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Antonie und Paul Oesterreicher, Birkenwaldstr. 105

Oesterreicher Paul u. Antonie MahnmalMahnmal von Thomas Felder auf dem jüdischen Friedhof in Buttenhausen. Die Eisenbahnschienen erinnern an 109 Opfer  des nationalsozialistischen Rassenwahns, darunter auch an Paul und Antonie  Oesterreicher.  Ein persönliches Foto von ihnen war in den Archiven leider nicht zu finden.
 

Kindheit und Jugend von Paul und Antonie Oesterreicher, ihre Elternhäuser.

Paul Oesterreicher ist am 18. Dezember 1879 in Prag geboren.  Seinen Familiennamen Stern hat er um 1900 aufgegeben und einen Nachnamen gewählt, der auf sein Geburtsland verweist.  Gründe für diesen Namenswechsel sind nicht bekannt.  Seine Eltern waren Elias Stern, Fabrikdirektor, und Julia Stern.  Die Familie wohnte im nord böhmischen Leipa, 60 km nördlich von Prag.  Seit dem 15. Jahrhundert gab es dort eine jüdische Gemeinde, eine Synagoge – neben vier katholischen Kirchen – und einen jüdischen Friedhof.  Die Bevölkerung war überwiegend deutschsprachig.  Leipa lag an einem Eisenbahnknotenpunkt und hatte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer lebhaften Handels- und Industriestadt entwickelt.  Einen Schwerpunkt bildete dabei die Textilindustrie (Samt, Kattun).

Paul Oesterreichers Frau Antonie, geb. Halle, wurde am 15. September 1878 in Kleinheubach geboren, einem Marktort am Main in Unterfranken, der seit dem frühen 14. Jahrhundert auch von Juden besiedelt war.  Um 1700 lebten dort etwa 10 jüdische Familien als „Schutzjuden“ der Fürsten zu Löwenstein.  Durch die Ansiedlung von Juden konnten adelige Grundbesitzer Schutzgelder kassieren und den lokalen Wohlstand dank der Handelstätigkeit der Juden verbessern.  Im Gegenzug garantierte der Adel freie Ausübung der Religion und eine begrenzte Selbstverwaltung. In Kleinheubach gab es alle für eine jüdische Gemeinde notwendigen Einrichtungen:  eine Synagoge, ein Reinigungsbad (die Mikwe), eine jüdische Schule und einen jüdischen Friedhof.  In Antonies Kindheit waren ca. 10% der Bevölkerung (142 Personen) Juden.  1942 war die Gemeinde ausgelöscht.

Antonies Vater Nathan Halle, geb.1844 in Kleinheubach, handelte als „Tuchhandlungsreisender“ mit gegerbten Tierfellen (Rauchwaren).  Er war mit Emma Simon verheiratet.  Sie hatten sechs Kinder und wohnten in der Judengasse 170, heute Gartenstraße.  Im Mai 1879, ein Jahr, nachdem Antonie geboren war, zog die Familie in das 35 km entfernte Aschaffenburg.  Damit verschwand der Name Halle aus Kleinheubach, denn Nathans Geschwister waren schon vorher innerhalb von Deutschland umgezogen oder in die USA ausgewandert.  Nathan Halle starb im März 1899.  Antonie, 21 Jahre alt, zog im gleichen Jahr nach Frankfurt/Main, später nach Berlin, kehrte 1902 von dort aus nach Aschaffenburg zurück und zog 1903 nach Heidelberg.  Die Gründe für diese Ortswechsel waren nicht zu ermitteln.

Ausbildungs- und Berufsjahre – Familiengründung.

Paul Oesterreicher erhielt seine Berufsausbildung in Aschaffenburg als kaufmännischer Lehrling in der Kleiderfabrik Sternheimer.  1904 ist er im Adressbuch der Stadt als Buchhalter verzeichnet: Paul Oesterreicher, Steingasse 1. – Seit Oktober 1906 ist Paul Oesterreicher in München gemeldet.  Er hatte in der jüdischen Firma „Isidor Bach, Herrenkonfektion“ eine Stelle als Buchhalter angenommen. In München heirateten er und Antonie am 27. Mai 1907.  Wann und wo sie sich wohl kennen gelernt hatten?  Zur gleichen Zeit zog Antonies Mutter von Aschaffenburg aus (zu ihnen?) nach München.

