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Blume und Chaim Lehrmann, Christophstr. 41

Wie man auf den alten Fotografien sehen kann, weisen schon Äußerlichkeiten die Lehrmanns als eine sehr fromme jüdische Familie aus. Es gibt kein Bild von Chaim Lehrmann, auf dem er ohne Kopfbedeckung zu sehen wäre. Alle Knaben tragen, auch wenn sie noch so klein sind, einen Hut oder eine Mütze. Auf diese Weise kann man zu jeder Zeit und an jedem Ort mit Gott sprechen, ihn um etwas bitten oder ihm danken, ohne die nötige Ehrfurcht vermissen zu lassen.

Die Familie besaß ein Weiß- und Wollwahrengeschäft, nach anderen Angaben eine Lumpenhandlung, in der Weberstraße 23. Diese einfache Berufstätigkeit schmälerte in keiner Weise das hohe Ansehen, das Chaim Lehrmann wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner praktischen Klugheit genoss. Ehrenamtlich war er Thoravorleser und Thoraschreiber. Vor allem die letzte Tätigkeit durfte nur jemand ausüben, an dessen tiefer jüdischer Gläubigkeit keinerlei Zweifel bestanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründete Chaim mit seinen Brüdern David und Josef die Vereinigung „Esras Achim“, einen Zusammenschluss streng thoratreuer (orthodoxer) Ostjuden, die nicht nur am Sabbat und an Feiertagen, sondern täglich morgens und abends Gottesdienste abhielten. Obwohl Chaim mit seinem Bruder David im Ersten Weltkrieg als Frontkämpfer diente, konnte er sein Leben in der Zeit der Verfolgung nicht retten. Zusammen mit seiner Frau Blume wurde Chaim Lehrmann am 28. Oktober 1938 nach Polen abgeschoben. Beide sind in der Deportation ums Leben gekommen, im Gedächtnis ihrer Nachkommen leben sie aber weiter, wie der beeindruckende Nachruf des Sohnes Chanan zeigt. Stolpersteine vor ihrer Wohnung im Haus in der Christophstraße 41 sollen auch in Stuttgart an sie erinnern.

Recherche und Text: Franz Hergenröder
Text von Prof. Dr. Chanan Lehrmann aus dem Buch von Maria Zelzer “Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden,”  S. 272

Finanzierung: Initiative Stolpersteine Stuttgart-Ost.
  

NACHRUF AUF MEINE ELTERN – Prof. Dr. Chanan Lehrmann, Rabbiner zu Berlin (1)

Chaim und Blume LehrmannSie waren einfache, bescheidene, in religiösem Sinne demütige Menschen, ohne soziale Ambitionen und sonstige Ansprüche an das Leben als nur den, das irdische Dasein ehrenhaft zu bestehen, seine Forderungen gewissenhaft zu erfüllen, den Wortlaut und den Geist der zehn Gebote zu beherzigen und diese Prinzipien auch ihren neun Kindern, die sie großzogen, einzuprägen.
Mein Vater – der Name bezeugt es – stammte aus einer Gelehrtenfamilie, die sich seit Generationen durch Lernen und Lehren auszeichnete. Doch wollte er selber aus seiner Wissenschaft keinen Broterwerb machen und verdiente den Lebensunterhalt für seine zahlreiche Familie als kleiner Kaufmann, immer zufrieden mit dem, was der Tag ihm brachte, ganz im Sinne des Psalmisten: Gelobt sei Gott Tag um Tag! Vor allem war er darauf bedacht, täglich einige Stunden aufzusparen für das persönliche Talmudstudium mit seinen Kindern, wiederum im Geiste der Bibel, die da sagt: „Du sollst die Gotteslehre deinen Kindern einschärfen“, das heißt: Du selbst sollst es tun und deine Verantwortung und Verpflichtung nicht ganz auf eine bezahlte Hilfskraft abwälzen. Ja, er nahm es ernst mit dem tieferen Sinn der Schrift, deren Wortlaut er buchstäblich auswendig kannte. Sabbat um Sabbat las er aus der heiligen Pergamentrolle, die er manchmal selber mit kunstreicher Schrift bemalt hatte, den wöchentlichen Thora-Abschnitt beim Gottesdienst in der kleinen Synagoge, die er in seinem Haus in der Christophstraße eingerichtet hatte für Gleichgesinnte, welche kompromisslos das Gesetz Mosis erfüllten.

