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Clara und Alfred Hamburger, Feuerlenstr. 4

Alfred und Clara Hamburger geb. Katz stammten aus Reutlingen, wo sie das renommierte Konfektionshaus Lederer in der Wilhelmstraße 110 geführt hatten. Clara Hamburger geb. Katz wurde am 11.10.1884 in Hammelburg geboren, Alfred Hamburger am 10.1.1881 in Aschaffenburg. Sie heirateten im Jahr 1919 in Würzburg.
Für Clara war es die zweite Ehe; ihr erster Mann, Gustav Hirsch, war im Juni 1917 als Soldat im 1. Weltkrieg gefallen. 1908 hatte er das Textilgeschäft in Reutlingen vom Firmengründer Eduard Lederer übernommen. Eduard Lederer zog nach Heilbronn, wo er ebenfalls ein Bekleidungsgeschäft führte und sich zugleich in der jüdischen Gemeinde engagierte, die es in dieser Form in Reutlingen nicht gab. Er wurde am 20. August 1942 vom sog. Jüdischen Altersheim in Sontheim über Stuttgart nach Theresienstadt deportiert, wo er bereits am 14. September 1942 starb.
Aus der Ehe von Clara und Gustav Hirsch stammte der 1908 geborene Sohn Walter, der in Reutlingen eine gewisse Berühmtheit erlangte als Dandy, Sozialdemokrat und – nach seiner Rückkehr aus dem Exil – erbitterter Ankläger. Aus der Ehe von Clara und Alfred Hamburger stammte der am 20.3.1921 in Tübingen geborene einzige Sohn Erich.
Bis in die dreißiger Jahre galt „E. Lederer Nachfolger“ als das größte Spezialgeschäft am Platze, so für Bleyle-Anzüge. In dem Band “Es gab Juden in Reutlingen” wird eine ältere Reutlingerin zitiert, die sich noch an Gustav Hirsch erinnert: „Das sind so nette Leut‘ gewesen. Wir haben immer bei denen eingekauft. (…) Meine Buben haben immer Bleyle-Anzüge gekriegt, und die hat man bei “dene Jude gekauft. Der Herr Hirsch, der isch gfalle. Weil mir des so weh getan hat, nachher, als sie über die Juden so geschumpfen haben, die Brüder da.“ – In den zwanziger Jahren, also bereits unter Alfred Hamburger, hatte das Geschäft eine eigene Herren-Schneiderei und beschäftigte neun Mitarbeiter/innen.
Im Frühjahr 1933 begannen jedoch die antisemitischen Kundgebungen in der Wilhelmstraße und die Boykottaufrufe, die zu sinkenden Einnahmen führten. In Reutlingen war man offensichtlich sehr bemüht, rasch „judenfrei“ zu werden. Walter Hirsch, Clara Hamburgers Sohn aus erster Ehe, wurde im Frühjahr 1933 in „Schutzhaft“ genommen und wenig später mit seiner „arischen“ Verlobten Erna Schimmel ins Exil getrieben, nachdem man mehrmals, auch durch Arrestierung von Erna, versucht hatte, das Heiratsaufgebot zu verhindern. Walter und Erna Hirsch kehrten 1945 nach Reutlingen zurück, ohne recht Fuß fassen zu können und ohne Genugtuung für die erlittenen Drangsalierungen zu erfahren. Walter Hirsch engagierte sich für andere Verfolgte des Nazi-Regimes, die Ehe mit Erna zerbrach jedoch an der psychischen Belastung der Rückkehr, mehrere Geschäftsprojekte scheiterten. In Ulm, wo Walter Hirsch ein Teppich- und Textilgeschäft eröffnet hatte, wurde 1958 während des dort stattfindenden Einsatzgruppenprozesses sein Schaufenster mit Hakenkreuz und Davidstern beschmiert. Er starb 1961, erst 53 Jahre alt, in großer Einsamkeit in Stuttgart.
Erich Hamburger, der Sohn aus zweiter Ehe, musste im September 1935 die Wirtschaftsoberschule verlassen. „Mein Lehrer brachte mir mein Zeugnis in meine Wohnung, weil ich die Schule nicht mehr betreten durfte“, schreibt er in seinem Antrag auf Entschädigung. Die Hamburgers beschlossen, ihr Geschäft ganz aufzugeben. Das Gebäude Wilhelmstraße 110 wurde verkauft, um die Emigration ihres Sohnes zu bezahlen, der allerdings erst im Frühjahr 1939, mit dem 18. Geburtstag, in die USA auswandern konnte. Den Eltern war ein Verlassen von Deutschland wohl deshalb unmöglich, weil Clara wegen ihrer schweren Zuckerkrankheit kein Visum für die USA erhielt. Erich Hamburger starb 1973 in Fort Lee/New Jersey; er hinterließ zwei Kinder, mit denen die Stolperstein-Initiative Kontakt aufnehmen konnte.
Erna Hirsch erinnert sich an ihre Schwiegermutter als eine „stattliche Frau, die langsam und freundlich sprach, keinem wehtun wollte“ (so hat es Kurt Oesterle festgehalten), aber es lieber gesehen hätte, wenn ihr Sohn eine Jüdin geheiratet hätte. Dennoch wurde Erna zum Sabbat-Beginn am Freitagabend bei den Hamburgers eingeladen und von diesen auch bei einer jüdischen Familie in Stuttgart untergebracht, wo sie mit den religiösen Gebräuchen vertraut werden sollte. Walter und Erna Hirsch wurden in ihrem Exil in Spanien weiter von Alfred Hamburger unterstützt.  
Nach dem Verkauf des Hauses und der Geschäftsauflösung in Reutlingen zogen die Hamburgers Ende Januar 1936 nach Stuttgart, wo die Situation für jüdische Bürger wohl noch erträglicher war als in Reutlingen. Dort bezogen sie eine Erdgeschosswohnung im neu errichteten Wohnhaus in der Feuerleinstraße 4 in Stuttgart-West. Das Haus hatte sowohl einen jüdischen Bauherrn, den Strickwarenfabrikanten Philipp Weil, als auch jüdische Architekten: Oskar Bloch und Ernst Guggenheimer, die vor allem durch das Jüdische Waisenhaus in Esslingen und die Erweiterung der Eiernest-Siedlung bekannt geworden waren. Nach dem Krieg plante Ernst Guggenheimer die Neue Synagoge.
Alfred Hamburger, jetzt 55 Jahre alt, lebte in Stuttgart von seinem Vermögen, das aber durch zahlreiche „Judenvermögensabgaben“ dahinschwand: so mussten alle jüdischen Bürger nach der Pogromnacht 9./10.11.1938  20% ihres angemeldeten Geld- oder Aktienbesitzes als „Sühneleistung“ abführen. Später mussten sie sämtliche Gegenstände aus Edelmetall ins Pfandleihhaus tragen (die Entschädigungsakten dokumentieren: Im Fall der Hamburgers handelte es sich um Objekte im Wert von 3000 Reichsmark). Alfred Hamburger arbeitete ein Jahr lang gegen ein geringes Entgelt bei der Jüdischen Zentralkasse.  
1939 mussten sie die Wohnung in der Feuerleinstraße verlassen und in ein sog. „Judenhaus“ in der Werfmershalde 12 ziehen, ein Jahr später in ein ähnliches Haus in der Hohenstaufenstraße 17. Laut Erna Hirsch hat Walter Hirsch nach dem Krieg von einem Nachbarn der Hamburgers erfahren, dass ein SA-Obersturmbannführer aktiv beteiligt gewesen sein soll, die Hamburgers aus der Feuerleinstraße zu vertreiben; auch soll er das Ehepaar dabei bestohlen haben. Wie in ähnlichen Fällen dokumentiert, wurde die wertvolle Wohnungseinrichtung sehr wahrscheinlich geplündert oder versteigert. Das restliche Vermögen fiel an die Reichshauptkasse.
Einen großen Betrag (11 000 Reichsmark) wandten die Hamburgers für den sogenannten „Heimein-kaufsvertrag“ für Theresienstadt auf, in der Hoffnung, dort in Ruhe ihren Lebensabend verbringen zu können. Am 22.8.42 wurden sie nach Theresienstadt deportiert; Tage zuvor hatten sie, wie ca. 1000 andere jüdische Bürger, die Anweisung erhalten, sich mit Koffern auf dem Killesberg einzufinden. Die zuckerkranke Clara Hamburger erlag kurz nach Ankunft in Theresienstadt, am 21.9.42, den unmenschlichen Bedingungen im Konzentrationslager. 25% der Deportierten haben die ersten sechs Wochen in Theresienstadt nicht überlebt, auch, wie eingangs erwähnt, Eduard Lederer, der Gründer des Geschäftes in Reutlingen. Das Todesdatum von Alfred Hamburger ist der 23.1.44.

