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“Finny” oder “Fanny” Strecker, Rosenbergplatz 2

Stolpersteinverlegung am 4. März 2022, Rosenbergplatz 2 für Frau Finny (oder Fanny) Strecker

Daten:
Anna Josepha Maria (‘Finny’ oder ‘Fanny’) Strecker, geb. Unteregger.
Tochter des Basler Buchdruckers Hannibal Josef Hermann Unteregger und der Maria Johanna Unteregger, geb. Ganahl.
– geboren am 19. März 1871 in Altstätten, Kanton Sargans, Schweiz
– verheiratet seit dem 28. September 1896 mit Heinrich Wilhelm Strecker, Mitbesitzer der Stuttgarter Buchdruckerei Strecker & Schröder
– ermordet am 4. Juni 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck, Deutschland.

Nachdem der gesundheitliche Zustand Frau Streckers laut Krankenakten immer unauffällig ist, entwickeln sich bei ihr nach der Geburt des vierten Kindes ‚verträumte, versonnene Episoden’, die ab Juni 1908 in Wahnvorstellungen übergehen. Am 12. September 1908 unterschreiben daher ihre Mutter und ihr Mann die Einweisung in die private Heilanstalt Kennenburg. Die Diagnose des einweisenden Arztes Dr. Hugo Levi lautet Dementia paranoides, eine Krankheit, die heute als Sonderform der Schizophrenie eingestuft wird.

Bei ihrer Einweisung ist Frau Strecker 37 Jahre alt. Ihr Sohn Hannibal ist zehn Jahre, ihre älteste Tochter Fanny acht, Tochter Erna drei und die jüngste Tochter Hanni ein Jahr alt.

Was bedeutete Frau Streckers Krankheit?
Die Krankheit mit ihren Symptomen wurde das erste Mal 1893 als ‚Dementia praecox’ spezifiziert, war also zum Zeitpunkt von Frau Streckers Erkrankung noch recht neu als solche identifiziert. Beobachtet bei den Patient*Innen wurde ein ‚eigenartiger geistiger Schwächezustand mit Halluzinationen, Wahn und Erregungszustände.’ Weitere Symptome der Krankheit sind:
•    mangelnde Initiative
•    Antriebslosigkeit
•    Verminderung der emotionalen Erlebnisfähigkeit
•    sozialer Rückzug
•    Unruhe
•    leichte Ablenkbarkeit
•    Sprach- und Denkstörung
•    Reizüberempfindlichkeit (bspw. auf Berührungen, Licht und Geräusche)
•    akustische Halluzinationen (Hören von Geräuschen, Musik meist negativen Kommentaren, die das eigene Handeln kritisieren und kommentieren, sowie Handlungsbefehle)
•    Wahnvorstellungen, beobachtet oder bedroht zu werden.

Bis in die Neuzeit wurden die Erkrankten oft geschlossen interniert, fernab von jedweden geistigen, intellektuellen oder sozialen Impulsen. Dies geschah, obwohl die betroffenen Menschen geistig noch durchaus rege waren und in klaren Momenten ansprechbar. Die geistige und soziale Isolierung, die andauernde psychische Belastung durch fehlende Zukunftsperspektiven führte zu einer denkbaren Verschlechterung des Zustandes der Kranken. Oft resignierten sie, verloren jede Hoffnung und Perspektive, waren apathisch, zeigten keinerlei Mimik mehr, verloren zusehends ihre Sprach- und Ausdrucksfähigkeit, ihr Denkvermögen verlangsamte sich. Oft endeten sie in totaler Resignation und in einer chronischen depressiven Verstimmung.

Die Unterbringung und Behandlung schizophrener Patient*Innen vor allem in den großen Krankenhäusern war unbefriedigend, in Teilen inhuman. Die ‚Behandlungen’ waren eher auf Verwahrung, denn auf die Behandlung die Erkrankten ausgelegt. Da die Heilanstalten zudem kaum auf die Betreuung chronisch Erkrankter eingerichtet waren, gewann der Verwahrungsaspekt zusätzliche Bedeutung. Oftmals waren die Antworten auf eine derartige Überforderung der Heilstätten bzw. Krankenhäuser Ruhe und Insolation. Hierzu gehörte auch die Bettbehandlung, d.h. der Zwang zur Bettruhe. Zusätzlich isoliert wurden die Erkrankten durch die Trennung von den Familienangehörigen. Diese Trennung war Teil der Therapie, da man glaubte, dass die Ursachen von Schizophrenie auch in der Familie zu suchen seien.
War man Anfang des 20. Jahrhunderts einigermaßen hilflos was die Behandlung von Schizophrenie oder aber auch das Verhindern des Krankheitsbildes anlangt, so konnte man bis heute keine einheitliche Ursache für Schizophrenie feststellen. Abweichende Gehirnfunktionen oder organische Befunde sind als unklar zu deuten.