Unter diesen schlichten, „ehrlichen Juden“ gab es keine Scheinheiligen mit doppelter Moral, keine „Gefärbten“, die durch ostentative Frömmigkeit ihre Mitmenschen irreführen und unter dem Deckmantel prahlerischen Glaubenseifers ihre moralische Primitivität und ihren unsauberen Lebenswandel verbergen.
Zusammen mit seinen älteren Brüdern David, dem begnadeten Vorbeter, dem „Minnesänger Gottes“, und Josef, dem überragenden Talmudgelehrten, leitete mein Vater jahrzehntelang diese tapfere Religionsgemeinde frommer, guter Menschen, die ihren patriarchalisch strengen Sitten und Gebräuchen bis zum unverschuldet bittern Ende treu geblieben sind. Niemals in ihrer ganzen Geschichte hat die jüdische Religion eine echtere Verkörperung gefunden als in solchen Gestalten wie die meines Vaters, welcher bei aller Verwurzelung im überzeitlichen keineswegs weltfremd war, sondern den Anforderungen des praktischen Lebens vollauf gewachsen blieb, ohne aber jemals einen materiellen Vorteil durch das geringste Abweichen vom rechten Wege erkaufen zu wollen. Seine Ganzheit und Geradheit ließ ihn alles Unrechte verabscheuen; weit öfter aber als durch Zorn bekämpfte er es durch schalkhaften Witz und einen sprühenden, wahrhaft göttlichen Humor.

In dieser Haltung wie in der ganzen Rechtschaffenheit, mit der er das Leben für sich und seine große Familie meisterte, stand ihm eine Gefährtin zur Seite, deren Energie, Mut, Gewandtheit in praktischen Fragen, Uneigennützigkeit und Aufopferung vom heitersten Naturell getragen waren. Das Leben dieser Frau, von unerschöpflicher Vitalität trotz vieler Krankheiten, war das einer Heiligen und wirkte auf ihre Umgebung wie ein Beispiel, das man zum Vorbild nehmen, aber nicht nachahmen konnte.
Ihre neun Kinder aufziehen – eines schwieriger als das andere -, das bedeutete noch nichts. Sie alle ernähren und kleiden, als der Hausvater während des ersten Weltkrieges zum Kriegsdienst eingezogen war, das war noch nicht alles. Sie fand selbst in diesen Jahren noch Zeit, ihren Nachbarn zu helfen, Kranke zu betreuen, Arme aufzurichten, und dies nicht etwa mit bloßen Worten. Worte dienten ihr eher dazu, durch einen Scherz ihre Hilfstätigkeit zu bagatellisieren. Brachte ihr Gatte am Freitagabend ein, zwei, manchmal drei Durchwanderer nach Hause, so sagte sie: Noch ein Gast? Nun, dann tu ich noch ein paar Löffel Wasser in die Suppe!

Diese Frau war ein Sturzbach von Menschenliebe, der göttlichen Urquelle entsprungen. Ihr Glaube war von jener Art, die Berge versetzt, dieweil wir modernen Aufgeklärten ihn manchmal von oben herab als absurd, als Fanatismus bezeichnen. War es kein Fanatismus, in jenen entbehrungsreichen Jahren des ersten Weltkrieges, als Kartoffeln und Kohlraben patriotischer Trumpf waren, nicht ein einziges Mal darauf verzichten zu wollen, am Sabbatbeginn für jedes der Kinder eine Kerze anzuzünden? Und sie wusste sich immer, weiß Gott wie, solche Kerzenstumpen zu beschaffen, denn diese kleine Zeremonie bedeutete für sie allwöchentlich die Erneuerung des mit Gott geschlossenen Bundes zur Behütung der Kinder von allem Bösen.