Recherche: Susanne Stephan, Stolpersteininitiative Stuttgart-West

Quellen:
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 I, Bü 35597 (Clara Hamburger), Bü 35595 (Alfred Hambur-ger) und Bü 35596 (Erich Hamburger).
Materialsammlung von Bernd Serger und Karin-Anne Böttcher im Reutlinger Stadtarchiv, Bestände S 74 und S 145/12
„Die Familien Lederer, Hirsch und Hamburger. Lange blieb es einfach der Lederer. Die Geschichte des alteingeführten Textilhauses in der Wilhelmstraße 110“, in: Bernd Serger/ Karin-Anne Böttcher, Es gab Juden in Reutlingen, Reutlingen 2005, S. 123ff.
Kurt Oesterle, „Rettende Flucht, bittere Heimkehr. Die Geschichte des Reutlinger Emigrantenpaares Erna und Walter Hirsch“, in: Reutlinger Geschichtsblätter NF 34 /1995, S. 125ff., basierend auf einer Artikelserie im Schwäbischen Tagblatt im Sommer 1995.
Geschäftsanzeigen des Konfektionshauses Lederer 1933 bis zur Geschäftsauflösung 1935 im Reutlinger General-Anzeiger (aus dem Materialordner von Serger/Böttcher im Reutlinger Stadtarchiv).