Isidor Bach, genannt der Joppenkönig, gilt als Erfinder der Konfektionskleidung.  Er hatte im Jahr 1880 ein Geschäft in der Sendlinger Straße eröffnet und es danach laufend vergrößert und erweitert. 1914 gehörten zu seiner Firma fast 1.000 Angestellte und Arbeiter.  Nach dem Krieg trat Johann Konen als Mitarbeiter ein und war bald die rechte Hand von Isidor Bach.  Nach Beginn der national-

sozialistischen Herrschaft wurde auch sein Geschäft boykottiert. Isidor Bachs Sohn Carl konnte die Firma im Jahr 1936 durch Verkauf an den vertrauten Mitarbeiter Konen retten.  Die Firma Konen ist noch heute in der Sendlinger Straße ansässig.

Im März 1911 hatte Paul Oesterreicher versucht, eine eigene Firma zu gründen – die „Münchener Tapisseriemanufaktur Paul Oesterreicher“ – und damit gewissermaßen in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.  Er zog die Anmeldung aber schon nach ein paar Tagen wieder zurück.  Die Motive für sein Handeln sind nicht bekannt.

Im Februar1912 wurde Edith, das einzige Kind von Paul und Antonie Oeterreicher, geboren.  Im gleichen Jahr zog die Familie nach Leipzig, weil Paul Oesterreicher dort Prokurist in einer neu eröffneten Filiale der jüdischen Firma „Bamberger & Hertz, Knaben- und Herrenkonfektion“ geworden war.

Die Firma „Bamberger & Hertz“ war 1876 von Jakob Bamberger in Worms gegründet worden.  Seine fünf Söhne übernahmen das Geschäft und erweiterten es durch die Gründung von Filialen: 1909 in Stuttgart, 1911 in Leipzig, danach auch in Saarbrücken, Frankfurt, Köln und zuletzt 1914 in München. Alle Filialen gerieten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 unter starken ökonomischen Druck:  das Geschäft in Saarbrücken musste 1934 schließen; das in Frankfurt wurde 1935 „arisiert“; die Häuser in Stuttgart, Leipzig und Köln wurden 1938 in der Pogromnacht angezündet oder verwüstet.  Nur das Geschäft in München konnte durch Verkauf an den langjährigen Mitarbeiter Hirmer gerettet werden. Es ist noch heute in der Kaufingerstraße ansässig (mit einer Filiale in Stuttgart). Die Brüder wurden mit ihren Familien Opfer des Holocaust; nur einer von ihnen, Siegfried Bamberger, überlebte.

Diskriminierung, Entrechtung, Enteignung.

Paul Oesterreicher war in Leipzig – neben seiner verantwortungsvollen Stellung als Prokurist – ein vorbildlich engagierter Bürger als Vorstandsmitglied bei der Industrie- und Handelskammer und als ehrenamtlicher Arbeitsrichter.  21 Jahre arbeitete er bei „Bamberger & Hertz“; dann begann das NS-Regime seine berufliche Karriere und sein privates Leben zu zerstören.  Im Februar 1933 wurde er an seinem Arbeitsplatz in der Firma „Bamberger & Hertz“ von der SA verhaftet.  Seine Wohnung wurde durchsucht.  Er wurde in der Kaserne Weststraße körperlich misshandelt und kam am Abend seiner Verhaftung mit schweren Verletzungen nach Hause zurück.  Er erlitt eine Herzattacke.

Im Sommer 1934 zog Paul Oesterreicher mit Frau und Tochter nach Stuttgart.  In der dortigen Filiale von „Bamberger & Hertz“ (Poststraße/Ecke Königstraße) erhielt er am Jahresende Gesamtprokura. Seine Tochter Edith arbeitete in dem Geschäft als Verkäuferin.  Sie wohnte bei den Eltern in der Birkenwaldstr.183, bis sie 1936 zusammen mit ihrem Mann emigrierte.  Daraus wurde eine Irrfahrt, die erst Anfang 1942 in Haifa enden sollte.  Nach ihrer Auswanderung bezogen die Eltern in der 1. Etage der Birkenwaldstr. 105 eine gutbürgerlich eingerichtete 5-Zimmer-Wohnung.  Warum sie nicht ebenfalls auswanderten, ließ sich nicht ermitteln.

