu den „seelischen Brutalitäten“ gehörte, erinnert sich Rudolf, dass bei einer Flaggenhissung am Staatsjugendtag der Direktor der Schloss-Realschule, ein SS-Offizier, und 200 Schüler in ihrer „schmutzigbraunen Uniform“ antraten und dabei ihre Blicke gehässig auf den einen uniformlosen Mitschüler richteten: „die Juden sind unser Unglück“. Rudolf resümiert: „Ein junger Mann 14 oder 15 Jahre alt, kann nur so viel nehmen und nicht mehr.“

Rudolf besucht die Hauptschule, später die Höhere Handelsschule, wo nicht ganz so „fanatische Nazis“ anzutreffen waren, wie er schreibt. 1942 muss er jedoch auch diese Schule verlassen und eine Schreinerlehre beginnen. Im Herbst 1944 wird er zusammen mit seinem Bruder und rund siebzig weiteren Männern aus Stuttgart nach Wolfenbüttel in ein eigens für sie eingerichtetes „Mischlingslager“ geschickt. Dort müssen sie in schwerer körperlicher Arbeit Wassergräben entlang einer Bahnlinie ausheben. Vermutlich gehörte diese Maßnahme zum V2-Projekt, der im unterirdischen Lager Mittelbau-Dora verfolgten Arbeit an „Hitlers Wunderwaffe“, die noch den Sieg bringen sollte. Zwei der in Wolfenbüttel Inhaftierten werden später wegen ihres Engagements für die deutsch-jüdische Aussöhnung mit der Otto Hirsch-Medaille der Stadt Stuttgart ausgezeichnet: Heinz M. Bleicher und Frank Majer-Leonhardt. Es hat sich ein Foto erhalten, das diese beiden zusammen mit Rudolf und Hans Link auf einer inszenierten Weihnachtsfeier im Wolfenbütteler Bahnhof zeigt.

Nach dem 8. Mai können die Brüder nach Stuttgart zurückkehren, im Herbst 1946 emigrieren sie in die USA, nachdem Rudolf noch die Mittlere Reife nachgeholt hat. In den USA macht er das Abitur und studiert Psychologie. Anfang der fünfziger Jahre holen Rudolf und Hans die Mutter Frida nach; die Enkelin Ramona, Rudolfs Tochter, bewahrt noch viele Erinnerungen an ihre „German Oma“, die gerne von der Johanneskirche am Feuersee erzählte oder von den Straßenbahnfahrten zum Stadtbad Cannstatt. Das neue Leben in den USA ist für beide Brüder zunächst hart, die Universitätsausbildung kostet Geld und das Stuttgarter Amt für Wiedergutmachung scheint die Dringlichkeit des Anliegens nicht zu erkennen. So manche bürokratische Nachfrage weckt bei Rudolf die Erinnerung an die erlittene Erniedrigung. In dem bereits zitierten Brief von 1954 an das Landesamt für Wiedergutmachung bekennt er, dass er es kaum aushalte, „diese zehn oder zwölf Jahre nochmals durchzuleben und wenn es auch eine Schilderung auf dem Papier ist. Wenn ich heute zurueckblicke, kann ich es kaum glauben, dass so was moeglich war, und es macht mich beinahe uebel, daran zu denken.“ Und könne man, fragt er, „von Wiedergutmachung reden für all die Leiden, für all die verlorenen Jahre? Ich habe nur ein Leben zu leben, Nazis haben in mein Gesicht gespuckt, kann jemand das vergessen?“

Vielleicht wird er nicht zufällig Psychiater, mit großer Hingabe an seine Profession. Sein Bruder Hans macht als Krankenhausmanager Karriere. Beide werden über 90 Jahre alt, kehren auch einmal nach Deutschland zurück, allerdings nicht nach Stuttgart. Das dort Erlebte und Erlittene wird abgekapselt und mit Schweigen belegt. In Deutschland gilt ein Gefängnisaufenthalt während der Nazizeit lange als „Schande“, über die man nicht spricht, obgleich die Gründe meist ehrenwert waren. Als Ramona mit Recherchen zu ihrem Großvater Ludwig Löb beginnt, reagiert ihr Vater Rudolf zunächst abweisend; schließlich aber dankt er ihr dafür, dass sie ihm „seinen Vater zurückgegeben habe“.

Noch eine kleine Anmerkung zum Verlegeort. Einen besonderen Bezug zum Leben Ludwig Löbs findet sich darin, dass die „Militärstraße“ nach dem Krieg in „Breitscheidstraße“ umbenannt wurde. Der Namensgeber Rudolf Breitscheid, SPD-Mitglied, setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg für die Aussöhnung mit Frankreich ein, was ihm den besonderen Hass der Nationalsozialisten eintrug. 1933 emigrieren Breitscheid und seine Frau nach Frankreich, werden jedoch 1941 vom Vichy-Regime an die Gestapo ausgeliefert. Beide sind in mehreren Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert. 1944 stirbt Breitscheid bei einem amerikanischen Luftangriff auf das KZ Buchenwald. Verantwortlich für seinen Tod sind jedoch jene, die bis zum Schluss in fanatischer Verblendung all jene verfolgten, die sich für demokratische Prozesse und religiöse Toleranz einsetzten.

Die Stolpersteinverlegung vor der Breitscheidstraße 108 fand am 18. Oktober 2023 um 10 Uhr morgens in Anwesenheit von dreizehn Angehörigen statt, die eigens dafür aus den USA aus den USA anreisen: drei EnkelInnen und sechs UrenkelInnen von Ludwig Löb mit Begleitung, die auch schon an der Matinee am Sonntag zuvor im Staatstheater Stuttgart teilgenommen hatten als die Stolperstein-Initiativen auf 20 Jahre Stolpersteine für Stuttgart zurückblickten.

Recherche & Text: Susanne Stephan, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West