Menü Schließen

Anna und Dr. Moritz Reiss, Theodor-Heuss-Str. 5

Das Rentner-Ehepaar Dr. Moritz und Anna Reiss, geb. Morgenstern kam im August 1934 nach Stuttgart. Was sie bewog, hier, in der württ. Landeshauptstadt – der Stadt der Auslandsdeutschen, wie die Nazis sie nannten – ihren Ruhesitz zu nehmen, ist nicht bekannt.
Moritz Reiss wurde am 29.09.1867 im hessischen Herbstein, Kreis Lauterbach, geboren; er studierte Zahnmedizin und ließ sich im lothringischen Metz nieder.

Seine Frau Anna Morgenstern ist am 13.09.1871 in Mittelfranken, in Fürth bei Nürnberg, zur Welt gekommen; sie hatte 10 Geschwister. Der Vater, Dr. David Morgenstern (1814 -1882) war Doktor der Jurisprudenz und Unternehmer. Er war als erster Landtagsabgeordneter jüdische Abstammung für den Wahlkreis Fürth – Erlangen – Nürnberg im Bayrischen Landtag.
In Fürth heirateten Moritz und Anna am 9.05.1894.

Ihr Sohn, Friedrich, wurde am 16.05.1895 in Metz geboren. Nach dem Krieg zog die Familie von Metz nach Fürth, wo sie drei Jahre wohnten, um dann 1922 nach Nürnberg in die Fürther Str. 9A umzuziehen. Friedrich wurde ebenfalls Mediziner. Er wanderte nach Palästina aus; dort praktizierte er als Arzt bis Ende der 40er Jahre. Ein chronisches Rückenmarksleiden fesselte Friedrich an Rollstuhl und Bett; er war von da an zu 100% arbeitsunfähig. In einem langen Arbeitsleben ermöglichten die Eltern Reiss dem Sohn ein Studium. Sie bildeten Rücklagen in Form von Lebensversicherungen, Wertpapieren und Bankguthaben für das Alter. Ab 1938 begannen die von den Nazis gesetzlich verfügten Einschränkungen und Sonderabgaben für jüdische Bürger zu greifen.

Das Arzt – Ehepaar wohnte in der Rotestr. 5 im 3.OG, wo sich auch Beziehungen zur Familie Gerson entwickelten, die im 1. OG wohnte. Moritz u. Anna Reiss befassten sich zunehmend mit dem Gedanken nach Palästina, zu ihrem Sohn, auszuwandern. – 1939 stellten sie einen Auswanderungsantrag. Hierfür mussten sie 2271 RM bezahlen. Für die Packgenehmigung des Umzugsgutes waren 2700 RM zu entrichten. Es kam aber ganz anders: das Ehepaar musste nach 5 Jahren in eine Übergangswohnung in den Oberen Hoppenlauweg 28 wechseln. Von dort wurden sie nach Dellmensingen/ Erbach in ein jüd. Zwangsaltersheim gebracht. Sie konnten nur zwei Koffer mitnehmen, der Rest verblieb in der Wohnung bzw. war bereits im Hinblick auf die beabsichtigte Auswanderung bei der Spedition Barr und Woering/Stgt. eingelagert. Diese Verdrängungs-Mechanismen, die alle auf die sog. “Endlösung” hinzielten, wurden bezeichnet als: Evakuierung, Umsiedlung, Abwanderung oder Verschubung; – ein menschenverachtendes Vokabular! 


Es gab alteingesessene jüdische Alterheime. In dieser Zeit wurden aber auch Wohn- und Landheime sowie Schulen genutzt, um betagte Menschen zu sammeln, sie zu registrieren und unter Kontrolle zu haben. Das geschah beispielsweise so in Eschenau, Herrlingen, Dellmensingen, Tigerfeld, Haigerloch und auch in Stuttgart, Gänsheide 9. Für diesen Heimplatz mussten 9500 RM gezahlt werden. Durch die Judenvermögensabgaben, die sog. “Judenbuße” und  andere Ausplünderungsmaßnahmen und Schikanen, kamen Moritz und Anna Reiss in finanzielle Bedrängnis. 1939 bekommt Moritz noch Geld von der Sparkasse und er erhielt eine Rente aus der Bayrischen Ärzteversorgung, bei der er Mitglied von 1923 bis 1932 war. Nun war er gezwungen Besteck, Uhren, Schmuck und andere Wertsachen bei der Pfandleihanstalt weit unter Wert zu hinterlegen.
Der Aufenthalt in Dellmensingen dauerte im Frühjahr 1942 für die betagten Menschen nur vier Monate. Dann wurden die Eheleute ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Moritz Reiss starb auf dem Transport am 23. August. Anna Reiss hat das Ghetto erreicht und starb dort. Sie wurde am 29.September für tot erklärt.

Das Ehepaar Dr. Moritz 75 Jahre alt und Anna Reiss geb. Morgenstern, 71 Jahre alt, starb 1942. Es war nach jüdischer Zeitrechnung das Jahr 5703. – Vorausschauend hat Moritz Reiss noch im November 1940 ein Testament erstellt, in dem sein Sohn Friedrich in Haifa als Alleinerben eingesetzt war. Nach der Todesnachricht 1942 konnte Margarete Krause, geb. Reiss, eine Nichte von Moritz die restlichen Möbel von der Spedition und aus der Wohnung nach Überlingen holen. Alle anderen vorhandenen Werte wurden “auf Grund von Moritz Reiss´ volks- und staatsfeindlichem Verhalten, zu Gunsten des Reiches eingezogen”. So musste sich der inzwischen kranke Sohn Friedrich in Haifa über Bevollmächtigte und Anwälte einem zeitraubenden Abklärungsprozess zur Entschädigung unterziehen, der seinen Abschluss erst im Jahre 1973 fand.

Gebhard Klehr
Quellen: Hauptstaatsarchiv S, Staatsarchiv LB, Einwohnerkartei S, Bayrische Ärzteversorgung,
Archiv Fürth und die bekannten Standardwerke

Spender/Pate für die Kleindenkale: Dr. Andreas Rothe, Stuttgart