Die in der Pogromnacht vom 10. November 1938 verwüstete Stuttgarter Filiale von „Bamberger & Hertz“ musste aufgegeben werden (erloschen im Juli 1939).  Paul Oesterreicher war zwei Tage nach dem Pogrom in „Schutzhaft“ genommen und in das Konzentrationslager Dachau bei München gebracht worden.  Anfang Januar 1939 wurde er  wieder entlassen. – “Schutzhaft” war die zynische Bezeichnung der Inhaftierung missliebiger Personen – Juden, Sinti und Roma, politische Gegner der Nationalsozialisten, Bibelforscher und andere -,denen jeglicher Rechtsschutz entzogen wurde. 

Da ab 1939 Juden nur noch in Häusern jüdischer Besitzer wohnen  durften, musste  das
Ehepaar Oesterreicher 1 940 in die Schoderstr.8 umziehen (3-Zimmer-Wohnung im
1. Stock). ln diesem  Haus hatten  bis 1939  drei nicht-jüdische Mietparteien gewohnt.
1 940/41 zogen  der jüdische Eigentümer und noch sechs weitere  jüdische Mietparteien dort  ein.  1942 ging  das Haus in den Besitz der Stadt Stuttgart über.

Zwangsumsiedlung und Tod

Im August  1941  wurden  Paul und Antonie  Oesterreicher, jetzt 62 bzw. 63 Jahre alt) zusammen mit  43 weiteren jüdischen Bürgern  aus Stuttgart nach Buttenhausen zwangsevakuiert.  Als Unterkunft wurde  ihnen  eine der Wohnungen  im Ort zugewiesen, deren jüdische Bewohner noch rechtzeitig hatten  emigrieren können.

Im März 1942  wurde  ihnen  mitgeteilt, sie seien zur “Umsiedlung in den Osten” vorgesehen. Wie einige  ältere Juden aus Buttenhausen entzog  sich Antonie  Oesterreicher der Deportation durch  Selbstmord am 5. April  1942.  Sie wurde  auf dem Jüdischen  Friedhof von Buttenhausen beigesetzt.

Paul Oesterreicher folgte  dem kurzfristig zugestellten Deportationsbefehl und wurde am 22. April  1942  in das “Sammellager”  in der “Ländlichen Gaststätte” auf dem Killes­berg in Stuttgart abtransportiert.  Von dort  aus wurde  er vier Tage später mit  344 wei­teren Opfern  aus Württemberg, Hohenzollern und Baden nach lzbica  deportiert. lzbica, ein von den Nationalsozialisten als “Durchgangsghetto” für reichsdeutsche und polnische Juden im Osten von Polen eingerichtet, lag an der Bahnstrecke  nach Sobibor  und Treblinka.  Die Deportierten wurden  im jüdischen Ghetto  einquartiert.  Die hygienischen Verhältnisse dort  waren katastrophal, die Häuser ohne Toiletten, die Straßen nicht  ge­ pflastert.  Die Menschen  starben  nach dem Schock der Verschleppung an Krankheiten oder verhungerten.  Wer überlebte, wurde  in die Vernichtungslager Sobibor und Belzec verschleppt und dort  ermordet.

Von Paul Oesterreicher fehlt  seit seiner Deportation vom Killesberg aus jegliche Nachricht.  Sein amtliches Todesdatum wurde  auf den 8. Mai 1945, den Tag des Kriegsendes, festgelegt.

Recherche und Text: Ute Ghosh, Initiativkreis “Stolpersteine für Stuttgart-Nord”, www.stolpersteine-stuttgart.de, c/o Jupp Klegraf,  Wartbergstr. 30, 70191  Stuttgart, Tel. 0711I 226 46 94

Quellen:  Staatsarchiv  Ludwigsburg, Stadtarchiv Stuttgart, Gemeindearchiv Kleinheu­bach, Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, Stadtarchiv München.