Briefe aus Frau Streckers Zeit in der Heilanstalt Kennenburg zeugen von ihrer zunehmenden Verzweiflung über ihre isolierte Situation und vor allem darüber, ihre Kinder nicht sehen zu dürfen („Ich möchte nur einmal sehen, was denn die Kinder tun. Vergessen sie auch ihre Mamma nicht? Machen sie auch nette Fortschritte in der Schule? Erika kann gewiss schon viel sprechen.”) Frau Strecker beschäftigt sich in Kennenburg mit dem Lesen von Büchern, die ihr ihr Mann bringt oder mit kleineren Handarbeiten, die ihr von ihrer Familie geschickt werden (bspw. Ausbesserung von Kleidungsstücken der Kinder). So behält sie ein klein wenig Kontakt zu ihren Kindern und der Familie. Anschluss an andere Patientinnen möchte sie nicht finden. Oder findet sie nicht. Das Verhältnis zu den Ärzten schildert sie als wenig vertrauensvoll („ ….gestern ist wieder ein sog. junger Arzt vorgestellt worden, ein ganz junger Schnaufer, der trotz seinem Zwicker aussieht als ob er nicht auf 5 zählen konnte….”), den Behandlungsmethoden steht sie kritisch gegenüber („Nun haben sie wieder mit Fichtennadelbädern oder Salz angefangen. Habe schon 3 machen müssen, wie gern kannst du dir denken.”)

Mitte August 1909 verbringt Familie Strecker einen gemeinsamen Urlaub in Gausmannsweiler, um auszutesten, wie Frau Strecker auf ein Leben außerhalb der Anstalt reagieren würde. Ihr Mann beschreibt seine Ehefrau als ruhiger, präsenter und zugänglicher. Er hegt vage Hoffnung, dass es seiner Frau nun dauerhaft besser gehen würde.

Nach dem geglückten Urlaub wird Finny Strecker am 31. August 1909, also knapp ein Jahr nach ihrer Einweisung, entlassen, und zieht nach fast einjährigem Aufenthalt in der privaten Heilanstalt Kennenburg zurück in die Wohnung am Rosenbergplatz 2.

War die Hoffnung des Ehemannes auf die Gesundung seiner Ehefrau begründet?
Leider nicht, denn die gesundheitlichen Verbesserungen waren nicht von Dauer. Am 16. Februar 1910, knapp fünf Monate nach ihrer Entlassung aus der Heilanstalt Kennenburg, wird Frau Strecker erneut in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, dieses Mal in die staatliche Anstalt Weinsberg. Knapp drei Monate später, am 27. Mai 1910, wird sie wieder entlassen. Ein knappes Jahr später, am 22. März 1911, wird sie wieder nach Weinsberg eingewiesen, wo sie, jetzt 40 Jahre alt, den Rest ihres Lebens bleiben wird.

29 Jahre nach ihrer Einweisung nach Weinsberg wird Frau Strecker am 4. Juni 1940 als unbehandelt aus der Heilanstalt Weinsberg entlassen, von der Gemeinnützige Krankentransport GmbH abtransportiert und in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht. Dort wird sie (vermutlich noch am gleichen Tag) in den eigens errichteten Barracken vergast, ihre Leiche in den ebenfalls eigens erbauten Brennöfen verbrannt. Damit wurde Frau Strecker ein Opfer der sog. ‚Aktion T4’, benannt nach der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo sich die Zentraldienststelle zur Koordinierung der Krankenmorde, dem systematischen Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen, befand. Bis 1945 fielen etwa 200.000 Menschen diesen Krankenmorden zum Opfer.

Silke Henkele