Wer konnte diesem Sturzbach der Liebe widerstehen, wenn es um das Wohl und Wehe eines Kindes ging? Selbst ein KZ-Kommandant war vor solcher Mutterliebe machtlos, denn als einer ihrer Söhne in das Lager auf dem Heuberg verbracht wurde, eilte sie dorthin, und ohne Geld, ohne Beziehungen, nur durch die Gewalt ihrer Tränen, vermochte sie ihn zu befreien. Und als schließlich die beiden alten Leute selber in Begleitung der jüngsten Tochter nach Polen deportiert wurden, verhalf ihr Elternsegen auch diesem Kinde, wie allen anderen Kindern vorher, zur Flucht aus dem Friedhof der sechs Millionen. Gott stand zu dem Bunde, den diese Frau mit ihm über den Sabbatlichtern geschlossen hatte. So konnte dieses Elternpaar seine Aufgabe erfüllen, konnte alle Kinder segnen, indem es ihnen durch Lehre und Leben die höchsten sittlichen Werte einprägte und sie damit zum eigenen schweren Lebenskampf ausstattete. Mit der Beendigung war auch das Leben der Eltern beendet, ohne dass es ihnen beschieden war, die Früchte der Bemühungen zu sehen, die Ernte einzubringen, sich am Gedeihen der Kinder zu erfreuen. Ein grausames Schicksal hält die alten, gebrechlichen Leute in den braunen Krallen. Sie schleppten Steine und ernähren sich von Kartoffeln und spärlichen Päckchen, die noch ab und zu durch alle Hindernisse den Weg zu ihnen finden. Mit den Rückschlägen an der Ostfront steigert sich die Bestialität der braunen Sadisten, und der Winter 1941/42, der letzte vor dem großen endgültigen Massaker, ist eine lange, entsetzliche Agonie im Kampf gegen Hunger, Kälte, Erschöpfung. Ein letzter Aufschrei, herzzerreißender als Hiobs Klage, doch keine Anklage gegen Gott, der dies zuließ, erreichte uns noch aus einer mit zitternder Hand geschriebenen Karte, und dann kamen keine Karten mehr.

Chaim und Blume LehrmannAch, ihr Schicksal ist ja nur das von sechs Millionen und erscheint dadurch in den Augen einer entarteten Welt als banal, ja als störend, weil man mit so viel Leid nichts anzufangen weiß. Und doch wird gerade am Einzelschicksal erkennbar, wie viel menschliche Werte zerstört worden sind. Die Handlanger und Helfershelfer jenes ruchlosen Regimes sind in einer wieder wohl geordneten bürgerlichen Welt  untergetaucht. Die Gutgesinnten aber können nicht oft genug aufgerufen werden, sich für die anonymen Schuldigen mitverantwortlich zu fühlen und dem keimenden Unrecht in jeder Gestalt von Anbeginn entgegenzutreten.

Vielleicht und hoffentlich wird dann die Menschheit wieder zu einer höheren Stufe von moralischem Verantwortungsbewusstsein in Frieden und Freiheit emporsteigen. Goethes Faust erlebt seine höchste Seligkeit „im Vorgefühl von solchem hohen Glück“. Wer aber den heiligen Lebensernst des auf so tragische Weise verschwundenen Ostjudentums gekannt hat, dem meine Eltern entstammten, der erfährt das Erhabene in der demütigen Erinnerung an einen Menschentypus, welcher in solch ethischer Vollendung kaum je wieder erreicht werden kann.

 

 (1) Maria Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, Stuttgart Ernst Klett Verlag 1964, S. 272 ff.

1. Foto: Blume und Chaim Lehrmann mit ihren neun Kindern ca. 1922 – aus Privatbesitz

2. Foto: Blume und Chaim Lehrmann mit Familienangehörigen vor ihrem Haus in der Christophstraße 41, ca. 1935 – aus Privatbesitz